Technikwissen und Wissenstechniken im deutschen Militär seit 1890

Technikwissen und Wissenstechniken im deutschen Militär seit 1890

Organisatoren
Christian Kehrt, TU Braunschweig; Markus Pöhlmann / Frank Reichherzer, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr Potsdam
Ort
digital
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.04.2021 - 16.04.2021
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Von
Maximilian Fügen, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr

Das Gesicht des Krieges hat sich vom 19. Jahrhundert bis heute durch technische Entwicklungen nachhaltig verändert. Die Bedeutung von Technik nahm für das Militär spätestens ab Ende des 19. Jahrhunderts stetig zu und führte zu einer verstärkten Auseinandersetzung militärischer Organisationen mit technischen Themen und Aspekten. Während einzelne Schnittstellenbereiche von Militär und Technik – wie Rüstung und Wissenschaft – in der historischen Forschung bereits Beachtung gefunden haben, blieben andere Forschungsfelder bisher weitestgehend unberücksichtigt. Hierzu gehören die Fragen nach Methoden der Generierung, Verarbeitung, Vermittlung und Anwendung von technischem Wissen im Militär ebenso wie der Umgang des Militärs mit der zunehmenden Komplexität, Herausforderungen, Problemen aber auch Möglichkeiten, die mit der Technisierung des Kriegshandwerks einhergingen. Im Rahmen des Workshops sollte diesen Fragen nachgegangen und das Verhältnis von Militär und Technik zueinander unter Berücksichtigung der Kategorie „Wissen“ beleuchtet werden.

Das erste Panel enthielt zwei Einführungsvorträge, die sich ebenso mit der thematischen Verortung in der Geschichtswissenschaft als auch mit der begrifflichen Ausdifferenzierung von „Wissen“ im Kontext von Militär und Technik auseinandersetzen. LUTZ BUDRAß (Bochum) nahm die Technik- und Militärgeschichte im 20. Jahrhundert in den Blick. Die mangelhafte Verzahnung dieser beiden Felder begründete er mit starken Narrativen (sowohl in den Quellen als auch in der Forschung), die er mit den Schlagworten „Dolchstoß der Technik“, „Technik schreckt ab“ und „Technik siegt nicht“ zusammenfasste. Am Beispiel der Einführung des Maschinengewehres MG 34 in den 1930er-Jahren veranschaulichte Budraß zum einen das vorherrschende Bild des technikaversen, konservativen Offiziers, der das Militärische durch die Technisierung bedroht sah, brachte aber mit den späteren Generalen der Wehrmacht Nehring, Rommel und Dietel auch namenhafte Gegenbeispiele, die die Bedeutung von Technik zur Verlustvermeidung und für den Sieg schon früh erkannten. Er verwies auf die Probleme eines weiteren Narrativs, demnach in einer Technisierung des Militärs die positive Möglichkeit läge, Kriege potentiell zu verkürzen oder durch Abschreckung gar zu vermeiden. Ein weiteres historisches Deutungsmuster stellt die Notwendigkeit von Technisierung für einen siegreichen Krieg dar. Die Überzeugung in Deutschland, dass man die Weltkriege nur verloren habe, weil im 20. Jahrhundert nicht mehr das Militärische, sondern die nationale Mobilisierung von Ressourcen und technischem Wissen kriegsentscheidend geworden seien, war weit verbreitet. Die Bandbreite, die die Technisierung des Militärs befürwortete, war folglich eine gesamtgesellschaftliche und reichte von Links bis Rechts.

Im Anschluss nahm FRANK REICHHERZER (Potsdam) die Rolle des Wissens in der Militärgeschichte in den Blick. Er definierte hier zunächst Wissen als Gegenstand, um einerseits mehr über Krieg und Militär erfahren zu können und andererseits Krieg und Militär als Umfeld, um mehr über Wissen zu erfahren. Dabei legte er dar, dass Wissen – im Gegensatz zur Technik – in der Militärgeschichtsschreibung bisher nur in Einzelbeispielen eine Rolle gespielt habe und hier meist konzeptionell unterkomplex repräsentiert werde. In diesem Zusammenhang sei die stärkere Problematisierung des Meisternarrativs vom Krieg als „Vater aller Dinge“ ebenso notwendig wie die komplexe Ausdifferenzierung des „Militärs“, das meist als homogener Akteur simplifiziert und betrachtet wird. Am konkreten Beispiel der alliierten Funkaufklärung im Zweiten Weltkrieg zeigte Reichherzer die Potentiale einer Wissensgeschichte des Militärischen auf. Potentiale erkannte er hier für die Erkenntnisproduktion und Weiterentwicklung der Subdisziplin Militärgeschichte.

Das zweite Panel befasste sich mit der Produktion und Verarbeitung von Wissen durch die Organisation. MICHAEL WALA (Bochum) referierte zu Militärmissionen der Reichswehr in den USA und stellte dabei die Bedeutung internationaler Beziehungen für die Gesamtthematik der Tagung heraus. Bereits ab 1922 entsandte die Reichswehr – anfangs noch inkognito, später im Rahmen offizieller Kommandierungen – Offiziere in die USA, um Informationen über Technologien aber auch Verwendungsrichtlinien zu erlangen. Dies galt sowohl für die Waffensysteme, auf die die Reichswehr gemäß Versailler Vertrag keinen Zugriff hatte (Flugzeuge, Panzer, Giftgas), aber auch für Methoden der raschen Mobilisierung im Kriegsfall bei einem nur kleinen stehenden Heer. Ebenso wurden Informationen zu Produktionsmethoden (Fließband) gesammelt. Dabei waren nicht nur das Technikwissen an sich, sondern auch Erfahrungen mit dem Einsatz dieser Technik und Prozesse von Bedeutung. Die Ergebnisse flossen in die Ausbildung der Reichswehr ein und die praktische Erprobung führte man in den geheimen Ausbildungsstätten in der Sowjetunion durch. Sprachliche und kulturelle Missverständnisse bereiteten aber auch immer wieder Schwierigkeiten bei der Rezeption der gewonnenen Informationen. Dies verdeutlicht, dass Informationen nicht gleich Wissen sind, sondern Wissen aus der richtigen Verarbeitung von Informationen generiert werden kann.

HELMUT MAIER (Wuppertal) befasste sich mit dem Verhältnis von Militär und ziviler Ressortforschung bis 1945, das bisher nur in Ansätzen erforscht ist. Ende des 19. Jahrhunderts wurden im Deutschen Reich als Antwort auf den durch die Hochindustrialisierung ausgelösten Wandel des Wissenschaftssystems zahlreiche neue wissenschaftliche Institutionen gegründet. Hierzu gehörten neben militärischen Versuchsanstalten auch zivile Landes- und Reichsanstalten wie das Materialprüfungsamt. Wenngleich die Ressource Wissenschaft im Rahmen dieser Anstalten in den Dienst des Staates – und dabei auch in den des Militärs – gestellt wurde, wurde hier dennoch auch weiterhin Grundlagenforschung auf höchstem Niveau betrieben, worin der hybride Charakter dieser Anstalten liegt. Für die Forschung dürfte von besonderem Interesse sein, welche Rolle die zivile Ressortforschung bei der Produktion kriegsrelevanten Wissens und dessen Aneignung auf Seiten des Militärs spielte. Maier zeigte hier verschiedene Ebenen auf, auf denen sich das Militär das genannte Wissen verfügbar machte: Auf politischer Ebene (Deckung durch hochrangige Militärs, wodurch die Freiheit der Forschung erhalten blieb), durch die Zurverfügungstellung von Ressourcen, durch institutionelle Verschränkungen, durch personelle Berücksichtigung und durch die Professionalisierung des Dokumentationswesens (Verfügbarmachung von Wissen).

„Wissen über Waffen“ lautete das Thema des dritten Panels, das von LUKAS GRAWE (Bremen) eröffnet wurde. Er fokussierte sich auf die Rolle des Wissens im Rahmen von Entwicklung, Erprobung und Einsatz des 42-cm-Mörsers „Dicke Bertha“. Dabei stellte er heraus, dass die Sammlung technischen Wissens zunächst die Grundlage dafür bildete, dass Generalstab und Artillerieprüfungskommission (APK) die Notwendigkeit eines schweren Mörsers erkannten und diesen bei Krupp in Auftrag gaben. Krupp produzierte daraufhin zunächst eine unbewegliche (Gamma-Gerät) und dann eine mobile (M-Gerät) Variante. Die mangelnde Wissenszirkulation zwischen APK (technisches Wissen) und Generalstab (Wissen um Kriegsplanung) führten dazu, dass in Bezug auf den Mörser die Auswahl der richtigen Variante fragwürdig, die Vorkriegserprobung mangelhaft, die Auswertung der gemachten Kriegserfahrungen unzureichend und der Kriegseinsatz häufig fehlerhaft (ungeeignet für Grabenkrieg) waren. Der 42-cm-Mörser ist damit bei all seiner Popularität weniger ein Beispiel für Technikwissen, sondern viel eher für die Auswirkungen von Techniknichtwissen im Militär.

ADRIAN WETTSTEIN (Zürich) führte einen Schwenk zur Panzerwaffe durch und erläuterte die Sammlung und Verbreitung technischen Wissens über sowjetische Panzer in der Wehrmacht. Vor dem Krieg wurden insbesondere durch die Abwehr, den Militärattaché und die Abteilung „Fremde Heere Ost“ (FHO) Informationen zu den sowjetischen Panzern beschafft. Interesse bestand dabei sowohl an technischem Wissen als auch an Organisationsstruktur und Einsatzverfahren. Quellen waren die Angaben von Verbündeten (Finnland), die Beobachtung in anderen Konflikten (Spanien) und die internationale Fachpresse. Während des Krieges spielten die Erkenntnisse der eigenen Frontverbände, die Befragung von Kriegsgefangenen und die Analyse von erbeuteten Dokumenten und Panzern eine entscheidende Rolle. Sammlung, Analyse und Wissensverbreitung erfolgten hierbei sowohl durch verschiedene Organisationen, wie Abwehr, FHO und Heereswaffenamt als auch durch die Feldverbände direkt. Eine Problematik stellte die Weitergabe des enormen Wissens an die Soldaten in einer nur kurzen Ausbildungszeit dar, dessen Bedarf sich nicht nur auf Panzer- und Panzerjägerverbände, sondern auf nahezu alle Waffengattungen erstreckte. Ein Schwerpunkt wurde hier auf die Erkennung der verschiedenen Panzertypen gelegt, die Voraussetzung für die Ausnutzung der jeweiligen Schwächen war. Die Erwerbung dieses Handlungswissens erfolgte durch verschiedene Medien wie Datenblätter oder 3D-Modelle.

Das Panel „Wissenstechniken“ wurde von OLIVER KANN (Mühlheim) eingeleitet, der sich der Kartographie am Vorabend des Ersten Weltkrieges widmete. Kann zeigte die Vorzüge der Wissenszirkulation in Dingen der Kartographie zwischen Militär und Zivilgesellschaft auf, erläuterte aber auch die Gründe, warum die militärische Kartographie im Ernstfall des Ersten Weltkrieges massiv hinter die eigenen Standards zurückfiel. Die institutionelle Kartographie hatte um die Jahrhundertwende den Status eines Fortschrittmodells und damit neben ihrem militärischen Nutzen auch eine zivil-kulturelle Komponente. Exemplarisch wurde die bis 1900 fertiggestellte deutsche „Reichskarte“ herangezogen, die weit über das Militär hinaus Verbreitung fand. Für die Landesverteidigung hervorragend geeignet, brachte sie jedoch im Rahmen der deutschen Offensivkriegsführung 1914 kaum Nutzen. Der logistisch schwierige Transport von über Jahren gesammelten Karten unterschiedlichster Qualität und Maßstäbe des Feindeslandes sowie die zwischen den Armeen nicht vereinheitlichte trigonometrische Vermessung durch die Artillerie, die durch kriegsbedingte Landschaftsänderungen und Zeitdruck noch erschwert wurde, führten zu einem Rückschritt der Kartographie im Krieg.

FLORIAN ALTENHÖNER (Berlin) klärte über die Versuche der deutschen Abwehr während des Zweiten Weltkrieges an Informationen der alliierten Flugzeugindustrie heranzukommen auf. Zwischen 1919 und 1939 fand eine Spezialisierung der deutschen Abwehr statt, die auch die ausländische Wirtschaft beobachten ließ und 1939 zur Beobachtung der Entwicklungstätigkeit feindlicher Luftwaffen die „Gruppe I Technik/ Luftwaffe“ hervorbrachte. Im Bereich dieser militärischen Industriespionage nahm die hoch technologische und raschen Entwicklungsfortschritten unterworfene Teilstreitkraft Luftwaffe eine Sonderrolle ein, was Größe und Art ihrer Organe zur Informationsbeschaffung und Analyse betraf. Neben den Quellen der Auslandsrüstungsabteilung (Beutegerät, Kriegsgefangene, Fachpresse) sollte die Gruppe IT/Lw durch den Einsatz von Agenten in neutralen Ländern an Informationen mit zeitlichem Vorsprung herankommen. Große Erfolge blieben jedoch aus. Dies lag unter anderem daran, dass die Mitarbeiter der Gruppe zwar hervorragende Ingenieure waren, jedoch kaum nachrichtendienstlich ausgebildet wurden. Inwiefern Wissen über die gegnerische Technik Einfluss auf Entscheidungen über die eigene Entwicklungstätigkeit hatte, kann nur in wenigen Ausnahmefällen nachvollzogen werden.

Zuletzt erläuterte RÜDIGER BERGIEN (Berlin) die Rolle der EDV-Einführung in den deutschen Nachrichtendiensten in den 1960er- bis 1980er-Jahren. Hierbei stellte er Zugänge auf organisations- und wissensgeschichtlicher Ebene dar. Bergien zeigte die Bedeutung des internationalen Kontextes bezüglich der Zusammenarbeit zwischen den innerhalb der Blöcke früh mit der Digitalisierung beginnenden deutschen Diensten Stasi und BND mit ihren großen Schwesterorganisationen (KGB und CIA) auf. Während die CIA ihr Technikwissen durch die Rekrutierung von Experten, durch die Hersteller sowie durch die Einflussnahme von Partnerdiensten generierte, war für den BND Letzteres entscheidend. Die CIA leistete für den BND „digitale Entwicklungshilfe“ und versprach sich davon einen reibungsloseren Zugriff auf dessen Informationen. Dies gelang jedoch nur teilweise, da die Organisationskulturen und -strukturen in manchen Bereichen so stark divergierten, dass die Formen der Informationsverarbeitung zu heterogen blieben. Zudem konnten die deutschen Dienste, die nach mehr Eigenständigkeit strebten, kein Interesse an einem „intelligence sharing“ haben. Bergien sieht in dieser Entwicklungshilfe trotz ihrer Einseitigkeit, insbesondere im Vergleich mit den sowjetischen Pendants, ein Indiz für die einsetzende Wandlung der Abschottungskultur des BND Mitte der 1960er-Jahre.

Der zweite Tagungstag begann mit einem Panel, das sich mit der Rolle der Akteure auseinandersetzte. PHILIPP MÜNCH (Potsdam) stellte Akteursgruppen bei der Einführung von „Operations Research“ (OR) in die Bundeswehr vor. Dabei legte er dar, dass das militärische Denken in Deutschland bis 1945 vor allem geistes- und sozial-, aber kaum naturwissenschaftlich geprägt war, woraus sich die Frage nach den Bedingungen der Einführung naturwissenschaftlich-mathematischen Wissens in die junge Bundeswehr ergibt. OR hatte sich als Produkt der Betriebswirtschaftslehre in den anglo-amerikanischen Streitkräften bereits in den 1930er-Jahren verbreitet. Es stellte die mathematisch-statistische Methode für naturwissenschaftliche Annahmen dar. Als relevante „technoscientific experts“ bei der Einführung von OR in die Bundeswehr identifizierte Münch zivile Vertreter der US-Streitkräfte, Vertreter des NATO-Verwaltungsstabs, Mitarbeiter der Deutschen Industrieanlagen-Betriebsgesellschaft sowie Vertreter von mit Forschung beauftragten Stellen im Bundesministerium der Verteidigung und der Bundeswehr und legte deren Hintergründe und Motivation dar.

Einen biographischen Zugang wählte CHRISTIAN KEHRT (Braunschweig), der sich in seinem Vortrag Theodore von Kármán als wissenschaftlichen Berater der NATO widmete. Von Kármán war erst in Deutschland später in den USA einer der führenden Wissenschaftler der Aerodynamik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er trug maßgeblich zum Ausbau der US-Luftstreitkräfte und deren Waffensysteme für den Kalten Krieg bei. Dabei bildeten die Informationen aus den Begutachtungen deutscher Forschungseinrichtungen der Luftfahrt 1945 die Grundlage für Kármáns Arbeit. Das 1960 gegründete Kármán Committee, das als zunkunftswissenschaftlicher Think Tank mit über 200 Experten unter Kármáns Leitung verstanden werden kann, sollte Empfehlungen für die NATO-Verteidigungsstrategie in der überkomplexen und alle Bereiche umfassenden Kriegsführung des Kalten Krieges erarbeiten. Dabei sollte es durch Forecast-Prozesse die langfristigen Entwicklungstrends für die nächsten 10 bis 15 Jahre bestimmen. Ein zentrales Thema bei Kármáns Arbeit war die im Rahmen der zunehmend automatisierten Kriegsführung immer komplexer werdende Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine zu organisieren. Dabei transferierte Kármán im Rahmen seiner Arbeit nicht nur wissenschaftliche Inhalte, sondern auch Arbeitsweisen in das Militär hinein.

Das Panel wurde von JANINE FUNKE (Potsdam) durch die Auseinandersetzung mit der Rolle von Technologie in der Reformulierung von (soldatischer) Männlichkeit in West-Deutschland in den 1950er- bis 1980er-Jahren beschlossen. In diesem Zeitraum spielte die Digitalisierung sowohl in der Bundeswehr als auch in der NVA eine zentrale Rolle. Wenngleich die Computer zu Beginn in erster Linie als Instrumente der Verwaltung genutzt wurden, war ihre Rolle als Instrumente der Kriegsführung wesentlich präsenter in der öffentlichen Wahrnehmung. Entgegen des Narrativs der männlichen Technikbegeisterung begegneten viele Soldaten dem Computer mit Ressentiments, da er den Diskurs zum Soldatendasein und zur Führungsverantwortung in der Beziehung Mensch-Maschine herausforderte. Nicht mehr bedingungsloser Mut, sondern die Pflichterfüllung am technischen Gerät stand im Vordergrund, was eine Redefinierung der militärischen Männlichkeit notwendig machte. Im Rahmen dieser geschlechterspezifischen Untersuchung von Technik und Militär soll auch die Rolle der Frauen mitgedacht werden, die, zum Beispiel als Programmiererinnen aber auch als Mitarbeiterinnen der militärischen Verwaltung, eine zentrale aber bisher vernachlässigte Akteursgruppe darstellten.

Das letzte Panel befasste sich mit dem Themenkomplex „Medien“. THOMAS FUCHS (Leipzig) führte in das militärische Bibliothekswesen vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus ein. Er zeigte die Rolle der wissenschaftlichen Dokumentation Ende des 19. Jahrhunderts auf, die sich in der Etablierung von Wissenschaftszeitschriften und in der Einrichtung von Spezialbibliotheken zeigte. Letztere hatte im Militär im Sinne der militärischen Informationsökonomie bereits Ende des 18. Jahrhunderts eingesetzt. Doch erst die Niederlage des Ersten Weltkriegs führte zu einer Stärkung der Rolle der so genannten Wehrwissenschaften und, im bibliographisch-dokumentarischen Bereich, zum Aufkommen der „Dokumentationsbewegung“, die 1920 in der Gründung der „Reichszentrale für naturwissenschaftliche Berichterstattung“ mündete. Aber auch Industrie und Vereine professionalisierten sich im Bereich der Dokumentation. Trotz weiterer Initiativen in den 1920er- und 1930er-Jahren blieb die Organisation der technischen Dokumentation bis in den Zweiten Weltkrieg hinein ein strukturelles Problem und selbst in dieser Extremsituation gelang der Aufbau einer zentralisierten Dokumentationsinfrastruktur nicht. Dies lag sowohl an der Konkurrenz verschiedener Institutionen und Initiativen untereinander als auch an der grundsätzlichen Problematik der ausländischen Literaturbeschaffung während des Krieges.

Abschließend thematisierte MARKUS PÖHLMANN (Potsdam) die Rolle von Militärperiodika und Technik in Deutschland von 1890-1990. Die Militärperiodika und ihre Auseinandersetzung mit technischen Themen beziehungsweise die Entstehung konkreter militärischer Technikperiodika waren eine Reaktion auf die zunehmende Technisierung und Verwissenschaftlichung des Militärischen am Ende des 19. Jahrhunderts. Sie spiegeln damit den militärischen Sektor der sich in diesem Zeitraum allgemein entwickelnden Wissensgesellschaft wider. Durch ihre spezifische Form der gesteuerten Öffentlichkeit konnten die Militärperiodika eine militärische Schwarmintelligenz initiieren. Gleichzeitig waren ihr dadurch aber auch Grenzen gesetzt, die unter anderem in ihrer ausschließlichen Nützlichkeit in Friedenszeiten lagen. Die Öffentlichkeit bildete einerseits die Voraussetzung für einen breiten und gewinnbringenden Fachdiskurs, stellte aber in Bezug auf Geheimhaltung und militärische Sicherheit ein Problem dar. Umgekehrt dienten die Militärperiodika anderer Staaten als zentrale Quelle. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts war ein Niedergang der Militärperiodika zu verzeichnen, was durch die Verlagerung des Diskurses in Expertengremien, den Bedeutungsverlust von Printmedien oder den Fähigkeits- und Interessenverlust zum Diskurs innerhalb des Offizierskorps begründet sein könnte.

Die breite Abschlussdiskussion der Tagung wurde durch die drei Organisatoren moderiert und bündelte die Vorträge und Diskussionen. Als zentrale Aspekte und Ansätze für die künftige Forschung wurden hierbei herausgearbeitet: Die Berücksichtigung des inter- und transnationalen Faktors, die Formen der Kommunikation und Aufbereitung von militärischem Wissen (Wissenstechniken), die kritische Hinterfragung bestehender Narrative, die Differenzierung der Aggregatszustände Krieg und Frieden als Zeitraum der Wissensproduktion und -vermittlung, die Relevanz der gewonnen Erkenntnisse für das Verhältnis von High-Tech und Low-Tech in spezifischen kriegerischen Settings, die Erforschung nationaler Technikstile durch die Betrachtung militärischer Komponenten (Militärakademien) innerhalb der Wissenschaftsgeschichte, der Einfluss von Technikerfahrung im Krieg auf die Rüstungsindustrie danach, die Ausweitung der Untersuchung auf alle beteiligten Akteure von den militärischen Techniknutzern bis hin zu den Produzenten (Industrie) sowie die Rolle technowissenschaftlicher Experten, die Untersuchung der Verzahnung der Akteure und deren Grenzen, die Hinterfragung der Existenz eines militärisch-industriell-wissenschaftlichen Komplexes und die Möglichkeit der Verschränkung der diskutierten Teilbereich im Rahmen der historischen Innovationsforschung.

Konferenzübersicht:

Begrüßung (Markus Pöhlmann (Potsdam))

I. Panel: Einführung
Moderation: Nina Leonhard (Potsdam)

Lutz Budraß (Bochum): Technikgeschichte und Militärgeschichte im 20. Jahrhundert

Frank Reichherzer (Potsdam): „Wissen“ in der Militärgeschichte oder: „Wissen“ im Kontext von Krieg und Militär

II. Panel: Produktion und Verarbeitung von Wissen durch die Organisation
Moderation: Frank Reichherzer (Potsdam)

Michael Wala (Bochum): Trotz Versailles. Militärmissionen der Reichswehr in den USA

Helmut Maier (Wuppertal): „Der Konnex mit der Wehrmacht ist vollkommen.“ Zum Verhältnis von Militär und ziviler Ressortforschung bis 1945

III. Panel: Wissen über Waffen
Moderation: Markus Pöhlmann (Potsdam)

Lukas Grawe (Bremen): Technisches Wunderwerk oder strategischer Fehlgriff? Entwicklung, Erprobung und Einsatz des 42-cm-Mörsers „Dicke Bertha“

Adrian Wettstein (Zürich): „Völlig unbekannte Kampfwagen vor uns“: Sammlung und Verbreitung technischen Wissens über sowjetische Panzer im deutschen Heer 1937-1945

IV. Panel: Wissenstechniken
Moderation: Kurt Möser (Karlsruhe)

Oliver Kann (Mühlheim), Kartographie am Vorabend des Weltkrieges. Das Beispiel der „Karte des Deutschen Reiches“

Florian Altenhöner (Berlin): „An die ‚Zeichentische‘ der allliierten Flugzeugindustrie heranzukommen“: Die Gruppe IT/Lw der Abwehr und der Faktor Technik, 1939-1944/ 1945

Rüdiger Bergien (Berlin): Counter Intelligence und Computer. Die EDV-Einführung in westdeutschen Nachrichtendiensten als transatlantischer Wissenstransfer

V. Panel: Akteure
Moderation: Sibylle Marti (Zürich)

Philipp Münch (Potsdam): Zwischen Wissenschaft, Privatwirtschaft und Westalliierten: Relevante Akteursgruppen bei der Einführung von „Operations Research“ in die Bundeswehr

Christian Kehrt (Braunschweig): Militärische Hightechzukünfte. Theodore von Kármán als wissenschaftlicher Berater der NATO

Janine Funke (Potsdam): Mit Technik aus der Identitätskrise. Die Rolle von Technologie in der Reformulierung von (soldatischer) Männlichkeit in West-Deutschland

VI. Panel: Medien
Moderation: Christian Kehrt (Braunschweig)

Thomas Fuchs (Leipzig): Militärtechnik ‚wissen‘. Das militärische Bibliothekswesen vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus

Markus Pöhlmann (Potsdam): Militärperiodika und Technik in Deutschland (1890-1990)

Schlussdiskussion
Moderation: Christian Kehrt (Braunschweig), Markus Pöhlmann und Frank Reichherzer (Potsdam)


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