Was ist Medizin? Perspektiven aus den Medical Humanities

Was ist Medizin? Perspektiven aus den Medical Humanities

Organisatoren
Universität Zürich
Ort
Zürich
Land
Switzerland
Vom - Bis
05.11.2015 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Jacqueline Martinelli, Center for Medical Humanities / Institut für Biomedizinische, Ethik und Medizingeschichte, Lehrstuhl für Medizingeschichte, Universität Zürich

Unter dem Begriff „Medical Humanities“ wird seit einigen Jahren eine rege Debatte um die Rolle der Geistes- und Sozialwissenschaften in und ihre Beschäftigung mit der Medizin geführt. Seit 2014 gibt es am Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte der Universität Zürich ein Center for Medical Humanities, das derzeit im Entstehen begriffen ist. In diesem Zusammenhang fand am 5. November 2015 an der Universität Zürich ein interdisziplinärer Workshop mit dem Titel „Was ist Medizin? Perspektiven aus den Medical Humanities“1 statt. Finanziert wurde die Veranstaltung durch einen Short Grant des Graduate Campus (UZH), mit freundlicher Unterstützung des Zentrum Geschichte des Wissens (ETH/UZH). Ziel des Workshops war es, eine lokale Standortbestimmung vorzunehmen: Wer arbeitet und forscht im Bereich Medical Humanities in Zürich und was verstehen unterschiedliche Disziplinen unter diesem Feld? Dabei ging es nicht darum, Medical Humanities à priori zu definieren, sondern vielmehr darum, Nachwuchsforschende aus dem lokalen Umfeld zusammenzubringen, um so einen interdisziplinären Austausch zu initiieren. Die Frage „Was ist Medizin?“ wurde in diesem Sinn nicht als ontologische Frage gestellt. Es ging vielmehr darum zu erörtern, aus welchen Perspektiven und mit welchen Methoden sich verschiedene Disziplinen heute mit der Medizin beschäftigen.
Organisiert wurde der Workshop von vier Forschenden, die selbst aus verschiedenen Disziplinen kommen und mit unterschiedlichen Fragen und Methoden zu medizinischen Themen arbeiten: Veronika Rall ist Filmwissenschaftlerin, Janina Kehr Ethnologin, Tobias Eichinger Philosoph und Maria Böhmer Historikerin.

Im ersten Beitrag stellten VERONIKA RALL (Zürich) und YVONNE ILG (Zürich) ein Medical Humanities-Projekt avant la lettre vor, welches die unterschiedlichen Verwendungs-, Bedeutungs- und Wirkungszusammenhänge von „Schizophrenie“ untersucht.2 Daran beteiligt sind Forschende aus den Bereichen Psychiatrie, Linguistik, Geschichte und Filmwissenschaft. Nach Rall erfordert solch eine inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit die Entwicklung transdisziplinärer Methoden. Die verschiedenen beteiligten Disziplinen, so Rall, müssten dazu gemeinsam herausfinden, auf welcher Ebene sie sich treffen und austauschen sollen bzw. wollen. Die Medical Humanities könnten hierbei eine wichtige Rolle einnehmen, indem sie als transdisziplinärer Zugang und damit als Chance zur Interdisziplinarität betrachtet werden können. Rall und Ilg schilderten in ihrem Beitrag als Geisteswissenschaftlerinnen das Zusammentreffen mit der Medizin, der Psychiatrie und Betroffenen. Auch hier könnten die Medical Humanities hilfreich sein, und zwar als Türöffner zur Medizin. Für ein solches Projekt sei die Bereitschaft zur Zusammenarbeit seitens der Psychiatrie zentral. Rall und Ilg betonten, dass von einer solchen Zusammenarbeit alle Beteiligten profitieren würden, und plädierten daher dafür, Medical Humanities als „Humanities with Medicine“ zu denken – als ein Miteinander auf derselben Augenhöhe.

Die Schwierigkeiten, aber auch die Fruchtbarkeit einer Zusammenarbeit mit den Betroffenen thematisierte auch YVONNE SCHMIDT (Zürich). Schmidt arbeitet in einem interdisziplinären Forschungsprojekt „DisAbility on Stage“3, welches bestrebt ist, die Auseinandersetzung mit dis/ability in den Schweizer Kunst- und Hochschulen zu fördern. Dazu werden Modelle von dis/ability in der Theorie, ihrer Ausführung und der Bildung untersucht. Schmidt befasste sich in ihrem Beitrag mit traditionellen Schauspieltheorien. Dabei veranschaulichte sie, wie traditionell auf den Bühnen zwar Behinderung gezeigt wird, diese jedoch immer gespielt ist – behinderten Körpern wird der Zugang zur Bühne verwehrt. Die Analyse von traditionellen Schauspieltheorien diente Schmidt der Entwicklung neuer Ansätze, in denen dis/ability Platz findet. Umgesetzt werden solche neuen Ansätze zum Beispiel im Theater HORA4 in Zürich, einem professionellen Theater von und mit Menschen mit geistiger Behinderung.

Mit der Entwicklung neuer Theorien befassten sich auch TOBIAS EICHINGER (Zürich) und JOHANN RODUIT (Zürich), allerdings im Feld der biomedizinischen Ethik. Für Eichinger, der sich in seinem Beitrag mit den Zielen und der Identität der Medizin beschäftigte, war die Frage „Was ist Medizin?“ auch als ontologische gefasst. Um festlegen zu können, was Medizin sein solle, so Eichinger, müsse man nämlich zuerst definieren, was Medizin ist. Eichinger und Roduit behandelten nicht nur gegenwärtige ethische Probleme, sondern warfen auch einen Blick in die Zukunft, wie Roduits Beitrag zu Human Enhancement zeigte. Die explizite Normativität ihres Ansatzes ergibt sich auch aus dem institutionellen Auftrag der biomedizinischen Ethik in Zürich5, die in Forschung, Lehre und Beratung für die praktische Medizin tätig ist. Für Eichinger und Roduit sind die Medical Humanities eine interdisziplinäre Chance, um produktiv in die Medizin einzugreifen. In diesem Sinn plädierten sie dafür, Medical Humanities als „Humanities in Medicine“ zu begreifen.

Ein konkretes Beispiel, welche Rolle Geistes- und Sozialwissenschaften in der Medizin spielen können, gab JÜRG STREULI (Zürich), praktizierender Arzt und Medizinethiker, mit seinem Beitrag zur Unterrichtspraxis im Medizinstudium. Streuli stellte seine Lehrtätigkeit an der medizinischen Fakultät vor und berichtete von seinen Erfahrungen mit Medizinstudierenden. Er schilderte, wie er in seinem Modul zur Klinischen Ethik versucht, angehenden Ärzt/innen Aspekte der Medizin aufzuzeigen, die im zeitintensiven Studium sonst eher zu kurz kommen. Dabei stehe die Frage im Vordergrund, was ein guter Arzt oder eine gute Ärztin sei und was gute Medizin ausmache. Für Streuli war klar, dass die Antwort in einer „Verheiratung“ des angewandten Wissenschaftlers mit dem „Medical Humanist“ liegt – „by marrying the applied scientist to the medical humanist“. Trotz der guten Absicht bleibt eine Hürde: Solche Veranstaltungen sind für die Studierenden der Medizin in Zürich bislang nicht obligatorisch.

In Basel hingegen ist der Besuch von Medical Humanities-Kursen für Medizinstudierende verbindlich. FRANZISKA GYGAX (Basel), die sich dafür einsetzte, dass Narrative Medizin im Medizinstudium unterrichtet wird, stellte fest, dass die meisten Ärzte nicht dazu ausgebildet seien, Narrative zu interpretieren. Grundlagen für die Narrative Medizin, wie sie aktuell in Basel unterrichtet wird, wurden in einem interdisziplinären Forschungsprojekt6 ausgearbeitet, auf welches Gygax im Anschluss an den Workshop in einem öffentlichen Abendvortrag einging. Narrative Medizin untersucht die Art und Weise, wie über Sprache Bedeutung geschaffen wird. Indem Mediziner lernen zu verstehen, wie Narrative Krankheit repräsentieren, vergrößern sie ihr Bewusstsein für die ethische Komplexität der Beziehungen zwischen Arzt und Patient.

Mit Narrativen setzten sich auch die Beiträge von LISA LETNANSKY (Zürich) und MONIKA CLASS (Konstanz) auseinander. Letnansky untersucht in ihrem Forschungsprojekt das Verhältnis von Literatur und Medizin am Beispiel von Herzkrankheiten. In ihrem Beitrag betonte sie, dass sowohl Literatur als auch Medizin an der Produktion und Strukturierung von medizinischem Wissen beteiligt sind, obwohl es sich um zwei unterschiedliche Denksysteme handelt. Class befasste sich mit der therapeutischen Funktion von Literatur und stellte eine Fallstudie vor, in der sie eine Rekonstruktion einer Psychophysiologie des Lesens des 18. Jahrhunderts vornahm. Sie legte dar, wie sich die Medizin für die Funktion des Lesens und für die Einwirkung von Literatur auf die Psyche und den Körper der Rezipierenden zu interessieren begann.

Wie die Biomedizinische Ethik ist auch die Medizingeschichte in Zürich der Medizinischen Fakultät angegliedert und hat in derselben einen Lehrauftrag.7 In einem inszenierten Gespräch fragten sich MARIA BÖHMER (Zürich) und MARINA LIENHARD (Zürich), welche Rolle die Medizingeschichte in den Medical Humanities einnehmen kann und soll. Ihr Beitrag machte explizit, wie sich die neuere von einer älteren Medizingeschichte abgrenzt. Während die ältere Medizingeschichte einem Forschungsnarrativ folge, das gerne Erfolgsstories erzähle, anerkenne die neuere Geschichtsschreibung durch eine kritischere Haltung die Zeitgebundenheit von Medizin und Krankheiten. Medizin erschien in Böhmers und Lienhards Beitrag nicht mehr nur als Beziehung zwischen Arzt und Patient, sondern als ein komplexes Geflecht von menschlichen Beziehungen, Institutionen, politischen Entscheidungen, wirtschaftlichen Investitionen, Renditen, Techniken und Praktiken. Böhmer und Lienhard vertraten die Ansicht, dass Medizingeschichte eine wichtige Stimme innerhalb der Medical Humanities ist und sein soll. Medical Humanities haben den Anspruch, eine two-way-street zu sein, also auch geisteswissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden in die Medizin hinein zu tragen. Historiker/innen können dabei verdeutlichen, dass medizinisches Wissen und medizinische Praxis eine Geschichte haben und wissenschaftliche Wahrheiten wandelbar sind.

Der Gründer der Zürcher Medizingeschichte Erwin H. Ackerknecht war sowohl Medizinhistoriker, als auch Medizinethnologe. Schon in den 1950er-Jahren wies er darauf hin, dass nicht nur die „primitive Medizin“, wie er sie nannte, sondern auch die „westliche“ Medizin kulturell bedingt sei. Bis die westliche Biomedizin in der Ethnologie systematisch als kulturelles Phänomen betrachtet und so zu ihrem empirischen Untersuchungsobjekt werden konnte, dauerte es allerdings noch bis in die 1980er-Jahre. Auf diese zunehmende Beschäftigung der Ethnologie mit der westlichen Medizin gingen SANDRA BÄRNREUTHER (Zürich) und JANINA KEHR (Zürich) ein. Sie fragten in ihrem Beitrag nach den Wissensbeziehungen zwischen der Ethnologie und der Medizin. Während die Ethnologie zunächst vor allem Krankheitsnarrative und das kulturell spezifische Eingebettetsein von Krankheit untersuchte, erweiterte sie später den Fokus auf sozioökonomische und politische Lebenskontexte, die sich auf das Kranksein auswirken. Generell versteht die Ethnologie jegliche Art von Medizin, auch moderne Biomedizin, als kulturelle Praxis. Kultur und Medizin, betonten Kehr und Bärnreuther, seien dabei relationale Phänomene. Für die Medical Humanities postulierten beide am Ende Ihres gemeinsamen Vortrages, dass auch die Relation zwischen Medizin und Humanities je nach Ort und Zeit immer wieder neu ausgehandelt und definiert werden könne, um Beziehungsräume zu öffnen.

Im Verlauf des Workshops hat sich die Titelfrage „Was ist Medizin?“ zu „Wozu Medical Humanities? Für wen? Mit wem?“ verschoben. Dies manifestierte sich nicht nur in den zahlreichen Beiträgen, sondern auch in den lebhaften Diskussionen während des gesamten Tages. Der aus dem anglo-amerikanischen Raum stammende Begriff Medical Humanities hat selbst keine einheitliche Definition. In den unterschiedlichen Verständnissen und Traditionen lassen sich zwei Hauptströmungen ausmachen, die laut Gastgeber/innen beide Relevanz haben, und die es beide anzuerkennen gilt. Die eine legt den Fokus auf die „Humanities in Medicine“, also auf den Einfluss der Geistes- und Sozialwissenschaften innerhalb der Medizin, vor allem in der Ausbildung. Die zweite Strömung, auch Critical Medical Studies genannt, sieht die Medizin als zentralen Teil unserer Gesellschaft und untersucht sie im Sinne von „Humanities of Medicine“ als Forschungsobjekt. Diese zwei Auffassungen wurden im Verlauf des Workshops ergänzt, unter anderem durch das Plädoyer für eine Zusammenarbeit der „Humanities with Medicine“ auf gleicher Augenhöhe.

Die enorme Vielfalt der Beiträge und die grosse Teilnehmerzahl bewies ein breites Interesse am Thema. So vielfältig wie die Beiträge waren denn auch die Vorstellungen von der Rolle, die ein Center for Medical Humanities in Zürich einnehmen könne und solle. Einig war man sich jedoch darüber, dass die Medical Humanities als Türöffner dienen können, der es den Geistes- und Sozialwissenschaften und der Medizin erlaubt, gemeinsam an einem Tisch zu sitzen und so die Möglichkeit zum Austausch und vielleicht sogar zur interdisziplinären Zusammenarbeit eröffnet.

Konferenzübersicht:

Veronika Rall und Yvonne Ilg (Universität Zürich): Medical Humanities als transdisziplinärer Zugang – Perspektiven aus dem SNF-Forschungsprojekt „Schizophrenie“

Yvonne Schmidt (Zürcher Hochschule der Künste): Disability Studies trifft Theaterwissenschaft

Tobias Eichinger und Johann Roduit (Universität Zürich): Ziele der Medizin und Enhancement – Perspektiven aus der Biomedizinischen Ethik

Jürg Streuli (Universität Zürich): Menschenbilder und Medizin in der Lehre

Lisa Letnansky (Universität Zürich): Herzgeschichten – Kardiologie und Literatur

Monika Class (Universität Konstanz): Romanlesen und Medizin

Maria Böhmer und Marina Lienhard (Universität Zürich): Medizin und Gesellschaft in der Geschichtswissenschaft

Sandra Bärnreuther und Janina Kehr (Universität Zürich): Medizin und Kultur in der Ethnologie

Öffentlicher Abendvortrag

Franziska Gygax (Universität Basel): Narrating Illness: Literature and Medicine

Anmerkungen:
1 Universität Zürich – Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte, Workshop: Was ist Medizin? Perspektiven aus den Medical Humanities, <http://www.ibme.uzh.ch/de/news/Was-ist-Medizin-Perspektiven-aus-den-Medical-Humanities.html> (20.01.2016).
2 Universität Zürich, «Schizophrenie»: Rezeption, Bedeutungswandel und Kritik, <http://www.schizophrenie.uzh.ch> (20.01.2016).
3 DisAbility on Stage. Ein SNF-Forschungsprojekt, <http://blog.zhdk.ch/disabilityonstage> (20.01.2016).
4 Theater HORA, <http://www.hora.ch> (20.01.2016).
5 Universität Zürich, Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte (IBME), <http://www.ibme.uzh.ch> (20.01.2016).
6 Universität Basel, Life (Beyond) Writing: Illness Narratives, <https://illness-narratives.unibas.ch/> (20.01.2016).
7 Universität Zürich, Lehrstuhl für Medizingeschichte, <http://www.mhiz.uzh.ch> (20.01.2016).


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