Stadt – Kultur – Raum: Kulturelle Verdichtungsräume im 20. Jahrhundert

Stadt – Kultur – Raum: Kulturelle Verdichtungsräume im 20. Jahrhundert

Organisatoren
Franziska Stelzer / Beatrice Wichmann, Ludwig-Maximilians-Universität München, Historisches Seminar - Abteilung für Bayerische Geschichte
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.01.2020 - 31.01.2020
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Von
Kathleen Siemermann, Ludwig-Maximilians-Universität München, Historisches Seminar - Abteilung für Bayerische Geschichte

Gemäß der Trias des Workshop-Titels „Stadt – Kultur – Raum“ beleuchtete die Konferenz unterschiedliche Aspekte der Stadtkultur des 20. Jahrhunderts im Kulturraum Stadt. Die internationalen ReferentInnen legten dabei ihr Hauptaugenmerk auf die unterschiedlichen kulturpolitischen Handlungsfelder und -praktiken der städtischen AkteurInnen. Die Veranstaltung war chronologisch in die Sektionen Monarchie, Revolution, Diktatur und Nachkriegszeit aufgeteilt und fokussierte auf die europäische Städtelandschaft im regionalen, nationalen und internationalen Kontext.

Im Eröffnungsvortrag zeichnete THOMAS HÖPEL (Leipzig) chronologisch und systematisch das Verhältnis von Stadt und Kultur nach und zeigte, wie europäische Großstädte mithilfe unterschiedlicher Kulturregime auf wandelnde Herausforderungen des 20. Jahrhunderts reagierten. Er arbeitete anhand einer Analyse der Kulturausgaben in Relation zu den Gesamtausgaben der europäischen Beispielstädte Birmingham, Lyon, Frankfurt am Main, Leipzig und Krakau heraus, dass städtische Kulturpolitik seit der Zwischenkriegszeit als Instrument der Bildungsarbeit und des sozialen Ausgleichs gesehen wurde. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung und Transformationsprozessen nach 1945 erkannte man die Modernität und Attraktivität des städtischen Kulturraums ebenfalls als wirtschaftlichen Standortfaktor. Städtepartnerschaften wurden häufig zum Türöffner interurbaner Beziehungen und internationaler Kulturdialoge, die in einer europäischen Vernetzung der Städte in Institutionen wie Eurocity mündete. Das Spektrum des Handelns in der städtischen Kulturpolitik wurde durch die normativen Werte des eigenen politischen Konzepts geprägt. Wenngleich sich die Nationalsozialisten bemühten, die Kulturpolitik zu verstaatlichen, lehnte ein liberales Kulturregime eine zu starke Zentralisierung ab und forderte eine Kommunalisierung kultureller Institutionen.

Sektion I über kulturpolitische Akteure in der Monarchie begann mit einem Vortrag von ANDREAS ENDERLIN-MAHR (Linz) zum Direktor der kaiserlich-königlichen Kabinettskanzlei Adolf Freiherr von Braun. Mit der Analyse eines Korpus von 5.000 Briefen legte er ein Beziehungsgeflecht einer zentralen Figur der K.u.K.-Monarchie frei, die als Intermediär in der Verwaltung eine zentrale Gatekeeper-Funktion einnahm. Denn die Kabinettskanzlei filterte die Majestätsgesuche an den Kaiser, sodass durch diese Kontrolle der Kommunikation in das politische Handeln des Monarchen eingegriffen werden konnte. Anhand eines Beispiels verdeutlichte der Referent die Verflechtung imperialer und städtischer Kulturpolitik. Die Untersuchung der Kommunikation Adolf Brauns und des österreichischen Kunsthistorikers Rudolf Eitelberger deckte deren zentrale Rolle im Wiener Ringstraßenprojekt auf. Der Zugang über dieses informelle Netzwerk ermöglicht Erkenntnisse über das Wechselspiel zwischen privaten städtischen und imperialen Akteuren und über die Gestaltung der monarchischen Kulturpolitik, die nicht in den klassischen Akten zu finden ist.

Im Anschluss fragte FRANZISKA STELZER (München) nach dem Mittelalterbild im modernen München. Sie teilte die Akteure und Institutionen bis zum Beginn des ersten Weltkrieges in eine städtische Zivilkultur ein und stellte dem eine Münchner Kriegskultur ab 1914 entgegen. Mithilfe dieser Kategorien verfolgte sie Kontinuitäten und Brüche in der Münchner Mittelalter-Rezeption. Zu Vertretern städtischer Zivilkultur zählte die Referentin Institutionen wie die Münchner Universität, die städtischen Theater und Museen, die Schwabinger Bohème oder Autoren wie Ludwig Ganghofer, bei denen künstlerische Rückbezüge auf das Mittelalter beliebt waren. In der breiten Öffentlichkeit erfreuten sich zum Beispiel die Wagneropern oder regionale Geschichten wie die der Agnes Bernauer großer Popularität. Der Übergang von Zivil- zu Kriegskultur gestaltete sich laut Stelzer linear. Besonders bei den Akteuren finden sich viele Kontinuitäten, wie zum Beispiel bei der Münchner Universität. Durch den Krieg kamen neue Akteure wie Kadettenkorps und andere militärische Ausbildungseinrichtungen hinzu. Das Beispiel Ludwig Ganghofers verdeutlichte den Übergang von literarischer Tradition zu Kriegsberichterstattung, da der bayerische Autor auch von der Front berichtete. Die Situation im Kampfgebiet verglich er mit der Belagerung von Festungen aus dem 15. Jahrhundert. Außerdem fragte die Referentin, wie diese Denkmuster vom Bayerischen Kriegspresseamt und Kriegsministerium genutzt wurden. Narrative Konstruktionen der moralischen Verdorbenheit des Gegners wurden bis zurück zu den Merowingern erdacht. Der Rückgriff auf das Mittelalter war Ausdruck eines Zeitgeistes, der seinen Höhepunkt im Ersten Weltkrieg fand und sich beispielsweise in der Dolchstoßlegende fortsetzte.

Sektion II über Kultur und Öffentlichkeit in Revolution und Diktatur eröffnete MARTIN PLATT (Bonn) mit seiner Reflexion über die Projektion Großstadt im Laufe der Revolution 1918/19 in Deutschland. Um den Erfolg der Revolution darzustellen, wählten zeitgenössische Publizisten gern das Bild der Revolution, die sich wie an einer Perlenkette über die Großstädte verbreite. Die Illustration großstädtischer Räume war vom Bild großer Menschenansammlungen, dem Einnehmen und Besetzen von Regierungsgebäuden, Flugblättern und roten Fahnen geprägt. Die Revolution schaffte neue Formen von Sichtbarkeit, während die Abwesenheit von Ordnung und staatlicher Regulation und das Fehlen von Schutzmännern deutlich wurde. Städtische Ballungsgebiete beherbergten die Industriearbeiterschaft und entwickelten sich somit zu Zentren der Revolution. Auf dem Land ähnelte der Herrschaftswechsel eher einer konsensualen Regierungsübertragung als einer Revolution. Die politischen Transformationsprozesse in der Provinz waren aber nicht der Fokus der zeitgenössischen Beschreibungen. Fern von der Stadt betrachtete man die Geschehnisse mit Reserviertheit und wurde höchstens von der Stadt ausgehend revolutioniert. Die Verortung der neu gegründeten Republik im kleinstädtischen und gleichsam unrevolutionären Weimar stellte vor diesem Hintergrund eine klare symbolische Absage an großstädtische Mobilisierungspotentiale dar. Als Zerrbild erwies sich die Hauptstadt Berlin. Einerseits begehrte die Industriearbeiterschaft auf, andererseits fürchteten konservative Bürgerliche die Umbrüche der Revolution. Es zeigte sich, dass Städte nie als homogene Einheit gesehen werden können, sondern dass viele unterschiedliche Akteure im städtischen Raum agieren.

MARINA CHERNYKH (Freiburg) stellte das „Russische Berlin“ in der nationalsozialistischen Diktatur vor. Die Exilgemeinde der russischen Flüchtlinge aus dem ehemaligen russischen Kaiserreich umfasste zeitweise mehr als 300.000 Personen, zur Zeit des Nationalsozialismus verblieben noch mehrere Tausend Russinnen und Russen, die im gesamten Zeitraum gesellschaftlich und politisch aktiv waren. In Berliner Vierteln wie Schöneberg und Charlottenburg prägten sie mit russischen Lebensmittelgeschäften, Buchhandlungen und Lokalen das Stadtbild. Das russisch-orthodoxe religiöse Leben spiegelte sich im Betrieb von Friedhöfen oder der 1938 am Berliner Platz gebauten Kathedrale wider. Doch nicht nur das Stadtbild, sondern auch das gesellschaftliche Leben wurde durch die Organisation von Vereins- und Musikabenden oder Literaturzirkeln bereichert. Politisch war die russische Exilgemeinde vorrangig antibolschewistisch und häufig antisemitisch eingestellt, was die Bildung einer russisch-nationalsozialistischen Sturmtruppe verdeutlichte. Die Ablehnung des Bolschewismus führte zu einer Unterstützung der deutschen Nationalsozialisten, was für jüdisch-russische Migranten zu einer doppelten Ausgrenzung und schließlich zur Deportation führte. Die deutsche Bevölkerung trennte nicht immer klar zwischen Migranten und der bolschewistischen Sowjetunion. Mit Voranschreiten des Krieges wurde die gesamte russische Exilgemeinde aus dem öffentlichen Raum zurückgedrängt, zunehmend überwacht und isoliert.

Sektion III behandelte die Interaktion zwischen städtischen und staatlichen Akteuren in internationalen Kontexten. BEATRICE WICHMANN (München) beleuchtete das Wechselspiel kommunaler Kulturpolitik der Stadt München und staatlicher Kulturinstitutionen. In der Bundesrepublik trugen die Kommunen im Schnitt mehr als fünfzig Prozent der Kulturausgaben und leisteten so einen wesentlichen Beitrag zur öffentlichen Kultur. Die Landeshauptstadt München bildete einen Sonderfall, da sich viele etablierte Kulturinstitutionen in staatlicher Hand befanden. Dies erklärt sich aus der historischen Zentralortfunktion der Stadt, die bis 1918 Residenz- und Hauptstadt des Königreiches Bayerns war. Eine weitere Partikularität der Landeshauptstadt bildete der Gegensatz zwischen langjährig geführter SPD-Stadtregierung und CSU-geführtem Freistaat, was Aushandlungsprozesse erschwerte. Der zentrale Akteur, das städtische Kulturreferat, erfuhr ab 1956 eine Verstetigung und Professionalisierung. Ab den 70er-Jahren spiegelte sich der kulturelle Wandel in einer sich verändernden Kulturpolitik wider, für die das Schlagwort „Kultur für alle“ von Hilmar Hoffmann symbolisch wurde. Die Analyse der räumlichen Aufteilung zeigte eine aufgrund der kommunalen Dezentralisierung zunehmend stärkere Durchdringung der Stadtteile mit Stadtbibliotheken und einzelnen Kulturprogrammen. Die Referentin betonte jedoch, dass der interne Machtkampf zwischen Stadt und Staat zugunsten der Außenwirkung zurückgestellt wurde und so die Stadt ins Umland und bis hin zum internationalen Publikum als eine attraktive Kultureinheit repräsentiert wurde.

NINA SZIDAT (Duisburg-Essen) erweiterte das Panel um den Aspekt der Städtepartnerschaften. Diese kommunale Praxis entwickelte auf Dauer angelegte interurbane Verbindungen. Besonders in der Nachkriegszeit sollten diese Städtepartnerschaften als Geste der Aussöhnung ehemalige Feinde zu Freunden werden lassen oder Solidarität mit Verbündeten ausdrücken. Die Frage, wie Städte eine passende Partnerstadt fanden, wie sie in die Welt, resp. Europa, ausgriffen, beantwortete die Referentin mit zwei Mechanismen. Entweder verband die Städte ein ähnliches Schicksal, wie Coventry und Dresden, die unter schweren Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg gelitten hatten. Oder aber eine Ähnlichkeit im demographischen, wirtschaftlichen, akademischen oder religiösen Bereich bot die Chance für eine interurbane Verbindung, wie bei Birmingham, Lyon und Mailand als jeweils zweitgrößter Stadt ihres Landes. Dieser Aspekt spiegelt sich auch im englischen Ausdruck „twinning city“ für die Partnerstadt wider. Das Prinzip der Städtepartnerschaft beruht auf Reziprozität. Institutionalisierte Jugendaustausche wurden organisiert, es verankerten sich Handelsroutinen und es ergaben sich gegenseitige Besuche durch Delegationen. Gleichzeitig entstand jedoch auch eine Konkurrenz unter den Städten, die vor allem in internen städtischen Entwicklungsprozessen argumentativ gleichsam als Katalysator genutzt werden konnte. Im städtischen Raum zeigte sich die Verbindung in die Welt vor allem physisch verankert durch Plaketten oder durch nach Partnerstädten benannten Straßen oder entsprechende Restaurants.

MICHAEL FLOHR (Erfurt) fügte der Konferenz eine interdisziplinäre Komponente hinzu und lieferte einen Ausblick in die Anfänge des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Die Politikfeldanalyse der Kulturpolitik Thüringens zeigte die räumliche Konzentration des Policy-Netzwerkes und der strukturellen Rahmenbedingungen. Der Referent wies auf einen veränderungshemmenden Kreislauf der thüringischen Kulturförderung hin. Denn die Abhängigkeit von Kulturförderung bedingte eine gewisse Professionalisierung, die wiederum eine Positionierung im Policy-Netzwerk des Bundeslandes erforderte, da nur dieses den Zugang zu Ressourcen ermöglichte. Auf diese Weise konstituierte sich ein informelles und robustes Netzwerk mit einer räumlichen Konzentration auf den mittelthüringischen Raum. Erfurt fungierte dabei als politisches Zentrum, wobei gleichzeitig das nahe gelegene Weimar als kulturpolitisches Herzstück der Region bezeichnet werden konnte. Die Analyse, die aus einer Dokumentenanalyse, einer quantitativen Netzwerkerhebung und Experteninterviews besteht, beleuchtete außerdem die kulturpolitischen Akteure, bei denen wenig Austausch zu beobachten war. Der Referent bemängelte die fehlende Transparenz bei der Besetzung der kulturpolitisch relevanten Gremien und konstatierte die Reproduktion des künstlerischen Mainstreams, was sich in einer systemimmanenten Sinn- und Strukturkrise zeige.

Daran anschließend kommentierte UTE SCHNEIDER (Essen) die thematisch und methodisch vielfältigen Beiträge, wobei sie zunächst die unterschiedlichen methodischen Zugriffe der ReferentInnen in drei Punkten zusammenfasste. Als erstes stünden die Akteure und ihre Einbindung in Netzwerke im Zentrum der Beobachtungen; ergänzend könnten die Praktiken der Handelnden, wie das Bauen eines persönlichen Netzwerkes oder die Korrespondenz, weitergehend ausgewertet werden. Zweitens appellierte Schneider bezüglich des Kulturbegriffes, den Blick auf Alternativkulturen zu weiten, die durch die allgemeine Aktenüberlieferung in den Hintergrund gerieten. Als drittes merkte sie an, dass der Raum als analytische Kategorie zumeist nachgeordnet wurde. Hier schlug die Kommentatorin vor, das aus der Linguistik stammende Konzept der „linguistic landscapes“ zu nutzen und auf diese Art den städtischen Raum zu erschließen. Denn die Untersuchung der Sichtbarkeit und Wahrnehmbarkeit unterschiedlicher Sprachen im öffentlichen Raum könne die Wirklichkeit multilingualer Gesellschaften verdeutlichen.

Öffentlicher Abendvortrag

Thomas Höpel, (Leipzig): Stadt und Kultur im 20. Jahrhundert

Ferdinand Kramer (München): Begrüßung

Franziska Stelzer und Beatrice Wichmann (beide München): Einführung

Sektion I: Städte und kulturpolitische Akteure in der Monarchie

Andreas Enderlin-Mahr (Linz): Städtische und imperiale Politik in der k.u.k. Kabinettskanzlei: Kultur, Konflikte und Akteure

Franziska Stelzer (München): Das Mittelalter im modernen München. Akteure, Institutionen und Medien der Zivil- und Kriegskultur

Sektion II: Kultur und Öffentlichkeit in Revolution und Diktatur

Martin Platt (Bonn): Projektion Großstadt: Revolution und kulturelle Gewaltmobilisierung in Deutschland 1918/19

Marina Chernykh (Freiburg): „Russisches Berlin“ in der nationalsozialistischen Diktatur. Identitäten – Konflikt – Öffentlichkeit

Sektion III: Stadt, Land, internationale Kontexte nach 1945

Beatrice Wichmann (München): Gemeinsamer Auftrag – geteilte Aufgaben? Kommunale Kulturpolitik in München im Kontext staatlicher Kulturinstitutionen

Nina Szidat (Duisburg-Essen): Städte in der Welt und die Welt in der Stadt. Die Verhandlung internationaler Bezüge in und über Städtepartnerschaften

Michael Flohr (Erfurt): Räumliche Konzentration des Policy-Netzwerks in der Kulturpolitik Thüringens

Ute Schneider (Duisburg-Essen): Kommentar

Abschlussdiskussion


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