Interessen oder Ideale? Deutsche Außen- und Europapolitik seit Adenauer

Interessen oder Ideale? Deutsche Außen- und Europapolitik seit Adenauer

Organisatoren
Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus, Bad Honnef; Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik (BAPP), Bonn
Ort
Bonn
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.06.2018 -
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Von
Franz-Josef Meiers, Historisches Institut, Universität Rostock

Im Gedenken an den am 14. Juni 2017 verstorbenen Politikwissenschaftler und Zeithistoriker Professor Hans-Peter Schwarz führte die Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus ein wissenschaftliches Symposium durch. Wie kein anderer deutscher Wissenschaftler hat Hans-Peter Schwarz die deutsche Außenpolitik des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer bis in die Gegenwart in zahlreichen Publikationen kritisch beobachtet und kommentiert. Im Mittelpunkt seines Werkes stand eine ‚verantwortliche Machtpolitik‘, die die Machtkonstellationen der Bonner und Berliner Republik nüchtern analysierte und nationale Interessen der ‚Zentralmacht Deutschland‘ aufgeklärt reflektierte.

Zentrales Thema der ‚Denkveranstaltung‘, so der Historiker DOMINIK GEPPERT (Bonn), war, die von Adenauer festgelegten Leitlinien der deutschen Außenpolitik im Lichte der aktuellen Herausforderungen im euro-atlantischen Raum unter Wegbegleitern des Verstorbenen zu diskutieren. Im ersten Panel „Die langen Linien der deutschen Außen- und Europapolitik seit Adenauer“ herrschte Einigkeit über den Erfolg der von Adenauer vorangetriebenen Westbindung. In einem „revolutionären Akt“, so JÜRGEN RÜTTGERS (Bad Honnef), Vorsitzender des Stiftungskuratoriums, habe Adenauer eine strategisch angelegte Außenpolitik entwickelt, mit der die Bundesrepublik im Schatten der Katastrophe des Nationalsozialismus und im Kontext des sich verschärfenden Ost-West-Konflikt den Weg nach Westen beschritt und damit einer Schaukelpolitik zwischen Ost und West eine klare Absage erteilte. Dies stellten auch die Historiker HORST MÖLLER (München) und ECKART CONZE (Marburg) fest. „Von Adenauer haben wir gelernt, wie man Politik unter widrigen Umständen erfolgreich betreiben kann. Hans-Peter Schwarz lehrte uns, wie man diese erfolgreiche Politik erklären kann,“ fasste JOACHIM KRAUSE (Kiel) die historische Leistung des Bundeskanzlers und seines Chronisten treffend zusammen. Von diesem realistischen Kurs machtfundierter Außenpolitik drohe aber die Berliner Republik abzudriften. „Derzeit sind wir dabei, die Lehren aus dieser Zeit zu vergessen“, warnte Krause vor einer immer größer werdenden Neigung in Berlin, sich von einer moralisierenden Selbsterhöhung und nicht mehr von einer verantwortlichen Machtpolitik leiten zu lassen. Die Ursache für die Abkehr von einer verantwortlichen Machtpolitik machte Möller in einem Nationenverständnis fest, das sich beispielsweise von dem französischen grundlegend unterscheide. Während Frankreich die Nation an realpolitischen Kategorien festmache, sehe sich die Bundesrepublik als Ersatz-Kulturnation, die die richtigen Lehren aus der nationalsozialistischen Vergangenheit gezogen habe, führte ANDREAS RÖDDER (Mainz) aus. Gerade in der Euro-Schuldenkrise sei das Drängen Berlins, den ordoliberalen Lehren zu folgen, als deutsches Vormachtstreben zu Lasten der europäischen Partner wahrgenommen worden. Ebenso sei die Entscheidung von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Grenzen 2015 für Flüchtlinge zu öffnen, vor allem bei kleineren EU-Mitgliedsstaaten auf Kritik gestoßen, weil sie von der ‚humanitären Macht‘ vor vollendete Entscheidungen gestellt worden sei, fügte Krause an. Das offenkundige Spannungsverhältnis zwischen einer machtfundierten und moralisierenden deutschen Außenpolitik zeige aber, dass Deutschlands „Weg nach Westen“ (Heinrich-August Winkler) eine historische Dimension aufweise, die von denen seiner europäischen Nachbarn, insbesondere Frankreichs, deutlich abweiche. Gerade der Zivilmacht Deutschland, die die internationalen Beziehungen unter dem Primat demokratischer sozialstaatlicher Innenpolitik zu zivilisieren anstrebe – Hanns W. Maull nannte dies den ‚Kantischen Ansatz‘ – , wohne die Überzeugung inne, Prozesse und Institutionen, die Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik zivilisiert haben, auf sein externes Umfeld zu übertragen. Der kategorische Imperativ der Westbindung stehe in einem Spannungsverhältnis von zwei konkurrierenden Prinzipien: einerseits eine verantwortliche Machtpolitik, die nach realpolitischen Anpassungen und Lösungen strebt, andererseits eine durch die jüngste deutsche Geschichte bedingte Neigung zu einer moralisierenden Überhebung, dass die Welt am deutschen Wesen genesen soll, wie es Josef Joffe in seinem jüngsten Werk über den ‚guten Deutschen‘ auf den Punkt brachte.

Die Referenten des zweiten Panels „Deutsche Interessenpolitik im 21. Jahrhundert“ waren sich in dem Befund einig, dass die neue Unordnung, gekennzeichnet durch eine Renationalisierungswelle, einen wachsenden Widerstand gegen eine an westlichen Prinzipien und Werten ausgerichtete liberale Weltordnung und den ‚Trumpismus‘, mittelfristig bestehen bleibe. In einer zugespitzten Kritik warf CARLO MASALA (München) der deutschen Außenpolitik vor, sich drei Illusionen hinzugeben: Probleme könnten mit Konferenzen gelöst werden, sich einem „völkerrechtlichen Fetischismus“ hinzugeben und ihre strategischen Interessen nicht kommunizieren zu können. STEFAN FRÖHLICH (Erlangen) empfahl der deutschen Außenpolitik, einen neue Strategie im Umgang mit den USA zu entwickeln, die Präsident Trump bei Verteidigungsausgaben und Zollabbau etwas anbieten könne. Außerdem solle sie ihre ‚Ambivalenzkompetenz‘ gegenüber der Türkei, Russland und China stärken, auf eine rasche intergouvernementale Zusammenarbeit in der EU drängen und eine neue Selbstverantwortung für Frieden und Sicherheit in und außerhalb Europas übernehmen. Ob Deutschland seine neugewonnene ‚Flexibilität“, nicht mehr von Sicherheitsgarantien anderer abhängig zu sein (Masala) nutzen und als ‚Gestaltungsmacht‘ in der internationalen Politik (Fröhlich) auftreten wird, bleibe, wenn man den Ausführungen von ROBIN ALEXANDER (Berlin) folgt, mehr als fraglich. Auch Alexander gab der deutschen Außenpolitik den Rat, ‚offener‘ über deutsche Interessen zu reden. Es bleibe zu fragen, ob die deutsche Außenpolitik zu dieser neuen Offenheit angesichts des nüchternen, pragmatischen Herangehens von Bundeskanzlerin Merkel an außenpolitische Probleme in der Lage sei. Sie stelle bei EU-Ratsgipfeln die Kunst des Möglichen als Kunst des einzig Möglichen dar, in der „die Betonung des Sachzwangs zur Alternativlosigkeit eskaliert“. Deutsche Interessen existierten für sie, so Alexander, nur im europäischen Kontext. In diesem Sinne betonte HANS-DIETER NEUMANN (Berlin), dass bei einer Stärkung der Europäischen Union die Interessen und Werte Deutschlands mit denen Europas übereinfielen. Sollte die Bundesrepublik, um ihren von Masala unterstellten außenpolitischen Illusionen zu entrinnen, ‚zukunftsorientiert denken und handeln‘ und sich atomar bewaffnen, um jeden potentiellen Angreifer nuklear abzuschrecken, wie es der Politikwissenschaftler Christian Hacke jüngst vorschlug? Sein Plädoyer für eine atomare Bewaffnung beruht auf dem Befund, dass die Bundesrepublik erstmals seit 1949 ohne nuklearen Schutzschirm der USA auskommen müsse. Eine solche vermeintlich realpolitische Lösung im Schatten der Präsidentschaft Trumps wirft mehrere folgenschwere Fragen für die Rolle Deutschlands in Europa und der Welt auf. Deutschland als Atommacht würde zu einer weiteren Beschädigung der multilateralen Weltordnung führen – vor allem des nuklearen Nichtverbreitungsvertrags und des Zwei-plus-Vier-Vertrags. Ein geteilter Atlantik, in dem die Bindung der USA an Europa gekappt wird, wie Trump es vorschwebe, würde Europa einschließlich Deutschland zu einem „Anhängsel Eurasiens verwandeln“, so der grand consigliere der amerikanischen Diplomatie Henry Kissinger. Kehre Deutschland zu einer Politik des Gleichgewichts der Mächte des 19. Jahrhunderts zurück, befeuere es unweigerlich die Debatte über die alte deutsche Frage beziehungsweise beschwöre es die Gefahr eines deutschen Sonderwegs herauf. Laut Fröhlich werde eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben – wie hoch und in welchem Zeitraum ließ er offen – Deutschland nicht von heute auf morgen in eine machtfundierte Gestaltungsmacht verwandeln; ganz abgesehen davon, dass Präsident Trump eine solche Beschwichtigungspolitik Berlins wenig beeindrucken werde, wie er auf dem NATO-Gipfel im Juli diesen Jahres andeutete. Schließlich stoße Deutschland in der Sicherheitspolitik auf Herausforderungen, denen sich kein anderer Verbündeter gegenübersehe. Die historische Belastung erlaube nur eine begrenzte Annäherung an das Militärische – Schwarz nannte diese Art der Selbstfesselung ‚Machtvergessenheit‘. Das deutsche Modell tauge nicht dazu, um mit den Powerplay-Krisen dieser Welt fertig zu werden. Die ‚DNA des Landes‘ und der politische Werkzeugkasten gäben dies nicht her. Vielmehr dokumentierten sie den geglückten Bruch mit dem Trauma des Nationalsozialismus. In der aktuellen tiefgreifenden Krise in den transatlantischen Beziehungen lasse Berlin die magere Ausstattung in einer prekären Lage.

Alle Wünsche, die Bundeskanzlerin solle den Ausfall des amerikanischen Präsidenten als ‚Führerin der freien Welt‘ kompensieren, entbehrten einer realpolitischen Grundlage. Dennoch berührten sie einen wahren Kern. Wenn die Politik des nationalen Egoismus zum bestimmenden Element der Weltordnungspolitik werde, wie es Präsident Trump vorschwebe, und wenn die Renationalisierungswelle in der EU weiter anschwelle, dann drohe das Fundament der deutschen Außenpolitik sich aufzulösen: die feste Einbindung in den Westen. Kein Land hänge so sehr von einer liberalen, regelgeleiteten Weltordnung ab wie Deutschland. In Anlehnung an die Formel Bundeskanzler Kurt Georg Kiesingers von der ‚kritischen Größenordnung‘ ist Deutschland zu groß, um ohne eine liberale Weltordnung seine zentralen Güter Prosperität und Sicherheit zu gewährleisten, aber zu klein, um sie alleine garantieren zu können. In diesem Spannungsfeld werde sich auf absehbare Zeit die deutsche Außenpolitik bewegen. Kluge deutsche Außenpolitik ziele auf die Schaffung von Strukturen internationalen Regierens, die klassische Machtpolitik zunehmend erschweren und zwischenstaatliche Konsenslösungen erleichtern. Trotz der fundamentalen Krise im Westen bleibe die Fortschreibung der von Adenauer begründeten außenpolitischen Traditionslinie die beste Option, die die realistische und idealistische Linie der deutschen Außenpolitik für die Sicherung von Frieden und Freiheit auf wirksame Weise miteinander verknüpfe. Diese ‚höchsten Güter der Menschheit‘ blieben unabhängig vom weiteren Verlauf der Präsidentschaft Trumps „in Amerika und Europa in gleicher Weise Ziel der Politik“, wie Adenauer in seiner Madrider Ateneo-Rede am 16. Februar 1967 wegweisend erklärt hatte.

Konferenzübersicht:

Jürgen Rüttgers (Vorsitzender des Kuratoriums Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus, Bad Honnef): Begrüßung und Würdigung

Dominik Geppert (Universität Bonn) / Hans Jörg Hennecke (Universität Rostock): Einführung

Joachim Krause (Universität Kiel): „Was meint verantwortliche Machtpolitik?“ – Adenauer als Realpolitiker

Panel I: Die langen Linien der deutschen Außen- und Europapolitik seit Adenauer

Impulsvortrag
Horst Möller (Universität München)

Kommentare: Andreas Rödder (Universität Mainz), Michael Gehler (Universität Hildesheim), Eckart Conze (Universität Marburg)

Panel II: Deutsche Interessenpolitik im 21. Jahrhundert

Impulsvortrag
Stefan Fröhlich (Universität Erlangen-Nürnberg)

Kommentare: Carlo Masala (Universität der Bundeswehr München) / Robin Alexander (Chefreporter „Die Welt“, Berlin) / Hans-Dieter Heumann (Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik 2011-2015, Berlin)


Redaktion
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