The Meaning of Historicism for our Time

The Meaning of Historicism for our Time

Organisatoren
Herman Paul, Universität Groningen
Ort
Groningen
Land
Netherlands
Vom - Bis
17.12.2009 - 18.12.2009
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Von
Jeroen Schreurs, Universität Groningen

Die durch Herder, Ranke und Humboldt initiierte umfassende Historisierung aller Aspekte der menschlichen Existenz, die in das Denken des 19. Jahrhunderts Eingang gefunden hatte, stieß für lange Zeit auf wenig Widerstand. Erst mit dem Aufkommen des Neu-Kantianismus sollte sich dies ändern und dessen Postulat unveränderlicher Normen und Werte sollte eine „Krise des Historismus“ einläuten, die die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts maßgeblich bestimmten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Kritik am Historismus noch heftiger und wurde oftmals eine Verbindung zwischen dem in Deutschland eingeleiteten historistischen Projekt und den Schrecken des Nationalsozialismus suggeriert – eine Assoziation, die bis heute nicht ganz überwunden scheint.

Was ist noch übriggeblieben vom Historismus und was ist seine Bedeutung heute? Diese Frage stand im Mittelpunkt des Kongresses, der am 17. und 18. Dezember letzten Jahres zum Thema „The Meaning of Historicism for our Time” stattfand. Was auffiel war, dass die erwähnten negativen Qualifikationen des Historismus kaum noch eine Rolle zu spielen schienen. Über seinen Ursprung im 18. Jahrhundert, seine Blüte im 19. Jahrhundert und seine darauffolgende Krise wurde die Frage nach der Relevanz des Historismus für die heutige Zeit erörtert – gerade auch im Hinblick auf die beeindruckende Tradition.

Ein Konsens über eine allgemeine Begriffsdefinition schien auszubleiben. Während JÖRN RÜSEN (Essen) den Historismus als eine spezifische Manifestation historischen Denkens vorstellte, das in besonderer Weise mit den Geistes- und Menschwissenschaften verbunden sei, konzentrierte PETER VOGT (Boston Consulting Group) sich auf die historistische Idee der Unmöglichkeit eines Entkommens vor der Geschichte. Historismus, so demonstrierte Vogt am Beispiel des Werkes von Reinhart Koselleck, Robert Musil, Hermann Lübbe und Rüdiger Bubner, kennzeichne sich durch das Bewusstsein einer Kontingenz, die weder durch menschliches Handeln noch durch Intention eingedämmt werden könne.

STEPHEN BANN (Bristol) beleuchtete den Historismus im Kontext der Romantik und der bildenden Künste und unterschied dabei zwischen einem ‚kondensierenden‘, metaphorischen und einem displacing, metonymischen Historismus. Bei seiner Analyse zweier Künstler aus der Troubadour-Strömung des frühen 19. Jahrhunderts zeigte Bann, dass die erste Form, das Kondensieren, vor allem durch Überraschung und direktes „Offenbarwerden“ versuche, einen Realitätseffekt zu erzielen, während die zweite Form das displacing dabei vor allem nach einer breitestmöglichen Sammlung authentischer Elemente suche. Diese Unterscheidung stelle, so Bann, zwei zentrale Aspekte des Historismus dar.

Das Klischee, dass sich nach einem Kongress ebenso viele Meinungen wie Teilnehmer finden, bewahrheitete sich auch in Groningen. Viele der verschiedenen Interpretationen ließen sich nicht zu einem allgemeinen Konsens vereinigen. Nichtsdestoweniger schien zumindest eine Schlussfolgerung allgemein geteilt zu werden, nämlich die, dass von einem Tod des Historismus keine Rede sein könne. So betonte Rüsen, dass der Historismus, wenn vielleicht auch schlummernd, weiterhin bestehen bleiben werde, da alle seine nicht-humanistischen Nachfolger gescheitert seien. Als Beispiel zweier solcher Strömungen führte er den Postkolonialismus und den Postmodernismus an. Wo ersterer die ideologische Basis der etablierten historischen Disziplin offenlegte, nahm letzterer Abschied von aller Methodik und Rationalität auf dem Gebiet der Geschichte. Beide Alternativen verkennen dabei wichtige Komponenten des Historismus. Während der Postkolonialismus den westlichen für einen anti-westlichen Ethnozentrismus eintausche, habe der Postmodernismus die Beziehung zur Erfahrung zerbrochen. Gerade in einer globalisierenden Welt könnten die auf das Einmalige und Diverse gerichtete Elemente des Historismus ein Leitfaden sein. Rüsen betonte so die seines Erachtens wichtige Rolle eines humanistisch inspirierten Historismus und formulierte dies in einem ‚Historischen Kategorischen Imperativ‘:„Think history in such a way that the whole variety and difference of human life-forms and their temporal change can be understood as a comprehensive temporal process of humanity.”

FRANK ANKERSMIT (Groningen) verteidigte die These, der Historismus stelle den Beginn der Geschichtsphilosophie allgemein dar – die historistische Ideenlehre von Ranke und Humboldt sei deren eigentlicher Startpunkt. Damit positionierte Ankersmit sich entschieden gegenüber Rüsens ‚Kategorischem Imperativ’: alle Werte, auch die der Historiker, seien zeitlich gebunden. Neukantianische Ausgangspunkte seien seit Heideggers ontologischer Wendung unhaltbar geworden. Aber da Heidegger sich vor allem auf das Individuum richtete, habe „das Historische“ im Laufe des 20. Jahrhunderts an Bedeutung verloren, eine Entwicklung, der Ankersmit die Forderung einer „Rückkehr des Historischen“ entgegenstellte. Die Frage sei nun, wo das historische Forschungsobjekt bleibe, wenn sich alles ändere – jede Veränderung sei schließlich angewiesen auf eine Konstante. Laut Ankersmit könne die „historische Idee“ als das wichtigste Konzept in der Geschichtsschreibung dieses Problem lösen. Diese „historische Idee“ situierte Ankersmit nun ganz in der Sprache. Anstatt sie als eine Herdersche Entelechie zu sehen, die in der Vergangenheit gefunden wird, postulierte er die historische Idee als diejenige Instanz, die ein Geschichtsnarrativ strukturiere.

Andere Referenten, die eine Deutung des Historismus vornahmen, gingen dabei nicht auf die Geschichtsphilosophie an sich ein, sondern untersuchten fruchtbare Verbindungen, die der Historismus mit anderen, nicht spezifisch historischen Disziplinen einging. So spielte der Historismus laut JAAP DEN HOLLANDER (Groningen) auch im Systemdenken Niklas Luhmanns eine entscheidende Rolle. Die Prinzipien des Historismus erhellen die Systemtheorie, während die Systemtheorie gleichzeitig von einer vom Historismus ausgehenden Interpretation profitieren könne. Den Hollander sah Meineckes historische Individualitäten als vergleichbar mit Luhmanns autopoietischen Systemen, wobei Historiker als ‚Beobachter zweiter Ordnung‘ auftreten.

Auch MARTIN JAY (Berkeley) wies auf eine fruchtbare Verbindung des Historismus mit Strömungen außerhalb der direkt historischen Disziplinen und stellte die Frage, was die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Ideen über „das Ereignis“ („the event“) bei den Historisten und der überwiegend französischen Post-68er Generation von Lyotard, Deleuze und Foucault seien. Erst nach 1968 war das einmalige Ereignis, wofür die Strukturalisten kein Auge gehabt hatten, wieder von Bedeutung.

Jay sah in der erneuten Wertschätzung des Ereignisses eine Möglichkeit, den Gebrauch der Erzählung zu verstärken, warnte aber davor, dass eine zu starke Betonung des Ereignisses gerade aber auch zu der Folgerung führen könne, dass dieses weder einer Struktur, noch einer Geschichte zugeordnet werden kann. Die erzählte Geschichte und damit die Geschichtsschreibung könne damit an Wert verlieren. So sehe Lyotard das Ereignis als ultimative Freiheit. Jedes Unterordnen des Ereignisses unter eine Geschichte mache diese Freiheit zunichte.

Worüber durchaus ein Konsens gefunden wurde, war die Feststellung einer „Krise des Historismus“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – eine Krise, die die negative Wertschätzung des Historismus vor noch vor kurzem mitbestimmen sollte. Neue Erkenntnisse über diese Krisenerscheinung scheinen jedoch in der letzten Zeit maßgeblich zu einer Bewertung des Historismus selber beigetragen zu haben. HERMAN PAUL (Leiden) beleuchtete die Art und Weise, wie in den Niederlanden religiöse Strömungen durch die Krise des Historismus beeinflusst wurden und wie sie umgekehrt dazu beitrugen. Paul untersuchte, wie Karel Hendrik Roessingh, theologisch ein Modernist, Herman Dooyeweerd, ein Neo-Calvinist, und die niederländischen Neo-Thomisten zur Krise des Historismus standen. Er machte deutlich, dass diese Krise auf verschiedene Weisen bewältigt wurde und dass sie nicht als eine geschlossene Diskussion, sondern als ein Komplex aus verschiedenen Diskussionen und Lösungen zu sehen sei.

Auch REINBERT KROL (Groningen) ging auf eine religiöse Komponente der Krise des Historismus ein. Er koppelte Friedrich Meineckes Ideen über das Handeln eines Staatsmannes an das Konzept des Panentheismus. Anders als allgemein angenommen, so Krol, trachte Meinecke in Die Idee der Staatsräson nach einer Harmonie zwischen ‚Ethos‘, dem auf moralische Verantwortlichkeit gerichteten Handeln, und ‚Kratos‘, dem auf Macht gerichteten Handeln. Obwohl die beiden Handlungsweisen im Allgemeinen miteinander im Konflikt stünden, sehe Meinecke die Staatsräson, die letztendlich die höchste Instanz darstelle, als etwas ethisch Gutes. Laut Krol seien die Gegenpole vereint in Meineckes panentheistischen Auffassungen: alles ist aus Gott oder dem ‚Einen‘ emaniert und manifestiert sich in einer Vielzahl an Individualitäten. Diese streben wieder zurück zu Gott und werden dort letztlich aufgehoben. Im Hinblick auf die Ethik gelte dasselbe: das Absolute oder das ‚göttliche moralische Gesetz‘ ist emaniert im individuellen Gewissen. Im Fall der Staatsräson gehe es dann um das Gewissen des Politikers. Durch die Aufhebung werde das Problem der Werterelativismus, und damit das Krisenmoment, aufgelöst.

DANIEL FULDA (Köln) betrachtete den Historismus sowohl als historische Methode als auch als weltbildbestimmende Kraft. In letzterer Gestalt könne der Historismus auch dem gegenwärtigen Leben Form verleihen, worin dann auch sein starker praktischer Wert liege. Fulda richtete sich in seinem Beitrag auf fundamentale Spannungen im Historismus. Diese Spannungen seien jedoch gerade maßgeblich für dessen Erfolg. Das Reibungsmoment, so Fulda, bestehe aus der illustrativen Deutlichkeit des individuellen Momentes und dem prozessualen Ganzen der Vergangenheit. Wo Heinz und Hannelore Schlaffer diese Spannung in den 1960er-Jahren als konservativ sahen und sie damit negativ bewerteten, sah Fulda darin, und in anderen Spannungsfeldern des Historismus, gerade dessen Kraft. Er schilderte dies, indem er den Historismus als ein kulturelles Muster deutete, als eine Verbindung von Gebräuchen und Konzepten, die einen unter den Problemen eines jeden Zeitalters sich selbst bleibenden, aber sich auch kontinuierlich ändernden Charakter tragen. Gerade über ein solches kulturelles Muster kann über Probleme gesprochen werden und erneuernd aufgetreten werden. Die Zukunft des ‚kulturellen Musters Historismus‘ liegt laut Fulda in unserer Zeit dann auch in der scheinbaren Ablösung der alten Schreibmedien durch die neuen Bildmedien.

Ob der Historismus tatsächlich an den neuen Medien untergehen wird, wird sich zeigen müssen. Aber dass das Schiff noch lange nicht gesunken ist, steht fest.

Konferenzübersicht:

Keynote lecture: Jörn Rüsen (KWI Essen): The Future of Historicism

Theme: Birth (1800)

Peter Vogt (BCG): Why we can not make History. Some Remarks on a lesson from Early Modern Historicism
Stephen Bann (University of Bristol): Two Concepts of Historicism: Around the 'Troubadour' Paintings of Fleury Richard and Pierre Revoil
Daniel Fulda (University of Cologne): Historicism as a Cultural Pattern. Origin and Persistence

Theme: Crisis (1900)

Herman Paul (University of Groningen): Religion and the Crisis of Historicism: Protestant and Catholic Perspectives
Reinbert Krol (University of Groningen): Friedrich Meinecke: Panentheism and the Crisis of Historicism
Fulvio Tessitore (University of Naples): From the Crisis of Historicism to New Historicism

Theme: Challenge (2000)

Otto Gerhard Oexle (Max Planck Institut, Göttingen): Historismus: eine europäische Problemgeschichte
Jaap den Hollander (University of Groningen): Beyond Historicism: from Leibniz to Luhmann
Frank Ankersmit (University of Groningen): The Challenge of Historicism for our Time


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