Unterschiedliche Bilder: Wahrnehmungen Edvard Benešs in tschechischen und europäischen Kontexten

Unterschiedliche Bilder: Wahrnehmungen Edvard Benešs in tschechischen und europäischen Kontexten

Organisatoren
Masaryk-Institut und Archiv der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik, Prag; Collegium Carolinum e.V., Forschungsstelle für die böhmischen Länder, München; mit Unterstützung des Goethe-Instituts in Prag
Ort
Prag
Land
Czech Republic
Vom - Bis
13.10.2011 - 14.10.2011
Url der Konferenzwebsite
Von
Martin Zückert, Collegium Carolinum München

Im Bild von Edvard Beneš treffen zahlreiche Deutungen und Erzählstränge zusammen, die zentralen politischen Einschnitten des 20. Jahrhunderts gelten: Sein Name fällt nicht nur, wenn die staatliche Neugestaltung Europas nach dem Ersten Weltkrieg oder die Ereignisse und Folgen der „Septemberkrise“ 1938 diskutiert werden. Seit 1989 wird er in zunehmendem Maße auch mit den Zwangsmigrationen in und aus der Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg sowie der kommunistischen Machtübernahme in Prag im Februar 1948 assoziiert. Eine gemeinsam vom Masaryk-Institut und Archiv der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik (Prag) und dem Collegium Carolinum (München) organisierte Konferenz zielte darauf, die bestehenden Bilder und Wahrnehmungen von Edvard Beneš darzustellen und vergleichend zu analysieren. Die Tagung, die vom 13.-14. Oktober 2011 in den Räumen des Goethe-Instituts in Prag stattfand, setzte sich dabei bewusst das Ziel, das Thema über einen tschechischen bzw. tschechisch-deutschen Kontext hinaus in größere internationale Zusammenhänge einzuordnen.

In seinem einführenden Vortrag zeichnete MARTIN SCHULZE WESSEL (München) die Kontextabhängigkeit der Wahrnehmungen von Edvard Beneš nach. Während Benešs enger Mitarbeiter Jaromír Smutný während des Zweiten Weltkriegs zwar auf dessen Aktivitäten verwies, für die tschechische Nation aber zugleich das Fehlen einer charismatischen Persönlichkeit konstatierte, zeichnete das tschechische Parlament den zweiten tschechoslowakischen Präsidenten im Jahr 2005 für seine Verdienste aus. Die vor allem nach 1989 einsetzende Fokussierung auf die Präsidentendekrete der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit habe wiederum dazu geführt, dass in Deutschland in Artikeln und wissenschaftlichen Aufsätzen das Bild des „Vertreiberpräsidenten“ ins Zentrum gerückt sei, während die Beneš-Monografie des tschechischen Historikers Jindřich Dejmek diesem Thema nur eine untergeordnete Rolle zumesse. Mit Blick auf diese auseinanderstrebenden Deutungen plädierte Schulze Wessel für eine Annäherung der Perspektiven, die auch durch laufende Projekte der die Tagung veranstaltenden Institute befördert werden könne.

Das anschließende Tagungspanel widmete sich der Reflexion des Beneš-Bildes in der zeitgenössischen Politik. Zunächst verwies MANFRED ALEXANDER (Köln) in seinem Beitrag zur Wahrnehmung der tschechoslowakischen Außenpolitik durch deutsche Diplomaten darauf, dass es nach 1918 in Deutschland eine sehr begrenzte Perzeption der tschechoslowakischen Verhältnisse gegeben habe, was sich auch in der Wahrnehmung des tschechoslowakischen Außenministers widerspiegelte. MIROSLAV ŠEPTÁK (Prag) untersuchte im Anschluss anhand diplomatischer Quellen, wie Beneš in den 1930er-Jahren in Österreich wahrgenommen wurde. Dabei wurde deutlich, wie sehr er sich bemühte, sowohl auf die Medien seines Landes als auch auf die innenpolitische Entwicklung des südlichen Nachbarlandes einzuwirken. VÍT SMETANA (Prag) behandelte schließlich, wie die britische und amerikanische Politik in der Zeit von 1938 bis 1948 das Agieren von Beneš einordnete und ihn gerade britische Politiker zu Beginn des Zweiten Weltkriegs als „Man of the Past“, aber mangels Alternative als unvermeidbaren Ansprechpartner ansahen.

Die folgenden Beiträge zielten dann verstärkt auf das Beneš-Bild einzelner Parteien oder Gruppierungen. MARK CORNWALL (Southampton) wartete in seinem Beitrag zur Beneš-Deutung in der Henlein-Bewegung zunächst mit dem interessanten Detail auf, dass sich Konrad Henlein und Edvard Beneš offensichtlich nie direkt begegnet sind. Bemerkenswert waren zudem Cornwalls Ausführungen zu Stellungnahmen von Vertretern der Sudetendeutschen Partei in den 1930er-Jahren, die den tschechoslowakischen Außenminister und seit 1935 Staatspräsidenten nur selten direkt attackierten, aber immer wieder auf seine wissenschaftliche Ausbildung Bezug nahmen. DETLEF BRANDES (Berlin) legte im Anschluss dar, wie sich das Beneš-Bild in der sudetendeutschen Sozialdemokratie, analog zu den sich ausbildenden Flügeln im Exil, nach 1938 differenzierte.

Im „Protektorat Böhmen und Mähren“ bestanden, wie RENÉ KÜPPER (München) in seinem Beitrag ausführte, zwei Wahrnehmungen von Edvard Beneš nebeneinander. Während politische Gegner aus der Zeit vor 1938 nach dem Münchener Abkommen alte Rechnungen aufmachten, die nach Benešs Gang ins Exil um Vorwürfe der Feigheit und Geldmanipulation erweitert wurden, beförderte die illegale Presse des tschechischen Widerstands ein positives Bild. Die Zeitschrift „V boj“ nannte ihn bereits 1940 „unseren einzigen Führer“. Für die Zeit nach der Wiedererrichtung der Tschechoslowakei konnte MICHAL PEHR (Prag) dann zeigen, wie sehr Edvard Beneš zum Hoffnungsträger stilisiert wurde, der neben der Rolle des „guten Herrschers“ auch für die Kontinuitäten des tschechoslowakischen Staates stehen sollte. Sein tatsächlicher politischer Anteil an der Entwicklung nach 1945 wich dabei immer mehr von dem von ihm propagierten Bild ab.

In den beiden letzten Beiträgen des ersten Konferenztages wurde dann die Reflexion über Edvard Beneš nach 1989 thematisiert. MIROSLAV KUNŠTÁT (Prag) hob für den tschechischen politischen Diskurs hervor, dass hinter der „lex Beneš“, dem vom tschechischen Parlament verabschiedeten Gesetz über dessen Verdienste ein Minimalkonsens der politischen Parteien gestanden habe, dem wiederum eine selektive Wahrnehmung des Politikers zu Grunde liege. Danach stellte TOBIAS WEGER (Oldenburg) die „Dämonisierung“ des ehemaligen tschechoslowakischen Staatspräsidenten im sudetendeutschen Diskurs nach 1989 dar. Weger ordnete diesen Diskurs allerdings nicht in einem größeren deutschen oder europäischen Kontext ein. Wie die Schärfe der Äußerungen gegen Beneš von Vertretern der Sudetendeutschen letztlich zu erklären ist, blieb deswegen unklar.

Am zweiten Konferenztrag stand die Repräsentation von Edvard Beneš in Wissenschaft, Medien und öffentlichem Raum sowie Diskussionen über ihn in Erinnerungen im Zentrum. VÍTĚSLAV SOMMER (Prag) und ADAM HUDEK (Bratislava) analysierten in ihren Beiträgen das Bild von Edvard Beneš in der tschechischen bzw. slowakischen Geschichtsschreibung nach 1948. Beide Referate verdeutlichten, wie Beneš zu einem gewissen Grade auch zur Projektionsfläche für Fragen der Gegenwart wurde, etwa im Zusammenhang mit der Bewertung des tschechoslowakischen Staatsentwurfs. K. ERIK FRANZEN (München) bot dann in seinem Vortrag einen Einblick in die längerfristige Entwicklung der Beneš-Wahrnehmung bei den Sudetendeutschen und damit eine wichtige Ergänzung zum Referat von Tobias Weger. Demnach kam Beneš über lange Jahre nur eine begrenzte Wahrnehmung zu, da einerseits aktuell wirkende politische Akteure der kommunistischen Tschechoslowakei als Angriffsfläche wichtiger waren, andererseits die Fokussierung auf eine territoriale Änderung im Interesse der „Volksgruppe“ vor 1989 in der Argumentation größeres Gewicht hatte als die erst in den letzten zwanzig Jahren zugenommene Bewertung der Vertriebenen als Opfergruppe.

Anschließend sprach PETR BEDNAŘÍK (Prag) über das Beneš-Bild im tschechoslowakischen Spielfilm. In zahlreichen Filmen wurde er der Figur von Klement Gottwald gegenübergestellt und in erster Linie als zögerlicher Vertreter einer untergehenden bürgerlichen Welt präsentiert. Der Frage der Initiierung von Umbenennungskampagnen zum Zwecke der „Sprachreinheit“ nach 1945 widmete sich JAN KOBER (Prag). Hier blieb allerdings offen, inwieweit die von Beneš in Reden anvisierte Kampagne von ihm weiterverfolgt wurde und inwieweit ihre Aktivisten in ihrem Handeln bestrebt waren, Beneš „entgegenzuarbeiten“. MAREK ŠMÍD (České Budějovice) führte dann mit seinem Beitrag über das Beneš-Bild in den Akten des Heiligen Stuhls noch einmal zurück in die unmittelbare realpolitische Sphäre von Benešs Handeln. Sein kenntnisreicher Einblick verdeutlichte, welche Rolle der tschechische und slowakische politische Katholizismus bei der Beneš-Rezeption in Rom spielte.

MILAN HAUNER (Wisconsin) eröffnete dann mit einem Blick in die Beneš-Memoiren das letzte Panel zum Thema Beneš in den Erinnerungen und Memoiren. Er verwies dabei auf die grundlegende Funktion von Politikermemoiren als Versuch, das eigene Handeln zu rechtfertigen. Es folgte das Referat von HILDEGARD SCHMOLLER (Wien), die das Beneš-Bild in Bezug zum sich wandelnden Diskurs über „München 1938“ setzte. RICHARD VAŠEK und JOSEF TOMEŠ (beide Prag) boten dann einen konzisen Einblick in eine große Bandbreite von Erinnerungen, in denen sich Zeitgenossen mit Edvard Beneš auseinandergesetzt haben. PAVEL HORÁK (Prag) skizzierte abschließend, wie tschechische Exilpolitiker um 1950 die Rolle des Staatspräsidenten im Februar 1948 interpretierten.

Die Konferenz bot durch die Vielzahl der Beiträge einen umfassenden Einblick in Beneš-Wahrnehmungen und -Deutungen. In mehreren Vorträgen wurde aber auch deutlich, wie schwer es methodisch sein kann, realhistorische Entwicklungen von der Wahrnehmungsgeschichte zu trennen. In den Diskussionen zeigte sich auch, wie sehr die Person Edvard Beneš in den Wechselfällen der deutsch-tschechischen Beziehungsgeschichte zu einer Projektionsfläche geworden ist, wobei die „Beneš-Dekrete“ die Funktion als „deutsch-tschechischer Erinnerungsort“ (Miroslav Kunštát) letztlich erst in der Zeit nach 1989 eingenommen haben. Eine besondere Stärke der Konferenz war es aber gerade, den Blick auf die Beneš-Rezeption über den tschechischen bzw. deutsch-tschechischen Kontext hinaus zu richten. Neben einigen Tagungsbeiträgen, die zu dieser Perspektivenerweiterung beigetragen haben, wurde auch mehrfach angemahnt, einen polnischen oder russischen, aber auch einen französischen Blickwinkel zu berücksichtigen. Gefehlt hat zudem der Blick auf Benešs Wirken vor der tschechoslowakischen Staatsgründung, der das Beneš-Bild seiner Zeitgenossen erheblich mitbestimmt haben dürfte. Hier liegt vielleicht auch ein Schlüssel für die vertiefende Beschäftigung mit dem ersten tschechoslowakischen Außenminister. So wäre zu klären, welchen Stellenwert Benešs Tätigkeit als Soziologe in der Vorkriegszeit für sein späteres Handeln wie auch für die Wahrnehmung durch andere hatte. Darauf aufbauend könnte ein gewinnbringender Ansatz für die Zukunft sein, nach Politikerbildern der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zu fragen, als in einer Übergangsphase Staatsmänner demokratischer Staaten monarchische Repräsentation zu kompensieren hatten, wenige Jahre später aber dem Typus des autoritären Herrschers gegenüberstanden. Das Bild von Edvard Beneš als Demokrat und Staatsmann müsste in ein so zu konturierendes Feld eingeordnet werden.

Konferenzübersicht:

Eröffnungsvortrag:
Martin Schulze Wessel: Die Konstruktion des Politikers in der medialen Öffentlichkeit. Überlegungen zum Bild von Edvard Beneš

Sektion I: Das Bild von Edvard Beneš in der politischen Reflexion

Manfred Alexander: Edvard Beneš und die Außenpolitik der Tschechoslowakei (1918-1933) in der Wahrnehmung der deutschen Diplomaten

Miroslav Šepták: Edvard Benešs Bild im Licht der österreichischen diplomatischen Quellen in den 1930er Jahren

Vít Smetana: British and U.S. Perceptions of Edvard Beneš in the last 10 years of his life

Mark Cornwall: Edvard Beneš in the Eyes of the Henlein Movement

Detlef Brandes: Wandel und Differenzierung des Beneš-Bildes bei den sudetendeutschen Sozialdemokraten in der Heimat und im Exil 1935-1945

René Küpper: Führer des nationalen Widerstandes und ‚Volksfeind Nr. 1‘: inoffizielle und offizielle Bilder Edvard Benešs im Protektorat Böhmen und Mähren

Michal Pehr: Edvard Beneš und die Dritte Republik. Das Bild von Edvard Beneš in der tschechoslowakischen Nachkriegsgesellschaft 1945-1948

Miroslav Kunštát: Edvard Beneš im tschechischen politischen Diskurs nach 1989

Tobias Weger: Der ‚Liquidator‘ und seine ‚Dekrete‘: Die Dämonisierung des tschechoslowakischen Staatspräsidenten Edvard Beneš im sudetendeutschen Diskurs nach 1989

László Szarka: Difficulties surrounding an Ethnocentric Understanding of Central European History: Problems evaluating Edvard Beneš's Hungarian Policy

Sektion II: Die Repräsentation von Edvard Beneš in der Wissenschaft, Medien und in dem öffentlichen Raum

Vítěslav Sommer: Edvard Beneš in Party Historiographical Writing in the 1950s and 1960s

Adam Hudek: Perception of Edvard Beneš in Slovak Marxist and Nationalist Narrative

K. Erik Franzen: Edvard Beneš im Fokus der sudetendeutschen Publizistik in der langen Nachkriegszeit

Petr Bednařík: Das Bild Edvard Benešs im tschechoslowakischen Spielfilm und in den Fernsehserien in den 1970er- und 1980er-Jahren

Jan Kober: „Following the Command of the President of the Republic“: Czechoslovak Renaming Campaigns and the Image of Edvard Beneš as their Originator

Ivan Šedivý: Edvard Beneš in the Czech Public Space after 1989

Sektion III: Edvard Beneš in den Erinnerungen und Memoiren

Milan Hauner: Die Funktion der Beneš-Memoiren: Der Politiker als Memoirist

Hildegard Schmoller: Edvard Beneš durch die Münchner Brille

Richard Vašek – Josef Tomeš: The Image of Edvard Beneš in the Unpublished Memoirs of Czech Politicians

Pavel Horák: Prague Coup d'État in the Discussions of the Czech Exile-Politicians (recorded in London 1949-1950)


Redaktion
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