Das Reich und Großbritannien 1650-1850. Ideen- und kommunikationsgeschichtliche Zugänge einer Entangled History

Das Reich und Großbritannien 1650-1850. Ideen- und kommunikationsgeschichtliche Zugänge einer Entangled History

Organisatoren
Stefan Ehrenpreis / Niels Grüne, Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie, Leopold-Franzens-Universität Innsbruck
Ort
Innsbruck
Land
Austria
Vom - Bis
17.02.2016 - 18.02.2016
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Von
Joachim Bürgschwentner / Hannes Unterkircher, Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie, Leopold-Franzens-Universität Innsbruck

Im Rahmen der gegenwärtigen Debatte um den „Brexit“ und die Rolle des Vereinigten Königreichs innerhalb – bzw. bald außerhalb – der Europäischen Union hat auch die Frage, ob Großbritannien historisch „apart from or a part of Europe“ sei1, ob der „Sonderweg“ oder die tiefe Verflechtung mit Kontinentaleuropa zu betonen sei, aktuelle Brisanz erlangt. An den Ansatz der „entangled history“ anknüpfend, war es Ziel der Tagungsorganisatoren Stefan Ehrenpreis und Niels Grüne, Beziehungs- und Kreuzungsmomenten zwischen dem Raum des Heiligen Römischen Reiches bzw. Deutschen Bundes und England bzw. Großbritannien in der Zeit von 1650 bis 1850 nachzuspüren. Das Hauptaugenmerk lag auf langfristig prägenden Kommunikationszusammenhängen und der Rezeption sozialer und herrschaftlicher Entwicklungen. Wie Ehrenpreis und Grüne einleitend weiter skizzierten, kreiste die Konferenz dabei um drei analytische Fokusse: die „entangled lives“ von Schlüsselfiguren und Multiplikatoren, die Mediengeschichte zentraler Quellen des Wissens übereinander sowie wahrnehmungs- und wirkungsgeschichtliche Prozesse.

Das Auftaktpanel thematisierte dynastische Verbindungen und Kalküle zwischen den beiden Regionen um 1700. ELENA TADDEI (Innsbruck) befasste sich mit Mary of Modena, als Gattin Jakobs II. der ersten und einzigen (Reichs-)Italienerin sowie der letzten Katholikin auf dem englischen Thron. Taddei betonte einerseits Marys Befremden und Unbehagen gegenüber Parlament und englischer Politik, andererseits aber auch ihre Handlungsspielräume auf den Feldern des Kulturtransfers und der Klientelpolitik am Hof. TOM TÖLLE (Princeton/Cambridge) widmete sich einer um 1700 auf der Insel wie auf dem Kontinent virulenten Frage, nämlich jener nach dynastischen Kontinuitäten angesichts des gehäuften Sterbens der Erben in europäischen Königsfamilien. Mithilfe des Briefverkehrs zwischen dem englischen Gesandten George Stepney und Gottfried Wilhelm Leibniz, die diesbezügliches Wissen als politisches Kapital sammelten und Zukunftsszenarien erörterten, zeigte er deren „kreativen Wissenstransfer“ auf.

STEFAN EHRENPREIS (Innsbruck) und ALEXANDER SCHUNKA (Berlin) analysierten religiös-literarische Interdependenzen vom mittleren 17. bis frühen 18. Jahrhundert. Ehrenpreis’ Blick auf den süddeutschen Raum verdeutlichte das rege Interesse des Nürnberger Pegnesischen Blumenordens an englischsprachiger Literatur. Ein erhaltener Katalog belegt allein für den Zeitraum zwischen 1643 und 1668 über 300 nach Nürnberg importierte Titel, von denen zahlreiche auch ins Deutsche übertragen wurden. Deren Auswahl lasse darauf schließen, dass die Mitglieder des Blumenordens in der Folge des Westfälischen Friedens bestrebt waren, anhand von englischen Vorbildern die persönliche Komponente des Gottesglaubens hervorzuheben und Religion damit dem weltlich-staatlichen Zugriff zu entziehen. Schunka konstatierte für den norddeutschen Raum hingegen erst ab 1700 eine starke Zunahme des Interesses an England, die sich in vermehrten Reisen, Bücherkäufen, Übersetzungen und Korrespondenznetzwerken manifestierte und vor allem von theologischen Kreisen getragen wurde. Getrieben von diffusen Ängsten vor dem Katholizismus erschien ihnen die Church of England mit ihrer episkopalen Struktur und zwischen Luthertum und Reformiertentum vermittelnden Abendmahlslehre als Vorbild für eine protestantische Einigung im Reich.

Das dritte Panel rückte diplomatische Kontakte zwischen dem Reich und England in den Mittelpunkt. ROBERT REBITSCH (Innsbruck) wandte sich den Berichten des kaiserlichen Gesandten in London, Johann Wenzel von Gallas, im Umfeld des Spanischen Erbfolgekriegs zu. Neben englischer und habsburgischer Innenpolitik sowie Handelsbeziehungen zeugen die Korrespondenzen von den Fallstricken der politischen Kommunikation. Gallas kämpfte zunächst mit Verständigungsschwierigkeiten, lernte und nutzte aber anderseits englische „Medienarbeit“, wenngleich ihm diese schließlich durch Preisgabe von Preliminarverträgen an die Whig-Presse zum Verhängnis wurde. CLAUS OBERHAUSER (Innsbruck) schilderte in seinem Vortrag über Alexander (Maurus) Horn, wie ein Mönch aus dem Schottenkloster in Regensburg zum Geheimagenten Englands wurde und das Deutschlandbild dortiger Politiker beeinflusste. Als Bibliothekar im Kulturtransfer schon grenzüberschreitend aktiv, arbeitete er seit 1789 für den britischen Botschafter am Reichstag. Der Reichsdeputationshauptschluss von 1803 und die Säkularisation der Kirchengüter veranlassten den empörten Horn zu einer drastischen Denkschrift nach London, die Oberhauser zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen nahm. Horn trat nun förmlich in den diplomatischen Dienst des Vereinigten Königreichs ein, baute sein Netzwerk von Informanten aus und betätigte sich auch als Spion, was durch regelmäßige Berichte an das Foreign Office dokumentiert ist.

Die beiden folgenden Referate loteten exemplarisch aus, welchen Niederschlag zentrale Umbrüche und Funktionsmechanismen des britischen Regierungssystems in deutschen Betrachtungen fanden. NINA SCHWEISTHAL (Trier) stützte sich in ihren Forschungen zur Rezeption der englischen Revolutionen des 17. Jahrhunderts auf etwa 200 deutschsprachige Drucke (vor allem Flugschriften, Traktate, Erzählliteratur) der Jahre 1642 bis 1698. Neben einer Kontextualisierung der Quellen – auch hinsichtlich der Autoren und Adressaten – umriss Schweisthal die Darstellungszwecke, Argumentationsmuster, Interpretamente und Leitbegriffe dieser politischen Publizistik. Außerdem ging sie der Frage nach, wie sich hierbei das Verhältnis von Politik und Öffentlichkeit gestaltete. Abschließend beleuchtete Schweisthal drei Beispiele detaillierter, um ihre generelle Einschätzung zu illustrieren, dass das Korpus einen transnationalen Herrschaftsdiskurs repräsentiere. NIELS GRÜNE (Freiburg i. Br./Innsbruck) untersuchte, wie die britische Verfassungswirklichkeit im Alten Reich des 18. Jahrhunderts wahrgenommen wurde und ob sich Ideentransfers bis in die Alltagsrhetorik beobachten lassen. An Reiseberichten und Essays arbeitete er heraus, dass deutsche Kommentatoren die parteiliche Differenzierung zwischen Whigs und Torys sowie die massive Patronage der Krone im Unterhaus aufmerksam registrierten. Mehrheitlich wurden solche Phänomene als Verfallserscheinungen missbilligt, obwohl es auch Gegenstimmen gab. Danach wechselte Grüne auf die territoriale Ebene und demonstrierte, wie sich in Württemberg die Kritiker eigennütziger Fürstennähe unter den landständischen Eliten wiederholt auf die britische Situation bezogen, um vermeintlich analoge Fehlentwicklungen anzuprangern.

Die beiden folgenden Vorträge überschritten die Schwelle zum 19. Jahrhundert. ULRICH PALLUA (Innsbruck) erkundete anhand deutscher Schauspieltexte, welche die Sklaverei zum Gegenstand hatten, die Sicht auf die britische Kolonialherrschaft. Seit dem Beginn des Sklavenhandelsverbots 1772 wurde der afrikanische Sklave prominentes Subjekt zahlreicher Theaterstücke. Man betonte seine Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung, seine Menschenrechte, aber auch den Anspruch, ihn in die Zivilisation zu führen und vor einem Rückfall in die afrikanische Stammeskultur zu bewahren. Unter Verweis auf zeitgenössische Stücke, die in Hamburg, Mannheim und Berlin gespielt wurden (unter anderem Kotzebues Die Negersklaven von 1796), zeigte Pallua, dass die europäische Verpflichtung zur Zivilisierung afrikanischer Bevölkerungen vor allem den Briten zugeschrieben wurde. MARTIN SCHALLER (St. Andrews) legte den Fokus auf britische Reisende und deren „fragmentierten Blick“ auf das Habsburgerreich zwischen 1815 und 1850. Anhand ausgewählter Reiseberichte charakterisierte er die Materiallage. In den Quellen wurden die Teilregionen der zusammengesetzten Monarchie häufig mit britischen Gebieten parallelisiert: etwa Tirol mit Schottland oder Ungarn mit Irland. Bergvölker als Stereotype hielten in die Beschreibungen genauso Einzug wie politische Vergleiche. Die Besucher von der Insel empfanden ihre Erfahrungen auf dem Kontinent nicht selten als eine „Zeitreise“ in die Vergangenheit. Zudem falle auf, dass das Habsburgerreich weniger in seiner gesamtstaatlichen Verfasstheit denn auf der Ebene ethnisch-nationaler, sprachlicher und naturräumlicher Diversität wahrgenommen wurde, wobei offen bleibe, inwieweit darin Wahrnehmungstraditionen aus der Phase vor 1804/06 fortwirkten.

Den letzten Vortrag hielt HANNES UNTERKIRCHER (Innsbruck). Er beschäftigte sich mit dem Reisetagebuch Maximilian Josephs von Österreich-Este, der in den Jahren 1818/19 die britischen Inseln besuchte. Der spätere Hochmeister des Deutschen Ordens notierte sich – ganz im Sinne der Kavalierstour des 18. Jahrhunderts – vielfältige Eindrücke vom britischen Leben. Besonderes Interesse galt den Fabriklandschaften Mittelenglands und deren Technik. Bei der Aufarbeitung des Tagebuchs wurde neben dem Originaljournal der Reise auch die begleitende Korrespondenz des Erzherzogs herangezogen. Das Dissertationsprojekt solle zum einen eine kritisch kommentierte Edition des Tagebuchs liefern und zum anderen einen Beitrag zur Wahrnehmungsgeschichte zwischen Österreich und England um 1800 leisten.

Als verbindender Orientierungsrahmen schälte sich auf der Konferenz die kategoriale Trias von Akteuren, Räumen und Medien heraus. Die empirischen Nahaufnahmen förderten nicht allein ein breites Spektrum beziehungs- und perzeptionsgeschichtlicher Akteure zwischen der britischen und zentraleuropäischen Sphäre zutage. Es wurde auch immer wieder deutlich, wie tief die wechselseitigen Verflechtungen und Wahrnehmungen in spezifischen Aneignungs- und Rezeptionsmotiven wurzelten, die sich nur durch eine sorgfältige Kontextualisierung erschließen. Folglich erschöpfte sich die räumliche Dimension nicht in der bloßen Akkumulation von Wissen über geographisch entfernte Gesellschafts- und Kulturformen. Mindestens ebenso sehr handelte es sich um imaginierte Räume: um Projektionsflächen im Dienste praktischer und argumentativer Bedürfnisse. Auf diese Weise entstand etwa eine Pluralität von Englandbildern, wobei die Metropole London als hegemonialer Referenzpunkt weniger dominierte, als man vermuten könnte. Unter den medialen Vermittlungskanälen stachen Reisen (bzw. Reiseberichte), Korrespondenzen und darauf beruhende Netzwerke, landeskundliche, theologische und tagespolitische Publizistik sowie Übersetzungen (bzw. Adaptionen) hervor. Hier ging es gleichfalls nicht lediglich um die Überbrückung physischer Distanz, sondern um interessengeleitete Anverwandlungen. Dass im 17. und 18. Jahrhundert der Kontinent anscheinend intensiver auf England blickte als umgekehrt, mochte mit dem dortigen Modernitätsvorsprung zusammenhängen. Vielleicht spiegelt diese Asymmetrie aber auch Forschungsungleichgewichte und relativiert sich im Verlauf künftiger Studien. Solche und andere Impulse der Tagung – beispielsweise das Desiderat einer verstärkten Einbeziehung nicht-elitärer Quellen – werden weiter zu beachten sein. – Die Referate und einige ergänzende Beiträge sollen in einem englischsprachigen Sammelband veröffentlicht werden.

Konferenzübersicht:

Stefan Ehrenpreis/Niels Grüne: Einführung

Elena Taddei (Innsbruck): Mary of Modena: Eine Katholikin aus Reichsitalien als Königin von Großbritannien (1685-1688)

Tom Tölle (Princeton/Cambridge): Das Sterben der Erben: Das europäische Problem dynastischer Kontinuität zwischen Wien und London um 1700

Stefan Ehrenpreis (Innsbruck): Deutsche Übersetzungen englischer religiöser Texte 1650-1700

Alexander Schunka (Berlin): Irenik und frühe Anglophilie: Deutsche Protestanten und die Church of England um 1700

Robert Rebitsch (Innsbruck): Hohe Politik oder Alltagsgeschäfte? Berichte des kaiserlichen Gesandten Johann Wenzel von Gallas aus London

Claus Oberhauser (Innsbruck): Der Stift des Schicksals. Alexander (Maurus) Horns (1762-1820) Denkschrift über den Reichsdeputationshauptschluss und seine Korrespondenz mit britischen Diplomaten und schottischen Benediktinern

Nina Schweisthal (Trier): Das Reich und die Revolutionen in England. Rezeptionsgeschichtliche Studien zum transnationalen Herrschaftsdiskurs der Frühen Neuzeit

Niels Grüne (Freiburg i. Br./Innsbruck): Ideentransfer und politische Rhetorik. Zur Aneignung der britischen Verfassungswirklichkeit im Deutschland des 18. Jahrhundert

Ulrich Pallua (Innsbruck): Discursive Strategies in Fixing Images of Power: The Enslaved ‚Other‘ in Kotzebue’s The Negro Slaves

Martin Schaller (St Andrews): Der Blick von außen: Britische Reisende und ihre Wahrnehmung des Habsburger Reichs (ca. 1815-1850)

Oliver Werner (Leipzig): Wie prägte die Wahrnehmung Deutschlands durch britische Diplomaten die britische Deutschlandpolitik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts? [Vortrag entfiel kurzfristig]

Hannes Unterkircher (Innsbruck): Ein Erzherzog in Großbritannien im frühen 19. Jahrhundert: Vorstellung eines Editionsprojekts

Anmerkung:
1 David Abulafia, Britain: apart from or a part of Europe?, in: HistoryToday, 11.05.2015, http://www.historytoday.com/david-abulafia/britain-apart-or-part-europe (13.11.2016).