Der Wiener Kongress als kirchenpolitische Zäsur

Der Wiener Kongress als kirchenpolitische Zäsur

Organisatoren
Heinz Duchhardt / Johannes Wischmeyer, Leibniz-Institut für Europäische Geschichte Mainz (IEG)
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.03.2012 - 16.03.2012
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Von
Johannes Wischmeyer, Leibniz-Institut für Europäische Geschichte Mainz (IEG)

Zu den politischen Weichenstellungen im Rahmen des Wiener Kongress zählen auch weitreichende kirchen- und religionspolitische Entscheidungen auf der europäischen Ebene, vor allem aber für den Bereich des künftigen Deutschen Bundes. Diesem Thema, das in der bisherigen Forschung kaum in einer übergreifenden Perspektive in den Blick genommen wurde, widmete sich am 15./16. März 2012 eine vom Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG) veranstaltete interdisziplinäre Tagung (finanziell gefördert durch die Gerda Henkel Stiftung). Im Zentrum der Vorträge und Diskussionen stand die Frage, inwiefern der Kongress eine Zäsur in kirchen- bzw. religions- und konfessionspolitischer Hinsicht darstellte.

Vorträge zu den kirchenpolitischen Aktivitäten der beiden Sachwalter der deutschen katholischen Kirche, Karl von Dalberg (KARL HAUSBERGER, Regensburg) und Ignaz von Wessenberg (FRANZ XAVER BISCHOF, München), riefen das Vorgeschehen in Erinnerung: Seit dem Reichsdeputationshauptschluss hatte die Reichskirche dramatische Veränderungen erlebt. Als Lösung der materiellen und rechtlichen Probleme präferierten der umstrittene Primas und sein reformerisch engagierterer Generalvikar ein Nationalkonkordat für das Reich, später auch für den Rheinbund. Obgleich beide Wert auf weitest mögliche Übereinstimmung mit dem kanonischen Recht legten und keineswegs, wie oft kolportiert, auf einen Bruch mit der römischen Oberhoheit zielten, scheiterten ihre Pläne dauerhaft: Grund dafür waren die dezidierte Ablehnung des Primatialmodells seitens der Kurie, aber auch die politischen Egoismen des napoleonischen Frankreich und der süddeutschen Staaten. Auch die guten persönlichen Beziehungen Wessenbergs zu führenden Akteuren des Kongresses konnten hieran nichts ändern, da er Kardinalstaatssekretär Consalvi und dem Wiener Nuntius Severoli als persona non grata galt.

ROBERTO REGOLI (Rom) schilderte die Mission des moderaten Reformers Consalvi, dem trotz kurieninterner Widerstände gegen seine Politik die lange Zeit für unwahrscheinlich gehaltene weitgehende Restitution des Kirchenstaates ebenso wie eine Verbesserung der Beziehungen auch zu den protestantischen Mächten gelang. DOMINIK BURKARD (Würzburg) gab Einblicke in den zeitgenössischen Diskurs über katholische Kirchenverfassungsmodelle und führte die Pluriformität des deutschen Katholizismus um 1815 vor Augen: Zur Zeit des Wiener Kongresses kursierten zahlreiche gedruckte und ungedruckte Verfassungsentwürfe, vorwiegend aus der Feder von Kanonisten im Umkreis Dalbergs. Die Autoren vereinte eine gemeinsame Ausgangsstellung im Sinn febronianisch-nationalkirchlicher Sympathien und dementsprechend das Bemühen, das Verhältnis zwischen Episkopalrecht und päpstlichem Jurisdiktionsprimat neu auszutarieren. Langfristig sollte sich der Diskurs im seit 1818 erarbeiteten sogenannten ‚Frankfurter Kirchensystem‘ einiger Mittelstaaten niederschlagen.

Die politischen Bevollmächtigten auf dem Kongress hatten an den aus der Perspektive der kirchlichen Repräsentanten überlebenswichtigen Fragen in der Regel nur peripheres Interesse. Die Vertreter der mindermächtigen zukünftigen Bundesfürsten wurden in Kirchenangelegenheiten (wenn überhaupt) meist nur insofern instruiert, als es um landesherrliche Besitzstandswahrung ging. Nur wenige von ihnen nahmen aktiv an der Beratung über ein allgemeines Religionsrecht des Bundes teil (MICHAEL HUNDT, Lübeck). Zwar hatten Preußen und Österreich durchaus Interesse daran, in der Bundesverfassung über eine Paritätsgarantie hinaus auch den Status der katholischen Kirche in toto zu regeln. Nach den hastigen Verhandlungen auf den sogenannten ‚Deutschen Konferenzen‘ scheiterte aber ein entsprechender Kompromissentwurf, der heterogene Rechtstraditionen und gegensätzliche konfessionspolitische Intentionen notdürftig amalgamiert hatte (JOHANNES WISCHMEYER, Mainz). HEINZ DUCHHARDT (Mainz) konstatierte in seinem aus intimer Quellenkenntnis gespeisten Porträt der Kontakte und Aktivitäten des Freiherrn vom Stein während des Kongresses eine Fehlanzeige, was kirchen- und religionspolitische Themen betraf. Gleichzeitig machte er aber mit Verweis auf Steins allgemein ausgeprägtes kirchlich-religiöses Interesse deutlich, inwieweit der Reformer im Rahmen der von Mündlichkeit geprägten Umgebung des Kongresses an entsprechenden Diskussionen partizipiert haben könnte.

Eine übergreifende Perspektive auf die Pluralisierung der Religionsverfassung am Übergang von der Frühen Neuzeit zur Moderne mahnte WERNER BLESSING (Erlangen) an. Er betonte, dass konfessionelle Parität, die in einigen Gemeinwesen bereits zum Rechtsprinzip avanciert war, zu den Ordnungsfiguren zählt, die der Wiener Kongress vorgefunden und dann sanktioniert hat. Am Beispiel Bayerns skizzierte Blessing den Weg von religiöser Toleranz über Parität zur Integration der konfessionellen Minderheiten. Letztere habe man zunächst schlicht als eine Folge der notwendigen Vereinheitlichung des modernen Staatswesens verstanden; der Prozess der gesellschaftlichen Integration habe noch mehrere Generationen in Anspruch genommen.

Anhand einer 1852 vor den Bundesinstitutionen verhandelten Rechtsbeschwerde legte HEINRICH DE WALL (Erlangen) dar, dass das Paritätsprinzip der Bundesakte keineswegs Religionsfreiheit, sondern lediglich Gleichbehandlung in Bezug auf bürgerliche und politische Rechte garantierte. Geschützt war im Zweifelsfall nur die individuelle, private Religionsausübung. Da sich aber im Vormärz die kirchenpolitischen Präferenzen der Bundesstaaten wandelten, fanden bald Auslegungen zumindest Gehör, die auch den Kirchengesellschaften eine bundesrechtliche Privilegierung zugestehen wollten. Nur begrenzten Erfolg hatten die Vertreter der jüdischen Gemeinden damit, angesichts der drohenden Rücknahme der Judenemanzipation vor allem in den freien Städten die Belange der Juden in die Wiener Verhandlungen einzubringen (RENATE PENSSEL, Erlangen). Große Hoffnungen knüpften sich an einen preußischen Entwurf der Bundesakte, der den Schutz der Religionsübung ohne Ansehen der Konfession verhieß. Schließlich wurden den Juden aber nur die bestehenden Rechte garantiert, insofern diese nicht aus der französischen Besatzungszeit stammten – angesichts des ursprünglich Vorgeschlagenen eine enttäuschende Bilanz. Zu der versprochenen detaillierten Regelung auf Bundesebene kam es nie; immerhin ging der Bundestag in den Folgejahren stellenweise jüdischen Beschwerden nach.

Abschließend beleuchteten zwei Vorträge den europäischen religionsgeschichtlichen Kontext des Kongressgeschehens (ein weiterer geplanter Beitrag zur Hl. Allianz musste entfallen): PAUL OBERHOLZER (Rom) schilderte das Schicksal der Jesuitenordens, der während der Zeit seines Verbotes im russischen Gouvernement Weißrussland intakte Strukturen erhalten und ausbauen konnte. Die von Consalvi verantwortete behutsame Rehabilitierung des Ordens – immer gegen den Protest Spaniens – fand zeitgleich mit den Wiener Geschehnissen ihren Abschluss: Seine innerkurialen Gegner erreichten während der Abwesenheit des Kardinalstaatssekretärs die universelle Rehabilitierung des Ordens durch Papst Pius VII. THOMAS WELLER (Mainz) schließlich charakterisierte das in Wien verabschiedete Verbot des Sklavenhandels als eine Zäsur in der Menschenrechtsgeschichte, da hier zum ersten Mal ein humanitäres Anliegen zum universellen Völkerrechtsprinzip erhoben wurde. Er schilderte die intensiven Verhandlungen der britischen Regierung – die sich den Abolitionisten gegenüber zu einem Erfolg verpflichtet wusste – mit dem Hl. Stuhl: Ziel war, den moralischen Druck auf Spanien und Portugal zu erhöhen, die lange Zeit ein Verbot ablehnten. Consalvis kluger Diplomatie gelang es, in der Öffentlichkeit die klare Gegnerschaft der Kurie zum Sklavenhandel zu verbrämen – erst 1839 kam es zu einer offiziellen Verurteilung des Sklavenhandels durch Gregor XVI.

In der abschließenden Diskussion war man einig, dass einzelne Phänomene wie die Wiederherstellung des Kirchenstaates oder die Durchsetzung religiöser Individualrechte im Deutschen Bund tatsächlich Zäsuren in der Geschichte religionsbezogener Politik darstellen. In der Perspektive einer longue durée der Emanzipation von individueller und institutioneller Religiosität stellt der Wiener Kongress dennoch kaum mehr als eine Fußnote dar. Den Akteuren war von vornherein deutlich, dass Konfessionalität (vorerst) kein Schlachtfeld mehr bot; insofern wurde das Ende des Reichskirchensystems und die damit einhergehende endgültige Verlagerung des Religionsverfassungsrechts vom Reich auf die Staaten ganz überwiegend akzeptiert. Während die Bundesverfassung die Erörterung kirchlicher Angelegenheiten durch ein Einstimmigkeitsgebot von vornherein neutralisierte, wurden die aus dem Konstitutionalisierungsgebot resultierende Aufgabe, moderne religionsrechtliche Regelungen zu finden, und die begleitenden Konflikte um die öffentlich-rechtliche Reglementierung der Kirchen zu einer zentralen Herausforderung der Einzelstaaten. Schließlich wurde vorgeschlagen, das Wiener Geschehen auch in religionsgeschichtlicher Hinsicht in die Sequenz moderner internationaler Kongresse einzuordnen: Die klassischen Mechanismen der internationalen Politik wurden ergänzt durch eine atmosphärische Verdichtung, die es auch individuellen religiösen Akteuren erlaubte, Initiative zu zeigen, und die einen Ideentransfer auch über die offiziell verhandelten Themen hinaus begünstigte.

Konferenzübersicht:

Vorgeschichte

Karl Hausberger (Regensburg): Dalbergs Konkordatspläne für das Reich und den Rheinbund

Franz Xaver Bischof (München): "Die Einheit der Nationalkirche schien mir zunächst das Wesentliche, wenn sich das kirchliche Leben unseres Volkes [...] heben soll." Wessenberg auf dem Wiener Kongress

Kongressgeschehen

Roberto Regoli (Rom): Consalvi und die Restitution des Kirchenstaates

Dominik Burkard (Würzburg): Konzeptionen zur Organisation der "deutschen Kirche" im Umfeld des Wiener Kongresses

Johannes Wischmeyer (Mainz): Melange religions- und konfessionspolitischer Interessen: preußisch-österreichische Pläne für eine Bundeskirchenverfassung

Michael Hundt (Lübeck): Die Mindermächtigen und die Kirchenartikel

Heinz Duchhardt (Mainz): Steins "Kirchenpolitik" auf dem Wiener Kongress

Werner K. Blessing (Erlangen): Parität der Konfessionen – modernes Staatsprinzip und gesellschaftliche Herausforderung

Folgen

Heinrich de Wall (Erlangen): Art. XVI WBA – Individualrecht oder Regelung zugunsten der Kirchen?

Renate Penßel (Erlangen): Der Wiener Kongress und der Rechtsstatus der jüdischen Kultusgemeinschaften

Paul Oberholzer (Rom): Pius VII. und die Wiederherstellung der Gesellschaft Jesu

Thomas Weller (Mainz): Die Ächtung der Sklaverei in der Kongressakte und die Reaktionen der Kirchen


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