(Un)Documented. Was bleibt vom Dokument in der Edition?

(Un)Documented. Was bleibt vom Dokument in der Edition?

Organisatoren
DFG-Graduiertenkolleg 2196 "Dokument – Text – Edition", Bergische Universität Wuppertal
Ort
Wuppertal
Land
Deutschland
Vom - Bis
18.10.2018 - 19.10.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Tristan Spillmann, Geistes- und Kulturwissenschaften Graduiertenkolleg 2196 "Dokument - Text - Edition", Bergische Universität Wuppertal

Jeder Editionsprozess zeichnet sich stets durch eine an zuvor festgelegten Prinzipien und Kriterien orientierte Selektion aus. Zwangsläufig handelt es sich bei dem edierten Text um eine Interpretation der Editorinnen und Editoren, die eine bestimmte Auswahl des Textes beinhaltet. Entsprechend wurde das Dokument, der eigentliche Schriftträger, lange Zeit nur in rudimentärer Art behandelt und fiel für gewöhnlich der Auslese zum Opfer. Seit dem sogenannten „material turn“ der letzten Jahrzehnte rückt jedoch der Textträger selbst verstärkt in den Vordergrund der Geistes- und Kulturwissenschaften. Besonders die visuellen und interaktiven Möglichkeiten von digitalen Editionen liefern neue Wege und Darstellungsformen, das Dokument nicht bloß als reinen Überlieferungsträger zur Kenntnis zu nehmen, sondern seinen Entstehungs- und Überlieferungskontext sowie seine kulturhistorischen Implikationen zu erforschen und in den Editionsprozess mit einzubeziehen. Doch wie können Edierende mit dieser Herausforderung umgehen? Welche Optionen eröffnen sich durch das digitale Medium, was bedeutet die Materialität für die Editions- und Dokumentwissenschaften konkret? Mit diesen Leitfragen beschäftigte sich diese Tagung.

Nach der Begrüßung des Sprechers des Kollegs, JOCHEN JOHRENDT (Wuppertal), eröffnete JOHNNY KONDRUP (Aarhus) die Tagung mit einer Keynote über das Verhältnis zwischen „Realtext“, dem tatsächlich geschriebenem Wort, und „Materialtext“, der den jeweiligen Träger umfasst. Kondrup plädierte weiterhin, basierend auf der Definition von Torben Jelsbak, für den „Texturbegriff“, um beide Textbegriffe und ihre Bedeutungsebenen zusammenzuführen und Dokumente editionswissenschaftlich präziser und begrifflich differenzierter erfassen zu können.

Die erste Tagungssektion widmete sich der Überführung von Dokumenten in digitale Formate und wurde von LEIF SCHEUERMANN (Graz) eingeleitet. Er sprach über die editorischen Prinzipien der Epigraphik und die Schwierigkeiten, die aus der Einbeziehung der Materialität resultierte. Ebenso ging er auf die Möglichkeiten ein, die sich durch digitale Aufarbeitungen von epigraphischen Dokumenten ergeben und stellte hierzu einige Beispiele vor, die von mitunter rein positivistisch ausgerichteten Datenbanken bis hin zu dreidimensionalen Darstellungen der Textträger reichten. Er folgerte, dass bislang ein einheitliches Vokabular zur Beschreibung von epigraphischen Textträgern fehle, was eine systematische Erfassung und Erforschung der Materialität verhindere. Im Anschluss sprach SIEN DE GROOT (Gent) über byzantinische Buchepigramme in Handschriften zum griechischen Theologen Pseudo-Dionysisus Areopagita aus dem hohen und späten Mittelalter. Diese Epigramme stehen im unmittelbaren Zusammenhang mit den jeweiligen Texten der Handschriften, tauchen jedoch ebenfalls in unterschiedlichen Variationen auf und bedürfen daher einer gesonderten Behandlung. Des Weiteren präsentierte de Groot das Projekt „Database of Byzantine Book Epigrams“1 vor. MICHAŁ WARZOCHA (Krakau) hingegen fragte nach den Präferenzen von Editionsnutzern und stellte die Benutzerstatistiken von mehreren digitalen Editionen vor, vornehmlich von griechischen und lateinischen Texten: Während vor allem die Suchfunktion, die jeweiligen Bilder der Schriftträger und die Apparate überdurchschnittlich auf das Interesse der Nutzer stießen, werden die diplomatischen Abschriften sowie Hyperlinks zu weiterführenden Quellen, Zitaten oder Erklärungen deutlich weniger aufgerufen. Darüber hinaus reflektierte Warzocha die Nutzerfreundlichkeit sowie die jeweiligen Funktionen von aktuellen Digitaleditionen.

In der zweiten Sektion zum Thema Editionskritik stellte CHIARA CECALUPO (Rom) das archäologische Werk Roma Sotterranea des italienischen Gelehrten Antonio Bosios (1593–1629) vor, in dem erstmals die römischen Katakomben einer wissenschaftlichen Untersuchung unterzogen worden sind. Am Beispiel der Handschrift aus der Biblioteca Vallicelliana in Rom (Ms. G 5) sprach sie über die Herausforderungen einer editorischen Durchdringung. Im Anschluss referierte DAVID HERBISON (Wuppertal) über Markierungen alttestamentarischer Zitate in griechischen Handschriften des Neuen Testaments, die durch gesonderte Kennzeichen, mit anderen Farben oder durch Einrückung des Textes hervorgehoben sind. Herbison präsentierte hierzu bisherige Darstellungsformen von Bibeleditionen und reflektierte ihre Vor- und Nachteile. Ferner stellte er Überlegungen zur Funktion der Kennzeichnungen und dem Textverständnis der jeweiligen Schreiber an und machte deutlich, welche Relevanz eine genaue Aufarbeitung dieser Markierungen für die Erforschung der Textträger hat.

In der dritten Sektion gingen die Vortragenden der Frage nach, mit welchen Methoden und Strategien mit nicht eindeutig zu identifizierenden Autoren und einer komplexen Überlieferungslage umgegangen werden kann. GÖRGE K. HASSELHOFF (Dortmund) sprach über offene Überlieferungstraditionen am Beispiel von zwei Werken des katalanischen Dominikaners Ramon Marti aus dem 13. Jahrhundert, namentlich an dem Capistrum judaeorum und dem Pugio fidei. Beide Texte zirkulierten bereits zu Lebzeiten des Mendikanten in unterschiedlichen Fassungen und weisen entsprechend unterschiedliche und komplexe Überlieferungstraditionen auf, die den Edierenden vor mehrere Probleme hinsichtlich der Rekonstruktion sowie der Darstellungsmöglichkeit stellen.

STEPHAN LAUPER (Freiburg im Breisgau) blieb mit seinem Vortrag thematisch im Mittelalter und widmete sich zwei zur Mystik zählenden Büchern aus dem 14. Jahrhundert. Die sogenannten Vier Jahre des Kaufmannes Rulman Merswin (1307–1382) sind in verschiedenen Fassungen überliefert und weichen inhaltlich durch unterschiedliche Sprachstile voneinander ab. Diese Diskrepanz lässt sich, so Lauper, unmittelbar mit den Überlieferungsträgern sowie ihren Funktionen und ihrem Gebrauch in Zusammenhang bringen. Auch bei den Offenbarungen der Dominikanerin Elsbeth von Oye (1280–1350) interessierten den Vortragenden vor allem die praxisorientierten Merkmale des Textträgers: Am Beispiel der Handschrift Ms. Rh. 159 (Zentralbibliothek Zürich) dokumentierte er die verschiedenen Textmarkierungen, Kolorierungen und Visualisierungen innerhalb des Schriftstücks und interpretierte diese als begleitende Hilfen, die den Leser an der göttlich-mystischen Erfahrung teilhaben lassen sollen.

MANUELA PUTZ (Bremen) beendete den ersten Tagungstag mit einem Blick auf Schriften, die gemeinhin als Samizdat bezeichnet werden: Es handelt sich um politisch subversive Texte aus Osteuropa aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich kritisch mit der Sowjetunion auseinandersetzen und nicht nur in den jeweiligen zur UdSSR gehörenden Staaten im Umlauf waren, sondern auch ihren Weg in westliche Länder fanden und dort ebenfalls publiziert worden sind. Bereits die Vielzahl an unterschiedlichen Textträgern mitsamt ihrer Auflagen und Variationen sowie ihrer Provenienz erschweren den Editionsprozess immens. Daher listete Putz eine Reihe von Anforderungen an ein umfassendes Samizdat-Portal auf und ging ebenso auf Quellen zur Entstehungsgeschichte der Schriftstücke ein, die meist in Form von aufgenommenen Interviews vorliegen und so weitere Einblicke in die Textgenese liefern.

Der zweite Tagungstag widmete sich zunächst philologischen Spezialproblemen und wurde von CAMILLA ROSSINI (Mailand) mit einem Vortrag über von Kopisten verursachte Schreibfehler eingeleitet. Sie argumentierte, in Anlehnung an ihren Vortragstitel „Back to Life“, dass es kritischen Apparaten an „Leben“ fehle, da sie in der Regel keinen Hinweis auf die Entstehung der jeweiligen Fehler oder auf die Abweichungen lieferten. So wies sie auf den Umstand hin, dass textliche Irrtümer sowohl den Entstehungskontext als auch die Rezeption des Schriftstücks näher beleuchten können. Sie plädierte dafür, dass Fehler nicht nur für die Emendation analysiert und klassifiziert werden, sondern insgesamt mehr Aufmerksamkeit innerhalb editorischer Untersuchung erhalten sollten. Auf diese Weise ließen sich Vorlagen identifizieren oder die Abschreibtechnik des jeweiligen Kopisten herausarbeiten, was zu neuen Erkenntnissen in Bezug auf den Textträger und seine Entstehung führen kann.

CARMELA CIOFFI (Halle an der Saale) trug über lemmatische Markierungen in spätantiken beziehungsweise frühmittelalterlichen Handschriften vor. Unter anderem betrachtete sie eine Handschrift der Institutiones des spätantiken Gelehrten Cassiodor (ca. 485–ca. 585) und besprach die dort vorzufindenden lemmatischen Kennzeichnungen, die gleichsam als Lesarten gedeutet werden können und dem Leser mögliche Anleitungen zur Textdurchdringung anbieten sollten. Sie schloß ihren Vortrag mit der Frage, ob diese Art von Markierungen überhaupt in die Edition übertragen werden sollte, was in der anschließenden Diskussion näher erörtert und eindeutig bejaht wurde.

VERA MÜTHERIG (Münster) verließ die schriftliche Ebene und betrat in ihrem Vortrag die akustische, um über Editionen von auditiven Medien zu sprechen. Hierbei handelt es sich um ein äußerst junges Forschungsfeld, weshalb Mütherig bereits zu Beginn ihrer Präsentation rhetorisch nach Konzepten und dem möglichen Aufbau von Audioeditionen fragte: Ist eine Transkription nötig? Wie wird mit der Vorlage umgegangen? Und wie lassen sich kollektive Produktionsbedingungen, beispielsweise eines Hörbuchs, eines Hörspiels oder einer Oper fassen? Welche Rollen spielten der mediale Träger – wie CD oder Schallplatte – für die Edition? Am Beispiel Ein Sommer, der bleibt von Peter Kurzeck reflektierte Mütherig die Anforderungen an eine Audioedition, die neben den produktions- und formatbedingten Ebenen auch Geräusche als Spuren und Kontexthinweise miteinbeziehen müsse. Als Archetyp von Audioeditionen könne Der Mann ohne Eigenschaften – Remix gelten, der als „bi-mediale Publikation“ sowohl zwanzig CDs als auch ein Begleitbuch beinhaltet und die Entstehungsgeschichte der Produktion umfassend behandelt.

In der nachfolgenden Sektion besprach KATHARINA KRÜGER (Bordesholm) am Beispiel von Wolfang Koeppens Roman Jugend die Herausforderungen eines „wirren Nachlasses“, der über 1450 Seiten Notizen umfasst. In einer textgenetischen Edition, die eine Vielzahl an Optionen zur Durchdringung der Entstehungsgeschichte anbieten soll, möchte sie einen Lesetext einschließlich seiner Varianten widergeben, die jeweiligen Textträger der Notizen erfassen sowie die Textgenese darstellen. So lassen sich mitunter Fremdzitate aus Zeitungsausschnitten oder Büchern, die Koeppen als Vorlage verwendet hat, identifizieren. Entsprechend könne der intellektuelle Schaffensprozess umfassend aufgearbeitet werden.

MIKE ROTTMANN (Leipzig) referierte über die Schwierigkeiten, die bei Editionen von Exzerpten auftreten. Dies exemplifizierte er an Textauszügen von Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781), Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Nietzsche (1844–1900). Systematisch näherte sich der Vortragende der Bedeutung der Begriffe „Exzerpt“ und „exzerpieren“ an und verwies auf den schmalen Grad, der zwischen einem Exzerpt und einer eigenen Darlegung herrsche. Entsprechend plädierte Rottmann für eine Schärfung der Begriffe „Exzerpt“ als „Produkt“ und „exzerpieren“ als „Praxis“. An den oben genannten Beispielen zeigte er die potentiellen Probleme auf, vor denen Edierende bei Exzerpten hinsichtlich der Identifikation intertextueller Bezüge und ihrer Quellen stehen: So mag die Vorlage des Exzerpts nicht identifizierbar, noch nicht erschlossen oder auch vom Autor falsch zugeordnet worden sein. Gleichwohl spiegeln Exzerpte den Arbeitsprozess der jeweiligen Denker wider und gewähren Einblicke in die Denkweise und den intellektuellen Schaffensprozess, weshalb es epistemologischer Reflexionen bedürfe, um die Exzerptpraktiken besser erschließen zu können.

In der letzten Sektion wurden aktuelle Projekte vorgestellt. MATTHIAS GRÜNE (Leipzig) sprach über die Studienhefte des Schriftstellers Otto Ludwigs (1813–1865). Die Schriften wurden in sechs Bänden von Adolf Stern (1835–1907) herausgegeben und zeichnen sich vor allem durch viele Eingriffe in die Texte aus. Anhand der Studienhefte Ludwigs möchte Grüne die Textgenese sichtbar machen und sowohl deren Materialität als auch deren Nutzung verstärkt in den Fokus nehmen. So intendiert er unter anderem, die materielle Ökonomie zu betrachten und anhand der Notizen den „Textprozess“ darzustellen. CLAUDIA KROKE (Göttingen) beendete die Tagung mit ihrem Vortrag über das „Johann Friedrich Blumenbach Online“-Projekt und konnte exemplarisch am Nachlass des Anthropologen Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840) aufzeigen, welche Vorteile und Potentiale in einer umfassenden digitalen Aufarbeitung sowohl von Schriften als auch der verfügbaren Objektsammlungen liegen. Das Langzeitvorhaben beinhaltet eine umfangreiche Liste an Hyperlinks zu Archiven und Datenbanken und soll die wissenschaftliche Erschließung Blumenbachs und seines Umkreises erheblich erleichtern.

Was bleibt nun am Ende in der Edition vom Dokument übrig? Wenngleich aufgrund der Vielzahl an unterschiedlichen Überlieferungsträgern und -situationen keine allgemeingültige Antwort formuliert werden konnte, präsentierte die Tagung dennoch unterschiedliche Strategien und Prinzipien, die dem Edierenden dabei helfen können, den Textträger, das Dokument, stärker in den Editionsprozess miteinzubeziehen. Um innerhalb der Editions- und Dokumentwissenschaften jedoch eine vergleichbare und systematische Einordnung der Materialität zu ermöglichen, fehlt es eindeutig an theoretischen Auseinandersetzungen, die sowohl ein einheitliches Vokabular als auch für die jeweiligen Dokumenttypen sichere Methoden zur Beschreibung, Erfassung und Einordnung bieten. Ferner verdeutlichte die Tagung nochmals, dass eine Vielzahl an Potentialen auf der Ebene des Dokuments verborgen liegen, die in zukünftigen Projekten unbedingt zu Tage gefördert werden müssen.

Konferenzübersicht:

Jochen Johrendt (Wuppertal): Begrüßung und Einführung

Eröffnungs-Keynote
Johnny Kondrup (Aarhus): An der Grenze des Textes? – Materialtext und Textur

Sektion I: Überführung von Dokumenten in digitale Präsentationen

Leif Scheuermann (Graz): Saxa loquuntur – Römische Inschriften und die digitale Welt

Sien de Groot (Gent): Byzantine Book-Epigrams on Pseudo-Dionysius the Areopagite – From Document to Edition

Michał Warzocha (Krakau): Presentation of Sources in Digital Editions

Sektion II: Editionskritik im Allgemeinen und im Besonderen

Chiara Cecalupo (Rom): Archeological Discoveries from Manuscripts to Edition: Antonio Bosio’s Roma Sotteranea

David Herbison (Wuppertal): Textual Editing and Documentary Continuity: Marking Old Testament Quotations in Manuscripts and Editions of the Greek New Testament

Sektion III: Problematische Autorschaft und Überlieferungslage

Görige K. Hasselhoff (Dortmund): Wie bildet man eine offene Überlieferungstradition ab?

Stephan Lauper (Freiburg im Breisgau): Dokumente des Unsagbaren. Mystische Bücher und ihre Editionen

Manuela Putz (Bremen): Samizdat: Quelle, Edition und Way of Life osteuropäischer Dissidenten

Sektion IV: Philologische Spezialprobleme

Camilla Rossini (Mailand): Back to Life. What Can We Do with Copists‘ Errors?

Carmela Cioffi (Halle an der Saale): Nicht verbale „Lesarten”: Die lemmatischen Markierungen

Vera Mütherig (Münster): Dokumente hören. Editions- und literaturwissenschaftliche Herausforderungen akustischer Texte

Sektion V: Herausforderung Entwirrung

Katharina Krüger (Bordesholm): Wolfgang Koeppens „Jugend“ im wirren Nachlaß

Mike Rottmann (Leipzig): Was bleibt Exzerpt in der Edition? „(Un-)Edierte Exzerpte bei Lessing, Marx und Nietsche

Sektion VI: Projektpräsentation in Theorie und Praxis

Matthias Grüne (Leipzig): Dokumente des Zweifels: Zur Edition von Otto Ludwigs Studienheften

Claudia Kroke (Göttingen): Johann Friedrich Blumenbach – online

Anmerkungen:
1 Vgl. hierzu http://www.dbbe.ugent.be/ (23.03.2019).


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