Mordende Fiktionen. Narrativik, Ästhetik und Psychologie politischer Gewalt (am Beispiel linksrevolutionärer Gewalt in der Romania)

Mordende Fiktionen. Narrativik, Ästhetik und Psychologie politischer Gewalt (am Beispiel linksrevolutionärer Gewalt in der Romania)

Organisatoren
Martin Baxmeyer, Romanisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster; Patrick Eser, Institut für Romanistik, Universität Kassel / Instituto de Investigaciones en Humanidades y Ciencias Sociales, Universidad Nacional de La Plata
Ort
Kassel
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.06.2018 - 26.06.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Patrick Eser, Institut für Romanistik, Universität Kassel / Instituto de Investigaciones en Humanidades y Ciencias Sociales, Universidad Nacional de La Plata

Der Workshop wurde als Auftaktveranstaltung der internationalen Tagung Jornada Internacional de Estudios Latinoamericanos durchgeführt. Organisiert von den Romanisten PATRICK ESER (Kassel / La Plata) und MARTIN BAXMEYER (Münster), brachte der Workshop am Lateinamerika-Zentrum (Centro de Estudios Latinoamericanos; CELA) der Universität Kassel WissenschaftlerInnen der Germanistik, Romanistik, Geschichtswissenschaft und Linguistik zusammen, um die Frage nach ästhetischen Darstellungen und kulturellen Dynamiken linksmotivierter politischer Gewalt zu diskutieren. Der Workshop war transkulturell und interdisziplinär ausgerichtet, die diskutierten Fallbeispiele stammten dabei aus dem 19. und 20. Jahrhundert.

Die Organisatoren skizzierten in ihrem Eröffnungsvortrag das mit dem Workshop verbundene Forschungsinteresse. Mit dem Binom der ‚mordenden Fiktionen‘ schlugen sie vor, das Verhältnis zwischen den literarischen Fiktionen, den von ihnen entworfenen Sinnsphären, der Herausbildung und Stabilisierung von Rollenmustern terroristischer Subjekte sowie deren alltäglicher Erfahrung, Wahrnehmung und Handeln in den Blick zu nehmen. Anhand der literarischen Figur des Rakhmetov aus Nikolai Chernyshevskys Was tun? (1863) wurde die soziale und imaginative Energie nachgezeichnet, die von literarischen Texten ausgehen kann. Als paradigmatisches Beispiel diente der Anarchist Alexander Berkman, für dessen Selbstkonstituierung als terroristisches Subjekt die Lektüre jenes Romans von großer Bedeutung war. Als weitere Beispiele führten die Organisatoren den argentinischen Roman Operación Masacre sowie die zentrale Guerillero-Figur des Ernesto Che Guevara, dessen Biographie in seiner Facette als ‚exzessiver Leser‘ ausgeleuchtet wurde, an und verdeutlichten dadurch zusätzliche Dimensionen des thematischen Horizonts. Ausgehend von einer analytischen Definition des Terrorismusbegriffs sowie transdisziplinärer Kategorien (zum Beispiel ‚das Imaginäre‘, ‚Subjektkonstitution‘ und ‚Affektmodellierung durch Fiktion‘) regten sie dazu an, den Gegenstandsbereich der ‚mordenden Fiktionen‘ interdisziplinär auszuloten.

Der Germanist MANFRED SCHNEIDER (Bochum) vertiefte in seinem Vortrag anhand der Fallgeschichte des Anarchisten Luigi Lucheni Reflexionen auf den Tat-Begriff, die sich für den Problemzusammenhang ‚Mordende Fiktionen‘ als sehr relevant herausstellten. Schneider rahmte seine Überlegungen zur anarchistischen Theorie der Tat und zum Täterprofil Luchenis ausgehend von einer historischen Semantik der Tat, die unter anderem die Tatkonzeptionen von Hegel, Kant und Schiller aufgriff. Am Beispiel des Sisi-Attentäters erläuterte Schneider das Imaginäre und die psychodynamische Konstitution des politisch motivierten Täters sowie dessen bemerkenswerten Bezug zum geschriebenen Text (als Rezipient sowie als Produzent).

Geschichtsdidaktikerin CHRISTINE PFLÜGER (Kassel) rekonstruierte in ihrem Vortrag Erzählgemeinschaften des Widerstands am Beispiel der französischen Résistance. Sie legte den Schwerpunkt auf die Imagination des Widerstands, wie sie in den Erzählungen über deutsche Kommunisten, die sich dem französischen antifaschistischen Kampf angeschlossen hatten, entworfen wurde. Ihr Vortrag erörterte die Fragestellung, inwiefern verschiedene Erzähltypen und intertextuelle Bezüge mit historischer Sinnbildung in Beziehung stehen. Es zeigte sich, dass letztere durch die Signifikationsprozesse verschiedener Erzählgemeinschaften fragmentiert ist, was zugleich mit der Konstruktion verschiedener personaler wie politischer Identitäten einhergeht.

Der Romanist und Kulturwissenschaftlicher ULRICH WINTER (Marburg) widmete sich in seinem Vortrag der politischen Anthropologie der antifranquistischen Guerilla. Winter setzte sich mit der Repräsentationsgeschichte des republikanischen Widerstands im Spanischen Bürgerkrieg auseinander und diskutierte jüngste kulturelle Narrative aus Spanien in ihrer Ausleuchtung jenes ‚asymmetrischen Kriegs‘. Er machte dabei deutlich, dass die Erinnerungsgeschichte selbst Asymmetrien offenbart und das Resultat der Dynamik jener ungleich gelagerten Erzählungen ist. Die fiktionalen Erzählungen der Guerilla haben seit dem ausgehenden Spanischen Bürgerkrieg verschiedene Formen angenommen, sind unterschiedlichen kulturellen Mustern gefolgt und nahmen nicht selten auch mythenhafte Gestalt an. Das präsentierte Material aus der spanischen Film- und Literaturgeschichte untermauerte die These, dass in den asymmetrischen Erzählungen über die Guerilla Mythos und historische Realität ineinander übergehen und dass Fiktion und Realität der politischen Widerstandshandlungen nur schwer zu trennen sind.

JÖRG REQUATE (Kassel), Professor für westeuropäische Geschichte, untersuchte in seinem Vortrag Gewaltfantasien und -narrative des französischen Anarchismus. Anhand des Chansons „La Ravachole“ und weiterer Beispiele zeichnete er eine Mediengeschichte der Erinnerung, Darstellung und Verherrlichung anarchistischer Gewalt nach. Aus der Perspektive der Medien- und Kommunikationsgeschichte betonte Requate, dass terroristische Attentate immer auch Akte der Kommunikation sind und erst vermittels der medialen Kommunikation ihre Präsenz und Bedeutung erfahren. Die Taten seien nicht selbsterklärend und bedürften einer medialen und diskursiven Einbindung, um wahrgenommen, bewertet, legitimiert oder auch verurteilt zu werden. An weiteren historischen Materialien (unter anderem Liedern und Illustrationen) wurde die mediale Eigendynamik von Akten politischer Gewalt verdeutlicht.

JOBST PAUL (Duisburg) vom Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS) legte seinem Vortrag das methodologische Instrumentarium der kritischen Diskursanalyse zugrunde. Ausgehend von einem sprachkritisch wie diskursanalytischen Untersuchungsfokus auf den Zusammenhang von Sprache und Gewalt warf Paul anhand rechtskonservativer Diskurse die Frage auf, ob und wie ein Narrativ oder eine Metaerzählung psychische beziehungsweise physische Gewalt ausüben könne. Er stellte ein Modell vor, das sprachliche Selbstinszenierung und die damit einhergehende Subjektkonstitution in dem Dreieck von ‚Ich-Porträt‘ – ‚Wir-Gruppe‘ – ‚Sie-Minderheit‘ situierte. Die Selbstfiktionalisierung politischer Akteure vollziehe sich in einem semiotischen Geflecht von Erzählmotiven, Feindbildern und (zuweilen superlativischen) Selbstinszenierungen, wie abschließend am Beispiel des US-Präsidenten Donald Trump illustriert wurde.

JAN-HENRIK WITTHAUS (Kassel), Professor für hispanistische Literatur- und Kulturwissenschaftler, diskutierte in seinem Vortrag die vor allem in Lateinamerika erfolgreiche literarische Gattung des Diktatorenromans. Unter Rückgriff auf die Romane El recurso del método von Alejandro Carpentier sowie El otoño del patriarca von Gabriel García Márquez entwarf Witthaus ein Panorama der literarischen Modellierungen der Diktatorenfigur und arbeitete heraus, wie jene Erzählungen immer auch die Unsicherheit der jeweiligen Diktatoren und Diktaturen thematisieren. Die Verletzbarkeit des Staates werde in jenen Romanen sichtbar gemacht, nicht zuletzt, wenn sie von Angriffen und politischer Gewalt gegen die Herrscherfigur handeln. Der Diktatorenroman treffe den Diktator an seiner empfindlichsten Stelle, indem er nämlich zeige, dass er weniger Despot denn Mensch ist. Die Logik terroristischer Gewalt werde zugleich ebenso fassbar: Sie möchte, wie anhand des literarischen Materials veranschaulicht wurde, zunächst das Denken besetzen, um später das System zu destabilisieren und die Macht an sich zu reißen.

Die romanistische Literaturwissenschaftlerin JULIA AUWEILER (Marburg) untersuchte in ihrem Vortrag die Autobiographie von Arturo Barea, La llama (1946), und interpretierte sie als Erzählung vom Dilemma eines Pazifisten. Das Thema der fiktionalisierten Lebenserzählung Bareas ist das Ringen des Protagonisten mit seinem Gewissen und seinen politischen Überzeugungen, wie Auweiler betonte: prinzipiell lehne er jegliche Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele ab, allerdings müsse er im Kontext der Bürgerkriegssituation widerwillig feststellen, dass die Gewaltanwendung und sogar das Töten des politischen Feindes unumgänglich ist, soll der Krieg gewonnen und das eigene Überleben gesichert werden. Das gewaltfreie Engagement werde somit zum Paradox. Das schlechte Gewissen, das Kranken an der für eine pazifistische Haltung paradoxen Situation sowie die Neigung des Protagonisten, sich selbst gegenüber den Feindfiguren als offener, gesprächsbereiter und empathischer Mensch zu positionieren, seien die Grundpfeiler jener Anti-Kriegs-Erzählung, die überzeugend als Gegenmodell zu den ‚mordenden Fiktionen‘ und ihren möglicherweise gewaltrechtfertigenden Diskursen interpretiert wurde.
Im Rahmen der Abschlussdiskussion wurden verschiedene theoretische Paradigmen und die aus diversen kulturellen wie historischen Kontexten stammenden literarischen wie historischen Stoffe übergreifend sowie auf den Fragehorizont der ‚mordenden Fiktionen‘ bezogen erörtert. Die verschiedenen Typen politischer Gewalt wurden vergleichend gegenübergestellt und die Relevanz der verschiedenen Fallbeispiele unterschiedlich gewichtet. Im Laufe der kontrastiven Diskussion konnten Potenziale und Grenzen der vorgeschlagenen Konzeptualisierung der ‚mordenden Fiktionen‘ diskutiert werden. Die in den Beiträgen präsentierten literarischen Genres (Bürgerkriegsroman, Autobiographie/Autofiktion, Diktatorenroman, historischer Roman) boten dabei interessante Anknüpfungspunkte für die kulturwissenschaftliche Ausleuchtung der Wechselbeziehung von politischer Gewalt und künstlerisch-ästhetischem Diskurs. Mit offenem Ergebnis wurden weitere Forschungsperspektiven diskutiert, vor allem, was die interdisziplinäre sowie die methodische Begründung betrifft. Die Kompatibilität medien-, literatur- und kulturwissenschaftlicher Ansätze mit anthropologischen und psychologischen beziehungsweise psychoanalytischen Forschungsperspektiven müsste, so eines der Desiderata, noch genauer ergründet werden, um das Imaginäre der Gewalt und ihrer Akteure systematisch auf die Prozesse der Subjektkonstitution und die vielschichtige soziale Produktivität literarischer Imaginationen anwenden zu können. Eine instruktive Auswahl der historischen und literarischen Stoffe wäre mit Blick auf künftige kontrastive Studien ebenso vertiefend zu erörtern. Die TeilnehmerInnen des Workshops kamen darin überein, die Diskussionen und offenen Fragen im Rahmen eines künftigen Diskussionszusammenhangs wieder aufzugreifen.

Konferenzübersicht:

Martin Baxmeyer (Münster)/ Patrick Eser (Kassel): Mordende Fiktionen. Einführende Überlegungen zur Narrativik, Ästhetik und Psychologie linksrevolutionärer Gewalt (Europa und Lateinamerika)

Manfred Schneider (Bochum): Das Imaginäre der Tat. Der Fall des Sisi-Attentäters Luigi Lucheni

Christine Pflüger (Kassel): Erzählgemeinschaften des Widerstands – Intertextualität und Identitätskonstruktion

Ulrich Winter (Marburg): Politische Anthropologie der antifrankistischen guerrilla

Rörg Requate (Kassel): Danser la Ravachole – Die Faszination anarchistischer Anschläge im ausgehenden 19. Jahrhundert

Jobst Paul (DISS; Duisburg): Superlativische Selbstfiktionalisierungen im Kontext binärer rhetorischer Strategien – eine sprachkritisch-diskursanalytische Sicht

Jan-Henrik Witthaus (Kassel): Bomben im Roman. Der Topos des Attentats und seine Folgen im lateinamerikanischen Diktatoren-Roman

Julia Auweiler (Marburg): „Teníamos que matar para ganar el derecho de vivir“ – Arturo Bareas Autobiographie La llama (1946) als Dilemma eines Pazifisten