Der Hannoversche Bahnhof. Ein Ort der Verfolgung und Deportationen von 1940 bis 1945

Der Hannoversche Bahnhof. Ein Ort der Verfolgung und Deportationen von 1940 bis 1945

Organisatoren
Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.11.2019 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Akim Jah, Arolsen Archives. International Center on Nazi Persecution

Am historischen Ort des ehemaligen Hannoverschen Bahnhofs in der heutigen HafenCity in Hamburg soll bis 2022 unweit des im Jahr 2017 errichteten Gedenkorts ein Dokumentationszentrum entstehen, das die Geschichte der mehr als 8.000 von dort deportierten Jüdinnen und Juden, Sintize und Sinti, Romnja und Roma aus Hamburg und Norddeutschland aufbereitet. Dabei soll auch das Schicksal von Antifaschisten thematisiert werden, die in das sogenannte Bewährungsbataillon 999 der Wehrmacht gezwungen worden waren und zum Teil ebenfalls über den Hannoverschen Bahnhof transportiert wurden.

Mit der Vorbereitung und Umsetzung des Dokumentationszentrums ist die KZ-Gedenkstätte Neuengamme (seit 2020 Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen) beauftragt. In der eintägigen Tagung mit Workshopcharakter wurden die historischen Kontexte sowie das Konzept der geplanten Einrichtung einer interessierten (Fach-)Öffentlichkeit vor- und zur Diskussion gestellt.

In der Einführung skizzierte OLIVER VON WROCHEM (Hamburg) das Konzept des Dokumentationszentrums, das sich als Informations- und Lernort versteht. Neben der kontextualisierenden Dauerausstellung, die im Moment von einem Historiker/innenteam entwickelt wird und die auch alle bekannten Namen der vom Bahnhof Verschleppten dokumentieren soll, soll es Medienstationen für die Recherche von Biographien geben. Für die pädagogischen Angebote für Gruppen sind darüber hinaus Seminarräume vorgesehen. In Ergänzung und mit Bezug zur Ausstellung ist die Kennzeichnung weiterer historischer Orte im Hamburger Stadtraum geplant, die mit den Deportationen in Zusammenhang stehen. Inhaltlich soll in der Ausstellung in vielfältiger Weise die Geschichte und Nachgeschichte der Verfolgung und Deportationen mit Gegenwarts- und Zukunftsperspektiven verknüpft werden.

Das erste Panel widmete sich der Geschichte der Deportationen. HANS HESSE (Köln) nahm dabei die Deportation von Sinti und Roma im Jahr 1940 von Hamburg in das besetzte Polen in den Blick und führte Beispiele von Familien an, die von dort zurück in das Reichsgebiet geflüchtet und 1943 nochmals deportiert und in Auschwitz ermordet worden waren. Er wies darauf hin, dass diese Menschen durch ihre erste Verschleppung über Erfahrungen und Wissen über die todesbringenden Verhältnisse vor Ort „im Osten“ verfügten und sie daher keine Illusionen bezüglich des Charakters der „Umsiedlungen“ 1943, die in den sicheren Tod führten, hegen konnten. KRISTINA VAGT (Hamburg) ging auf die Deportation von Juden und Jüdinnen aus Hamburg ein und machte dabei auch die Zuzüge aus dem Umland in den Jahren vor dem Beginn der Deportationen 1941 zum Thema. Diese erfolgten vor allem aufgrund der allgemeinen von antisemitischer Ausgrenzung und Anfeindung geprägten gesellschaftspolitischen Situation, in der die Anonymität der Großstadt und die Anbindung an die Infrastruktur der Jüdischen Gemeinde einen gewissen Schutz boten sowie im Zuge von Vorbereitungen auf eine geplante Emigration. Hinzu kamen noch die unmittelbar erzwungenen Zuzüge, insbesondere in Folge der Ausweisung der jüdischen Bevölkerung aus Ostfriesland im Jahr 1940. Auch diese Personengruppen wurden ab Herbst 1941 deportiert und ermordet. Der Vortrag von Vagt zeigte, dass, wenn von den Deportationen aus Hamburg gesprochen wird, auch diejenigen in den Blick genommen werden müssen, die sich nur kurz bzw. vorrübergehend in Hamburg aufgehalten hatten und für die Hamburg nur eine letzte Zwischenstation war. Ebenso wie Hesses Beitrag machte er zudem deutlich, dass die Verfolgungsgeschichten oft nicht “geradlinig“ und Verfolgte in der Zeit vor der Deportation oftmals „ständig in Bewegung“ waren.

In einem zweiten Panel referierte STEFAN WILBRICHT (Hamburg) in einem eher allgemein angelegten Vortrag über die Aufarbeitung der Verbrechen vor Gericht, also der Verfolgung der Täter nach der Befreiung. Anhand einer an Helge Grabitz angelehnten Systematisierung in drei zeitliche Phasen gab er dabei einen Überblick über die Verfolgung der Täter nach 1945 und den sich veränderten, gleichwohl im Allgemeinen jedoch unzureichenden Umgang der Justiz mit den NS-Verbrechen, was sich insbesondere in den wenigen Verurteilungen spiegelte. Als eine weitere, vierte Phase definierte er die Zeit nach 2011, als mit dem Demjanjuk-Prozess eine Kehrtwende vollzogen wurde und eine direkte bzw. konkrete Tatbeteiligung nun nicht mehr zwingend nachgewiesen werden musste. Für Strafverfolgung der mit den Deportationen befassten ehemaligen Täter der Hamburger Gestapo hatte dies jedoch keine Auswirkungen mehr.

In einer sich anschließenden Podiumsdiskussion zur (Nach-)Geschichte des „Bewährungsbataillons 999“ diskutierten DETLEF GARBE (Hamburg), JAKOB MICHELSEN (Hamburg), RENÉ SENENKO (Hamburg) und Kristina Vagt Aspekte der Forschung über und Möglichkeiten des Gedenkens an diese Verfolgtengruppe. Die Soldaten, die zur Bewährungstruppe herangezogen wurden, so Garbe, waren Männer, die zumeist in der Vorkriegszeit verurteilt worden waren und Haftstrafen verbüßt hatten. Darunter befanden sich viele Antifaschisten, zumeist Kommunisten und Sozialdemokraten, die aufgrund politischer Betätigung gegen das NS-Regime inhaftiert worden waren. Am 13.Oktober 1942 verließ der erste Transport des Bataillons Hamburg, weitere folgten. Mindestens drei Transporte gingen dabei vom Hannoverschen Bahnhof ab. Ein Großteil der Angehörigen des Bataillons kam im Krieg um, einigen gelang es zu desertieren. Ein Problem bei der Erforschung und Darstellung der Geschichte des Bataillons und der aus Hamburg eingezogenen Antifaschisten ist, so wurde in der Diskussion deutlich, die unzureichende Quellenlage. Bislang liegen dem Ausstellungsteam nur wenige Erinnerungsberichte vor. Bei den noch zu recherchierenden amtlichen Überlieferungen, wie etwa Strafakten, sei davon auszugehen, dass es sich nur um fragmentarische Quellen handelt, die nur bedingt geeignet seien, die ganze Geschichte der Angehörigen des Bataillons 999 aus Hamburg darzustellen. Die Entscheidung, diese Geschichte in die Ausstellung und in die pädagogische Arbeit des Dokumentationszentrums überhaupt miteinzubeziehen, so Vagt, wurde vor dem Hintergrund getroffen, dass diese zur Geschichte des Bahnhofs im Nationalsozialismus dazugehören würden. Das Thema soll in die Ausstellung insbesondere auch deswegen aufgenommen werden, weil es sich um Menschen handelte, die sich gegen das NS-Regime aufgelehnt haben. Dabei, so Vagt weiter, wird bei der Konzeption jedoch Wert darauf gelegt, die Unterschiedlichkeit der Gruppen und die jeweiligen spezifischen historischen Kontexte differenziert darzustellen und dabei insbesondere den Unterschied zwischen der Deportation zur Vernichtung und der zwangsweisen Heranziehung zum Kriegseinsatz deutlich zu machen.

In drei parallelen Workshops wurden im Folgenden verschiedene Aspekte und Problemstellungen der künftigen Ausstellung, jeweils nach einem Impulsreferat vom Team der Kurator/innen, vertieft und diskutiert. Im ersten Workshop ging es um die bereits zu Beginn der Tagung thematisierten und für die Darstellung der Deportationen aus Hamburg durchaus relevanten Bezüge bei der Verfolgung zwischen der Hansestadt und dem weiteren Umland. Im zweiten Workshop stand die Frage zur Diskussion, wie das Verhalten der Mehrheitsgesellschaft zwischen Profiteur/innen der Deportationen und Menschen, die Hilfe geleistet haben, zum Thema gemacht werden kann. Und im dritten Workshop zu Gegenwartsbezügen erörterten die Teilnehmenden, wie aktuelle Fragestellungen und Problemstellungen in der Ausstellung eingeflochten werden können. Wenngleich dabei zahlreiche Bezugspunkte wie etwa der heutige Antisemitismus als evident genannt wurden, wurde auch eine gewisse Skepsis formuliert, wie Gegenwartsbezüge hergestellt werden können, ohne damit gleichzusetzen und historische Besonderheiten zu verwässern. Wichtig sei es, so der Tenor des Workshops, in der Darstellung aber auch in Bildungsformaten beharrlich zu differenzieren und zu kontextualisieren.

Gegenstand der abschließenden Podiumsdiskussion mit MIRIAM RÜRUP (Hamburg), MORITZ TERFLOTH (Hamburg),
SEBASTIAN LOTTO-KUSCHE (Flensburg) und INGO WILLE (Hamburg) war, in einer Art Rückblick, die regionalgeschichtliche Aufarbeitung von Verfolgung und Deportation 1940–1945 in Hamburg. Bei der unter reger Beteiligung des Publikums geführten Diskussion wurde deutlich, welches Engagement von Verfolgtengruppen notwendig war, um den Bau eines Gedenkortes und die Planung des Dokumentationszentrums durchzusetzen und einen Ort zu schaffen, an dem alle der genannten Gruppen Erwähnung finden. Dass auch viele aus den Verfolgtengruppen anwesend waren, zeigt, welche Bedeutung das geplante Dokumentationszentrum für diejenigen hat, die sich jahrelang mit den dort zu thematisierenden historischen Ereignissen auseinandergesetzt und sich für die Erinnerung an diese Geschichte engagiert haben.

Die Veranstaltung hat nicht nur gezeigt, wie komplex die Geschichte des Hannoverschen Bahnhofs im Nationalsozialismus ist, sondern auch wie ambitioniert die KZ-Gedenkstätte Neuengamme versucht, die verschiedenen mit dem Ort verbundenen historischen Aspekte differenziert und in ihrer jeweiligen Spezifik zum Thema zu machen. Bemerkens- und begrüßenswert ist dabei nicht nur die Einbeziehung der Deportation der Sinti und Roma, sondern auch die Thematisierung des Bataillons 999, da beide Gruppen im öffentlichen Gedächtnis kaum bzw. im Fall der „999er“ so gut wie gar nicht präsent sind. Neben der genannten schwierigen Quellenlage in Bezug auf die zuletzt genannte Gruppe hat sich das Projekt, so wurde während der Tagung deutlich, „trotz der quellengesättigten Vorträge“ (Apel) auch mit den zahlreichen Forschungsdesideraten im Zusammenhang mit den Deportationen im Allgemeinen und in Hamburg im Besonderen auseinanderzusetzen. Hierzu gehören nicht nur die Organisation der Transporte und die Logistik der Reichsbahn, sondern auch Aussagen und das Verhalten von Anwohnern und Anwohnerinnen, die etwa am Sammellager in der Moorweidenstraße gewohnt haben. Obwohl davon auszugehen ist, dass zeitgenössische Fotos der Deportationen bzw. der Verschleppung der Opfer zum Sammellager oder Bahnhof existieren, liegen keine entsprechenden Aufnahmen aus Hamburg vor.

Das geplante Dokumentationszentrums steht am (vorläufigen) Ende einer Entwicklung, die in den 1980er-Jahren begonnen hat, als in verschiedenen Städten an den historischen Orten der Sammellager und Deportationsbahnhöfe Denkmäler bzw. Mahnmale errichtet wurden, etwa in Berlin, Stuttgart, Wiesbaden und Frankfurt/M. Ein Dokumentationszentrum, das sich schwerpunktmäßig auf die Deportationen bezieht und zugleich die räumlichen Möglichkeiten eines Lernens vor Ort miteinschließt, sucht jedoch seinesgleichen. Vor dem Hintergrund der (regional-)geschichtlichen Bedeutung der Deportationen wäre die Schaffung vergleichbarer Einrichtungen in anderen Städten mit Sicherheit angemessen. Zur weiteren Vertiefung führte das Ausstellungsteam am 13. und 14. Februar 2020 eine internationale Tagung durch, die dem Austausch darüber diente, wie Verfolgung und Deportation zeitgemäß dokumentiert, ausgestellt und in Bildungsangeboten vermittelt werden können. Es setzte damit den notwendigen, aber durchaus nicht selbstverständlichen externen Austausch in Bezug auf die Entwicklung des Dokumentationszentrums fort, der bei der hier besprochenen Tagung bereits sehr instruktiv und kollegial gepflegt wurde.

Bei der Tagung hat sich bereits angedeutet, dass auch die historische Forschung zu den Deportationen durch die Arbeit des Ausstellungsteams profitieren werden wird – sowohl im Hinblick auf allgemeine Fragestellungen wie die der Verfolgungswege unmittelbar vor der Deportation, als auch hinsichtlich regionalgeschichtlicher Details. Auf die Eröffnung der Ausstellung, die für 2022 geplant ist, darf die (Fach-)Öffentlichkeit daher gespannt sein.

Konferenzübersicht:

Begrüßung

Lisa Kosok (Hamburg)

Einführung

Oliver von Wrochem (Hamburg): Das Projekt „Dokumentationszentrum denk.mal Hannoverscher Bahnhof“ – Aktueller Planungsstand

Daniel Bernhardt (Hamburg)

Vorträge I – Verfolgung und (Vor-)Geschichte der Deportationen aus Norddeutschland
Moderation: Linde Apel (Hamburg)

Hans Hesse (Köln): Doppeldeportiert – Familienschicksale der Deportierten vom Mai 1940 aus Bremerhaven und der Weser-Ems-Region

Kristina Vagt (Hamburg): Verschleppt über den Hannoverschen Bahnhof: Die Deportation von Jüdinnen und Juden aus Norddeutschland

Vorträge II – Nachgeschichte und Formen der Aufarbeitung von Verfolgung und Deportation
Moderation: Oliver von Wrochem (Hamburg)

Stefan Wilbricht (Hamburg): Aufarbeitung vor Gericht – Strafverfahren gegen Täter und Täterinnen

Podiumsdiskussion I: Zur (Nach-)Geschichte des Bewährungsbataillons 999 – Forschung und Gedenken
Moderation: Detlef Garbe (Hamburg)

Jakob Michelsen (Hamburg) / René Senenko (Hamburg) / Kristina Vagt (Hamburg)

Workshops mit Kurator/innen des Projekts „Dokumentationszentrum denk.mal Hannoverscher Bahnhof“

Kristina Vagt (Hamburg): Jüdinnen und Juden, Sintize und Sinti, Romnja und Roma in Hamburg und Norddeutschland. Bezüge zwischen Metropole und Region im Zeichen von Verfolgung und Deportation.

Karin Heddinga (Hamburg): Der blinde Fleck: Wie kommt die Mehrheitsgesellschaft (Täterinnen und Täter, Profiteurinnen und Profiteure, stille Helferinnen und Helfer) in den Blick?

Sarah Grandke (Hamburg) / Oliver von Wrochem (Hamburg): Nachwirkungen von Verfolgung und Gegenwartsfragen in einer Ausstellung zu historischer Verfolgung und Deportationen aufwerfen und darstellen.

Podiumsdiskussion II: Verfolgung und Deportation 1940–1945 in Norddeutschland und ihre Aufarbeitung aus regionalgeschichtlicher Perspektive
Moderation: Miriam Rürup (Hamburg)

Arnold Weiß (Hamburg) / Sebastian Lotto-Kusche (Flensburg) / Ingo Wille (Hamburg)

Akim Jah (Berlin / Bad Arolsen) Tagungskommentar


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