HT 2021: Wem gehört die Stadt? Gentrifizierung in historischer Perspektive

HT 2021: Wem gehört die Stadt? Gentrifizierung in historischer Perspektive

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Stefan Strietzel, Freie Universität Berlin

Am 26. September 2021 wurde in Berlin per Volksentscheid über die Vergesellschaftung von Wohnungsbeständen großer Wohnungsunternehmen abgestimmt. Entgegen knapper Prognosen feierte die „Initiative Deutsche Wohnen & Co Enteignen“ mit 57,6 Prozent Ja-Stimmen einen unerwarteten Erfolg. Der Begriff „Gentrifizierung“ war weder auf Stimmzetteln, noch im geforderten Senatsbeschluss, noch auf weiterführenden Materialien zu finden.1 Auch in der Online-Berichterstattung kamen Artikel immer wieder ohne direkte Nennung aus. Nicht, weil er nicht relevant wäre: „Gentrifizierung“ ist dort bereits zur eigenen Schlagwort-Kategorie aufgestiegen.2 Der Begriff scheint im Alltagssprachgebrauch bereits so präsent zu sein, dass er teilweise nicht mehr explizit benannt werden muss. Teure Berliner Szene-Cafés, Mietpreiserhöhungen, veränderte Stadtviertel, Protest – die Assoziationen reichen weit. Was davon lässt sich in einen wissenschaftlichen Erklärungszusammenhang bringen? Wie viel nutzt der omnipräsente Begriff „Gentrifizierung“ dabei? Und was kann die Geschichtswissenschaft auf einem Feld leisten, das bereits intensiv von Sozialwissenschaften, Medien und Aktivismus bedient wird?

Dass ein sozialwissenschaftlicher Fachbegriff Eingang in gesellschaftliche Debatten gefunden hat, gibt einen ersten Anlass zur Reflexion. 1964 führte die Stadtsoziologin Ruth Glass ihn für die konkreten Veränderungsprozesse im Londoner Stadtteil Islington ein, in dem „working-class quarters […] have been invaded“.3 Bereits ihre Begriffskonzeption der Gentrification hatte damit einen wertenden Charakter und metaphorischen Gehalt: Nicht die gentry, der seit Langem im Niedergang begriffene britische Landadel, war Träger dieses Prozesses, sondern „the middle-classes – upper and lower.“4 Insofern scheint die Annäherung an den Begriff von SUSANNE FRANK (Dortmund) plausibel. Sie kritisierte das Lamento aus Teilen der Wissenschaft: die inflationäre Verwendung würde den Begriff in analytischer Hinsicht verwässern, der Begriff habe sich durch seine negative Aufladung zur „Gentrifizierungskeule“ entwickelt. Tatsächlich sei der Begriff ungenau und bereits seit seiner Entstehung ein chaotic concept. Doch zeige die gesellschaftliche Aneignung eines sozialwissenschaftlichen Fachbegriffs, dass das Thema der Gesellschaft „unter den Nägeln brenne“. Neben den wissenschaftlichen Begriff müsse daher ein Verständnis als öffentlicher Diskursbegriff treten. Es stelle sich die Frage, wie er in konkreten Kontexten verwendet wird. Dafür bezog sie sich beispielhaft auf Dortmund-Hörde, ein stadtplanerisches Vorzeigeprojekt: Im ehemaligen Arbeiterviertel mit Stahlwerk entstanden neben einem Technologiepark hochwertige Wohn- und Naherholungsgebiete mit einem 24 Hektar großen See. Das Beispiel biete sich besonders an, da hier seit Längerem über Gentrifizierung diskutiert werde, sich die klassischen Merkmale wie steigende Mieten und Veränderung der Sozialstruktur empirisch jedoch nicht nachweisen ließen. Frank führte das auf einen zunächst nur antizipierten Quartierswandel zurück, vor dem, ausgehend von einer Fotoausstellung, in den Lokalzeitungen gewarnt wurde. Dass der Begriff trotz ausbleibender Gentrifizierung im engeren Sinne virulent bleibe, begründete sie mit der räumlichen Nähe, in der ärmere Eingesessene und zugezogene Reiche nun Haus an Haus lebten. Harte Klassengegensätze würden so offensichtlich. Unter dem Begriff Gentrifizierung werde das Unbehagen an der zunehmend hierarchisch strukturierten Gesellschaft ausgedrückt und die Angst, dass Privilegierte ihre Interessen zuungunsten Statusniedriger durchsetzen könnten. Mit diesem Begriffskern ließen sich auch sehr weite Verwendungen, wie die Gentrifizierung des Filterkaffees oder des Gärtnerns, verstehen. Die Politisierung des Diskursbegriffs finde jedoch nicht nur von unten statt. Die Dortmunder Stadtregierung versuche seit Längerem, durch eine sehr enge Begriffsdefinition die Kritik als gegenstandslos zu deklassieren: Gentrifizierung setze Aufwertung der Bausubstanz voraus, hier handele es sich um Neubauten; wo neu gebaut würde, könne niemand verdrängt werden. Susanne Franks Sektionsbeitrag zu Definitionsversuchen von Gentrifizierung zwischen Wissenschaft, Politik und Medien machte damit deutlich, dass hier ein Kampf um Deutungsmacht stattfindet. Das macht das Thema für eine Geschichtswissenschaft, die Orientierung in gesellschaftlichen Transformationsprozessen stiften will, besonders relevant.

Eine klassisch theoriegestützte Analyse legte HANNO HOCHMUTH (Potsdam) zum Berliner Stadtteil Kreuzberg vor, der zum Inbegriff der Gentrifizierung im deutschen Kontext avancierte. Angelehnt an das klassische Phasenmodell von Clay5 konnte Hochmuth demonstrieren, dass es zwar nicht 1:1 auf Kreuzberg übertragbar sei und teilweise widersprüchliche Dynamiken zeitige, in den Grundzügen jedoch funktioniere. So habe die erste Phase in den 1970er-Jahren begonnen. Die Pioniere, finanziell schwach, aber reich an symbolischem Kapital – neben Studierende und Hausbesetzer:innen denke man an Künstler:innen wie Rio Reiser – seien in das marode Arbeiterviertel gezogen und hätten es symbolisch aufgewertet. Voraussetzung für ausbleibende Sanierungen, günstige Mieten und Leerstand war der in den 1960er-Jahren noch geplante „Kahlschlag“. Blockweise sollte Kreuzberg abgerissen und neugebaut werden, wozu es nie kam. Phase 2 folgte in den 1980er-Jahren mit der materiellen Aufwertung, bei der landeseigene Wohnungsbaugesellschaften die Häuser aufkauften und unter dem neuen Motto „behutsame Stadterneuerung“ mit der Sanierung begannen. In den 1980er- und 1990er-Jahren folgte entgegen dem Phasenmodell jedoch kein sozialer Wandel und Verdrängungsprozess. Hochmuth sprach daher von einer „verzögerten Gentrifizierung“. Erst Mitte der 2000er-Jahre folgte Phase 3 mit Mieterhöhungen und starkem Zuzug der eigentlichen Gentrifizierer, die die Pioniere und Alteingesessenen verdrängten. Bei der Erklärung des Übergangs zu dieser Kernphase der Gentrifizierung bediente er sich verschiedener Erklärungsmodelle, die in zeitlicher Folge Zäsuren darstellten. So verweise das Jahr 2000 mit dem Auslaufen der Schutz- und Förderprogramme der „behutsamen Stadterneuerung“ auf eine politisch-stadtplanerische Perspektive; 2003 mit Eröffnung des Easy Jet Hub und Tourismusboom auf eine nachfrageorientierte Interpretation; und die Finanzkrise 2008/2009 mit der Rettung ins Immobilien-„Betongold“ auf eine angebotsorientierte Interpretation.6 Hochmuths Zugang zeigt Verschiedenes: Theorien der Gentrifizierung aus den Sozialwissenschaften bieten auch für geschichtswissenschaftliche Zugänge einen fruchtbaren Boden. Gleichzeitig sind Flexibilität und ein gewisser Eklektizismus notwendig. Die eine Theorie der Gentrifizierung wird es nicht geben, und für unterschiedliche Zeiten können verschiedene Erklärungsansätze sinnvoll sein. Bleibt die Frage, was den genuin geschichtswissenschaftlichen Zugriff auf das Thema ausmacht und wie Hochmuths Credo „Gentrifizierung braucht Geschichte“ eingelöst werden kann. Dazu wäre eine Verbreiterung und Vertiefung des Gegenstandes vonnöten. Verbreitern ließe er sich, indem er in einen Kontext zu weiteren gesellschaftlichen Prozessen gestellt wird. Auf kultur- und mentalitätsgeschichtlicher Ebene riss Hochmuth an, dass der Geschichts- und Denkmalboom seit den 1970er-Jahren der alten Bausubstanz erst wieder zu historisch-kulturellem Wert verhalf, sie schützenswert machte, und mittelbar aus unattraktiven Arbeiter-Mietskasernen schicke Altbauwohnungen werden ließ. Die historische Tiefendimension wäre ein weiteres Feld der Geschichtswissenschaft. Was kam vor Phase 1? Was sind historische Bedingungen und Voraussetzungen für Gentrifizierungsprozesse?

Diese Fragen stellen sich besonders, wenn der Blick von Zentraleuropa abrückt. ELENA MEYER-CLEMENT (Berlin) befasste sich in ihrem Beitrag mit China und machte den Voraussetzungsreichtum von Gentrifizierungsprozessen und ihren Theorien deutlich. So führte eine schrittweise Öffnung des Wohnungsmarktes in den 1990er-Jahren Marktmechanismen von Angebot und Nachfrage ein, doch wirkten aus der Volksrepublik und teilweise deutlich weiter zurückreichende Institutionen fort. Dazu zählen die Unterteilung in Stadt- und Landbevölkerung, die Binnenmigration in Städte nach wie vor deutlich erschwert; bei Stadtregierungen liegende Bodennutzungsrechte, die eine wesentliche Einnahmequelle der Stadthaushalte darstellen; oder als sozialistische „Arbeitseinheiten“ konzipierte Stadtviertel, danweis, die das Stadtbild und soziale Zusammengehörigkeitsgefühl lange Zeit stark prägten. Hinzu komme eine vollkommen andere Art der Quartiersaufwertung. Die Gebäude würden nicht durch Sanierung teurer, sondern staatlich gelenkte Umsiedlung, Abriss und Neubau dominierten. Dies liege einerseits an der Bauweise, die sich schlecht für Sanierungen eigne, andererseits an staatlichen Akteuren, die gegen Hausbesetzungen deutlich repressiver vorgingen als es in Kreuzberg möglich wäre. In planerisch-städtebaulicher Perspektive sah Meyer-Clement folglich eine Erkenntnis darin, dass staatliche Regulierungen Gentrifizierungsprozesse nicht nur bremsen können – wie es der Berliner Mietendeckel sollte – sondern aktiv betreiben. Das Verhältnis von staatlichen und Marktakteur:innen könne so weiter zur Reflexion über sinnvolle Kontrollmechanismen anregen. Meyer-Clements Beitrag zeigt vor allem, dass sich ohne eine wirtschafts-, politik-, ideen- und verwaltungsgeschichtliche Einordnung Gentrifizierungsprozesse nicht verstehen lassen.

Hierfür ist nicht erst ein Blick nach China nötig, wie PAUL NOLTE (Berlin) mit seiner Analyse verschiedener Städte in den USA zeigen konnte. Dort steht nicht die Gentrifizierung im Vordergrund der Diskussionen um problematischen Städtewandel, sondern die Suburbanisierung mit urban decay, ghettoization und suburban sprawl – Entwicklungen, die das genaue Gegenteil der Aufwertung von Innenstädten darstellen. Nolte widmete sich daher allgemeiner dem Verhältnis von städtischem Zentrum und Peripherie, um Gentrifizierung und ihre Voraussetzungen mit Blick auf Strukturen und Akteur:innen im interkulturellen Vergleich herauszuarbeiten. Ein grundlegender Unterschied sei die Bevölkerungsentwicklung: Während sie in Europa stagniere, wachse sie seit Langem in den USA und mache daher massiven, günstigen Neubau notwendig, was zu einem extensiven Städtebau in der „leeren“ Peripherie führe, dem urban sprawl. Die Bausubstanz der Innenstädte sei häufig auch wenig geeignet für hochwertige Sanierungen, wie das Beispiel Detroit mit dem schnellen Verfall und Verschwinden ganzer Stadtviertel zeige. Spezifisch US-amerikanische Konstellationen spielten eine wesentliche Rolle, wie die Great Migration, die Binnenmigration der schwarzen Bevölkerung aus dem ländlichen Süden in die urbanen Räume des Nordens im 20. Jahrhundert, oder der White Flight, die Abwanderung der weißen Bevölkerung aus ethnisch diverseren Innenstadtvierteln. Diese verwiesen auf Erklärungsmodelle, die die Kategorien race und class miteinbeziehen. Nolte konnte damit zeigen, dass nicht nur Gentrifizierung Segregation zur Folge habe, und fasste die nüchterne Erkenntnis zusammen: „Ohne Gentrifizierung auch kein Paradies.“

Die Sektionsbeiträge haben einen kursorischen Einblick in verschiedene Perspektiven und Zugänge zum Thema Gentrifizierung gegeben. Dabei ist deutlich geworden, dass es die eine Gentrifizierung nicht gibt, Theorien und Modelle je nach konkretem Gegenstand auf ihre Tauglichkeit geprüft werden müssen. Hinzu kommt die historische Tiefenanalyse. Um stadt- und eigentumsrechtliche Voraussetzungen zu erklären, wäre ein Blick bis in die Frühe Neuzeit nötig; um die Sehnsucht nach Stuck und unverputzten Wänden zu erklären, wären Barock und Romantik eine Anlaufstelle. Gentrifizierung als Thema geschichtswissenschaftlicher Arbeit muss dabei selbst historisiert und in einen breiteren Kontext gestellt werden, um über Anschlussfähigkeit an weitere gesellschaftliche Transformationsprozesse Orientierung stiften zu können. Dass das Thema höchst aktuell und gesellschaftlich relevant ist, zeigen neben Diskussionen über konkreten Städtewandel die Diskurse über den Begriff selbst. Zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Akteur:innen aus Wissenschaft, Medien, Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft läuft ein Kampf um Deutungsmacht. Die Beiträge haben gezeigt, dass sich an die Frage des Sektionstitels „Wem gehört die Stadt?“ eine weitere anschließt: „Und wem gehört die Gentrifizierung?“

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung und Einführung: Hanno Hochmuth (Potsdam) / Paul Nolte (Berlin)

Hanno Hochmuth: Vorreiter oder Nachzügler? Gentrifizierung in Berlin-Kreuzberg

Susanne Frank (Dortmund): Wem gehört die Gentrifizierung? Eine Ortsbestimmung zwischen Stadtsoziologie, Geschichtswissenschaft und Aktivismus

Paul Nolte: Suburbanisierung statt Gentrifizierung? Siedlungsstrategien von Mittelschichten im transatlantischen Vergleich

Elena Meyer-Clement (Berlin): Gibt es eine chinesische Gentrifizierung? Stadtumbau und Verdrängungsprozesse in der Volksrepublik China

Anmerkungen:
1 Die Landesabstimmungsleiterin Berlin / Petra Michaelis, Amtliche Mitteilung zum Volksentscheid über einen Beschluss zur Erarbeitung eines Gesetzentwurfs durch den Senat zur Vergesellschaftung der Wohnungsbestände großer Wohnungsunternehmen am 26. September 2021. Abrufbar unter https://www.berlin.de/wahlen/abstimmungen/deutsche-wohnen-und-co-enteignen/allgemeine-informationen/artikel.1115174.php (08.11.2021).
2 Leon Gerleit, Wird jetzt enteignet?, in: Telepolis, 26.06.2021, https://www.heise.de/tp/features/Wird-jetzt-enteignet-6120328.html (08.11.2021); Eine Enteignung würde Berlin jede Menge Milliarden kosten, in: B.Z. Online, 26.02.2021, https://www.bz-berlin.de/berlin/eine-enteignung-wuerde-berlin-jede-menge-milliarden-kosten (08.11.2021).
3 Ruth Glass, Introduction, in: Centre for Urban Studies (Hrsg.), Aspects of change, London 1964, S. xviii-xix, hier: S. xviii.
4 Ebd.
5 Philip Clay, Neighborhood Renewal: Middle-class Resettlement and Incumbent Upgrading, Lexington 1979.
6 Einführend zu den Erklärungsansätzen siehe Susanne Frank, Gentrifizierung, in: ARL – Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.), Handwörterbuch der Stadt- und Raumentwicklung, Hannover 2018, S. 779-785, hier: S. 780-782.


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