Konsum als Indikator politischer Kommunikation, 17. - 20. Jahrhundert

Konsum als Indikator politischer Kommunikation, 17. - 20. Jahrhundert

Organisatoren
Sonderforschungsbereich „Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte“, Universität Bielefeld
Ort
Bielefeld
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.11.2009 - 21.11.2009
Url der Konferenzwebsite
Von
Stefan Scholl, Bielefeld Graduate School in History and Sociology

Die historische Konsumforschung hat sich ausführlich mit den sozioökonomischen Entstehungsbedingungen der „Konsumgesellschaft“, ihren institutionellen Organisationsformen sowie einzelnen Konsumgütern beschäftigt. Im Vergleich dazu wurden die politischen Implikationen der Kommunikation über Konsum konzeptuell eher vernachlässigt. Die Betrachtung des Verhältnisses von Konsum und Politik war weitgehend von einer dichotomischen Ausgangsperspektive geprägt, die sich vor allem auf die staatliche Regelung eines an sich „unpolitischen“ Konsums konzentrierte. In jüngerer Zeit ist die Untersuchung von Abgrenzungen, Verflechtungen und wechselseitigen Abhängigkeiten von Konsum und Politik jedoch zu einem zentralen Gegenstand der internationalen Konsumforschung avanciert, denn, wie Martin Daunton und Matthew Hilton in der Einleitung zu einem von ihnen herausgegebenen Sammelband formulieren: „of course, consumption has never existed outside of politics.“1

Die im Rahmen des Bielefelder Sonderforschungsbereichs „Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte“ (SFB 584) stattfindende Tagung hatte zum Ziel, den konstruktivistischen Politikbegriff des SFB 584 für die Untersuchung der Kommunikation über und durch Konsum fruchtbar zu machen. Wie KIRSTEN BÖNKER (Bielefeld) und VERA SIMON (Bielefeld) in ihren einleitenden Bemerkungen ausführten, könnten Repräsentationen des Konsums und des Konsumenten in Selbst- und Fremdwahrnehmung, Strategien der Politisierung und Depolitisierung von Konsumfragen; sowie Mechanismen der In- und Exklusion von Akteuren oder Themen als Teil politischer Kommunikation betrachtet werden, da sie Breitenwirksamkeit, Nachhaltigkeit und Verbindlichkeit beanspruchen oder zuerkannt erhalten, Regeln des Zusammenlebens, Machtverhältnisse oder Grenzen des Sag- und Machbaren thematisieren sowie auf vorgestellte überindividuelle Einheiten Bezug nehmen.

Die auf diese Themenkomplexe bezogenen Fragen richteten sich an die aktorialen, institutionellen, diskursiven und medialen Konstellationen, in denen Konsum als Problem in den politischen Kommunikationsraum ein- bzw. austritt. Für die historische Einordnung der legitimierenden bzw. Herrschaft stabilisierenden Funktion von Konsum sei außerdem eine vergleichende, das heißt, Epochen- und Systemgrenzen übergreifende Perspektive einzunehmen.

Die erste Sektion beschäftigte sich mit den identitätsstiftenden Effekten der Be- und Zuschreibung von Konsumpraktiken. Ausgehend von der Überlegung, dass Texte über „das Fremde“ immer auch Aussagen über Sitten und Gebräuche der Herkunftsländer der Autoren implizieren, unterstrich THOMAS RIECHMANN (Bielefeld) den Wert frühneuzeitlicher Reiseberichte und Reiseliteratur als Quellen der Konsumforschung. So entfalteten sich in den Reiseberichten mehrerer französischer Autoren feststellbare „Diskussionsketten“, in denen die überkommenen Grenzlinien zwischen dem „Notwendigen“ und dem „Überflüssigen“ aktualisiert wurden. Für die Zielregion Amerika wurde beispielsweise dargestellt, wie die „Wilden“ als „stumme Zeugen“ benutzt wurden, um die „überflüssigen“ Konsumgewohnheiten der europäischen Gesellschaften anzuprangern. Dabei verknüpfte sich die Kategorie des „Notwendigen“ mit der des „Natürlichen“ und (besonders im 18. Jahrhundert) des „Vernünftigen“. In manchen Fällen avancierten die „indianischen“ Gesellschaften gar zu einer utopischen Vorlage für die Umgestaltung der französischen Gesellschaft hin zu einer gerechteren Ordnung. Insgesamt stellten die neuen Erfahrungshorizonte im Bereich des Konsums, so das Fazit, die Autoren der Reiseberichte vor das Problem einer (Neu-)Bestimmung des „Notwendigen“, das als erweiterbares oder reduzierbares „Mögliches“ denkbar wurde.

OLIVER KÜHSCHELM (Wien) befasste sich mit massenmedialer nationalisierender Produktkommunikation in Österreich. Ausgehend von Beispielen aus der Automobil- und der Nahrungsmittelindustrie erfasste er Strategien der diskursiven Nationalisierung im Hinblick auf die Frage, ob nationalisierende Marken lediglich an existierende nationale Mythen andocken oder auf welche Weise sie darüber hinaus an der Konstruktion von „Nation“ beteiligt sind. Die Nation, so der Grundtenor der Argumentation, sei gerade in den verdinglichten Konsumgütern und die sich darum spannende Kommunikation im „banalen Alltag“ greifbar, erfahrbar und wirkmächtig geworden. So verdeutlichte Kühschelm anhand des an den Volkswagen angelehnten „Steyr Typ 50“ exemplarisch das Bemühen, das Produkt in ein Gefüge von Österreich-Symbolen zu integrieren, entsprechend den Leitlinien der austrofaschistischen Identitätspolitik der 1930er-Jahre. Auch das Ende der 1950er-Jahre neu auf dem Markt erscheinende Modell des „Steyr Puch 500“ schrieb sich in typische nationale Attribute ein, wie etwa bei der Betonung der „Bergfreudigkeit“ des Autos. Zugleich ließ sich aber eine appellative Austrifizierung des Konsums feststellen, wenn dazu aufgefordert wurde, sich bei der Wahl zwischen österreichischen und ausländischen Produkten der eigenen Staatsbürgerschaft zu erinnern.

In seinem Kommentar unterstrich NEITHARD BULST (Bielefeld) die Bedeutung von Kommunikation für das Thema Konsum, deren Kern gerade die Diskussion über die zulässigen Grenzen des Konsums jenseits reiner Subsistenz ausmache. Zudem erhalte Konsum politische Brisanz vor allem durch den Vergleich mit dem lokal oder zeitlich „Anderen“. Der Vergleich fände immer in herrschenden Wertesystemen statt, wobei sich feststellen ließe, dass die Einordnungskategorien (zum Beispiel „notwendig-überflüssig“, „Grundbedürfnis-Luxus“, „vernünftig-unvernünftig“) eine starke Kontinuität seit der Vormoderne aufwiesen. Die konkreten Grenzziehungen würden jedoch in historischen Konstellationen immer wieder neu verhandelt.

Die zweite Sektion untersuchte das stabilisierende beziehungsweise subversive Potenzial von Konsum für politische Systeme. HARTMUT BERGHOFF (Washington) analysierte, wie der Nationalsozialismus rhetorisch und steuerungstechnisch auf die Herausforderungen des Konsums reagierte. Die Nationalsozialisten vertraten das ideologische Konzept einer „völkischen“, das heißt rassistisch aufgeladenen, modernen Konsumgesellschaft. Die allgemeine Hebung des Lebensstandards durch moderne Konsumgüter wurde rhetorisch durchaus begrüßt, allerdings unter Exklusion und ermöglicht durch Ausbeutung anderer „Rassen“. Mit der Zentrierung auf die „Volksgemeinschaft“ konnten außerdem die „Missstände“ der „dekadenten“ liberalen Konsumgesellschaft angeprangert werden. Die konsumpolitischen Maßnahmen der nationalsozialistischen Regierung schlossen an die ideologische Programmatik an, blieben aber ambivalent. Während Außenhandelskontrollen und die Lenkung von Ressourcen in die Rüstungsindustrie das Angebot an Konsumgütern verknappte, wurde gleichzeitig durch Preiskontrollen und Steuerpolitik versucht, besonders symbolische Güter zugänglich zu halten. Zudem wurde an den „politischen Konsumenten“ appelliert: persönlicher Komfort sollte hinter politischen Zielen zurückstecken, zum Kauf einheimischer Produkte wurde nachdrücklich angeregt. Im Resultat erlebten die Konsumenten im Nationalsozialismus Verlockung und Mangel zur gleichen Zeit. Das Versprechen eines breiten Konsums in Form von Auslandsreisen und Automobilen für alle blieb virtuell, Güter des alltäglichen Bedarfs knapp.

Von der legitimierenden und herrschaftsstabilisierenden Funktion des Konsums ging auch ISABELLE DE KEGHEL (Konstanz) für die Sowjetunion und die DDR von 1953 bis 1964 aus, insbesondere in der Systemkonkurrenz zum Westen. Sie untersuchte die visuellen Inszenierungsstrategien von Konsum in zwei massenwirksamen Illustrierten. Während in beiden Ländern offensichtliche Phänomene der Mangelgesellschaft einem Bildverbot unterlagen, konnte vor allem die „Neue Berliner Illustrierte“ in weitaus stärkerem Maße als der russische „Ogonek“ Defizite im Konsumbereich thematisieren. Bisweilen subtil, beispielsweise durch das Hineinzeichnen fehlender Ware in das Foto eines Verkaufsraums, zum Teil durch das offene Abdrucken von Beschwerden über Qualitätsmängel, kritisierte die Illustrierte verschiedene Mängel in der Versorgung mit Gebrauchsgütern. Ob die beobachteten Visualisierungsstrategien systemstabilisierend oder subversiv wirkten, ließe sich, so de Keghel, nicht eindeutig sagen. Denn zum einen dürfte das Aufzeigen von Defiziten die Glaubwürdigkeit der staatlich kontrollierten Medien gestärkt haben, zum anderen fungierte die kritische Berichterstattung als Ventil zum Abbau von Unzufriedenheit.

STEPHAN MERL (Bielefeld) wies in seinem Kommentar auf die Möglichkeiten und Grenzen eines Diktaturenvergleichs im Hinblick auf den Umgang mit Konsum hin. Obwohl der Konsum nur einen Aspekt von Stabilität ausmache, sei unter anderem zu fragen, wieso das Nichteinhalten von Versprechungen nicht zu größerer Destabilisierung führe. Auch nach Bedingungen der Politisierung und Depolitisierung von Konsum, sowohl „von oben“ als auch „von unten“ müsse man systematisch suchen.

Dieser Hinweis leitete zugleich treffend zur dritten Sektion über, in der der Konsument als politisierbares Argument und politischer Akteur im Zentrum stand. In einem deutsch-niederländischen Vergleich zeigte ANNE-KATRIN EBERT (Wien) auf, wie Radfahrer zwischen 1900 und 1940 in ihrer Eigenschaft als Konsumenten politische Ambitionen konstruierten und Mitsprache reklamierten. Während in Deutschland der bürgerliche Radfahrerverband seine hohen Erwartungen an die sozialen und politischen Auswirkungen des Fahrradgebrauchs vor allem wegen der selbstbewussten Aneignung des Fahrrads in Arbeiter-Radfahrverbänden nicht erfüllen konnte, nutzte der größte niederländische Radfahrerverband die zunehmende Zahl an Radfahrern, um seinen politischen Einfluss auszubauen. So war er an der Entstehung des ersten nationalen Verkehrsgesetzes ebenso beteiligt wie am Aufbau eines Wegweisersystems und eines nationalen Radfahrwegenetzes.

ISELIN THEIEN (Oslo) richtete den Fokus auf die koordinierte Planung der „skandinavischen Küche“ seit den 1930er-Jahren, die unter Beteiligung von Konsumgenossenschaften, Frauenvereinen und staatlichen Forschungsinstituten voranschritt. Während sich in Norwegen die größte Konsumgenossenschaft aufgrund divergierender Ansichten über das Problem der Konsumplanung gegen politische Vereinnahmung wehrte, arbeitete die schwedische Konsumgenossenschaft eng mit der Arbeiterbewegung zusammen. Anfang der 1940er-Jahre wurde sowohl eine öffentliche Kommission für Haus- und Familienfragen als auch das Forschungsinstitut für Hauswirtschaft gegründet. Letzteres führte umfangreiche Zeit- und Bewegungsstudien sowie Interviews mit Hausfrauen durch, um deren Arbeitsabläufe mit dem Konsumangebot abzustimmen. Letztlich ordnete sich dies in ein größeres politisches Programm ein, in dem die Rolle der Familie als emotionale, demographische und wirtschaftliche Grundlage des schwedischen Nationalstaats hervorgehoben wurde.

Den Kampf um die politische Repräsentation der Konsumenten in eigenständigen „Verbraucherkammern“ und den geplanten Wirtschaftsräten zu Beginn der Weimarer Republik behandelte CLAUDIUS TORP (Florenz). Die in zentralen strategischen Fragen gespaltene Konsumvereinsbewegung scheiterte indes in ihrem Versuch, den Konsumenten in Form einer öffentlich-rechtlichen Interessenvertretung zum politischen Akteur zu machen. Zu umstritten waren die Definitionen des Verbrauchers, zu heterogen die Interessengruppen. Dennoch war die Verbraucherbewegung insofern erfolgreich, als sie ein Thema – das Konsumenteninteresse – im politischen Kommunikationsraum platzierte, unter dessen Missachtung sich fortan nicht mehr regieren ließ. Dies belegen die zahlreichen Maßnahmen zur Sicherung und Verbesserung der Grundversorgung mit Nahrungsmitteln und Wohnraum.

DAVID GILGEN (Bielefeld) wies in seinem Kommentar darauf hin, dass eine gemeinsame theoretische Bezugnahme, etwa auf Mancur Olsons Theorie des kollektiven Handelns, für die Frage nach der Durchsetzbarkeit verbandspolitischer Forderungen durchaus gewinnbringend sein könne. Er gab allerdings zu bedenken, dass eine Fokussierung auf die Verbandspolitik leicht vom eigentlichen Thema Konsum wegführen könne.

Die Beiträge der vierten Sektion beschäftigten sich mit Strategien der Tabuisierung und Idealisierung des Konsums. ANNEROSE MENNINGER (München) zeichnete den Rezeptionsprozess der überseeischen Konsumartikel Kaffee, Tee, Schokolade und Tabak vom 16. bis zum 18. Jahrhundert in Reiseberichten, medizinischen Schriften und Laienzeugnissen nach. Dabei konstatierte sie, dass ihre funktionelle Bedeutung als Heilmittel die Thematisierung dominierte. Die physiologischen Eigenschaften (stimulierend, purgativ, schweißtreibend) dieser speziellen Konsumartikel fügten sich plausibel in elementare Konzepte der frühneuzeitlichen Schulmedizin (Vier-Säfte-Lehre, Diätetik) ein. Die Idealisierung zu medizinischen Heilmitteln trug so erheblich zur Etablierung dieser Artikel in der europäischen Alltagskonsumwelt bei.

In seinem Beitrag zu Konsum und Reklame als Felder politischer Kommunikation im ausgehenden Zarenreich ging LUTZ HÄFNER (Göttingen/Bielefeld) einerseits der Frage nach, inwiefern die russische Autokratie den Konsumenten als politischen Akteur wahrnahm, den es durch staatliche Regelungen zu schützen galt. Andererseits thematisierte er Bedeutung, Inhalte und Strategien der Konsumgüterwerbung, wobei er einen Prozess der Substitution von Produktinformation durch suggestive Methoden der „Verheißung“ ausmachte. Die insbesondere von der intelligencija vorgetragene Kritik an den moralischen Auswüchsen des Konsums und der Reklame dafür forcierten die Bemühungen der zarischen Regierung, gesetzliche Regelungen und Kontrollinstitutionen für die Werbewirtschaft durchzusetzen. Bei der Betrachtung der Problematisierung des Konsums würde mithin die Perspektive einer strikten Dichotomisierung von Staat und Gesellschaft im späten Zarenreich unterlaufen.

THOMAS WELSKOPP (Bielefeld) untersuchte Phänomene der Tabuisierung und Idealisierung am Beispiel des Alkoholkonsums in der amerikanischen Prohibitionszeit (1920-1933). Dabei konzentrierte er sich vor allem auf den privaten Alkoholkonsum im Kontext geselliger Zusammenkünfte, gesellschaftlicher Einladungen und häuslicher Partys der sich ausdifferenzierenden (oberen) Mittelklasse. Der „Kult um den Alkohol“ äußerte sich zum einen darin, dass das Vorhandensein von alkoholischen Getränken das „Ob“ einer Party bestimmen konnte. Außerdem waren das Alkoholverbot und die Möglichkeiten seiner Umgehung oft der beherrschende Gesprächsstoff der Partykommunikation selbst. Dies war jedoch nicht gleichbedeutend mit einer grundsätzlichen Ablehnung der Prohibition. Ebenso wie der kostspielige gesellige Alkoholkonsum einen Akt der Distinktion darstellte, diente ebenjene Distinktion als Rechtfertigung für den eigenen „kleinen“ Gesetzesübertritt ansonsten „verantwortungsvoller Bürger“, den man anderen gesellschaftlichen Schichten nicht zubilligen mochte.

ANGELIKA EPPLE (Bielefeld) machte in ihrem Kommentar zur Sektion auf die räumliche und zeitliche Bandbreite der verschiedenen Beiträge aufmerksam, die eindeutige Schlüsse erschwere. Die Beiträge hätten aber gezeigt, dass Konsum stets Moralisierungen unterschiedlicher Akteure unterlegen habe, deren Deutungen und Wandlungen je nach Kontext und Akteurskonstellation durchaus konkurrieren konnten oder schlicht widersprüchlich waren. Außerdem mahnte Epple an, auch in der kulturgeschichtlichen Perspektive genuin wirtschaftliche Aspekte bei der Analyse von Moralisierungen nicht zu vernachlässigen.

In der letzten Sektion wurde der Akzent auf das Verhältnis von Konsum und Körper gesetzt. ULRIKE THOMS (Berlin) thematisierte den Übergewichtsdiskurs in West- und Ostdeutschland in der Zeit nach 1945. Waren an der Ausprägung dieses Normalisierungsdiskurses des Körpergewichts im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert vor allem Anthropologie und Versicherungsmedizin beteiligt, so fanden die datengesättigten „Befunde“ zunehmend Eingang in die staatliche Gesundheitspolitik. Die als Abweichung vom Normalen pathologisierten und psychologisierten Diagnosen des Übergewichts, breitenwirksam popularisiert in Ernährungs- und Gesundheitsberichten, regten beide Regierungen zu präventiv-prophylaktischen Maßnahmen an. Während die Bundesrepublik dabei vornehmlich auf permanente Aufklärung setzte, den Bereich der Diätprodukte aber dem Markt überließ, erlaubte die Planwirtschaft der DDR darüber hinaus einen steuernden Eingriff in Produktion und Konsum.

BETTINA BLESSING (Stuttgart) zeichnete in ihrem Vortrag die Konturen einer Konsumgeschichte der Arzneimittel in Deutschland von 1870 bis 1950. In diesem Zeitraum, in dem die konsumgesellschaftlichen Bedingungen für industriell gefertigte Arzneimittel gelegt wurden, gelte es verschiedene Faktoren zu beachten: von Neuerungen der Darreichungsform über die Bevölkerungsentwicklung bis hin zu neuen Werbestrategien der Arzneimittelindustrie, der Verordnungspraxis der Ärzte und der Rolle der Krankenkassen. Eine durchgreifende staatliche Regelung bildete erst das Arzneimittelgesetz von 1962.

Der Kommentar von AXEL HÜNTELMANN (Bielefeld) hob noch einmal zentrale Kategorien und Fragen hervor, die für den Komplex Konsum-Körper von Bedeutung seien. Besonders fragte er nach der aktiven Rolle des Konsumenten, den Praktiken und Orten des Konsums, den mittransportierten Subtexten der Definitionen von „krank“ und „gesund“, aber ebenso nach der Bedeutung industrieller Komplexe und der Rolle des Staates. Eine politische Konsumgeschichte der Arzneimittel, so Hüntelmann, könne nur eine biopolitische sein.

In der Abschlussdiskussion wurde erneut konzeptuell über die Begriffe und mögliche Konjunkturen der Politisierung und Depolitisierung von Konsum debattiert. Weitgehender Konsens bestand darüber, dass die politische Dimension von Konsum sich durch alle betrachteten Gesellschaften ziehe, die politische Konsumkommunikation sich jedoch hinsichtlich Dichte und Bedeutungsgrad unterscheide. So sei der Zusammenhang von Konsum und politischem System in der Moderne ausgeprägter, da ersterem eine stärkere Legitimationsfunktion zukam. Entsprechend seien Depolitisierungsversuche des Konsums seitens der Regierung meist zum Scheitern verurteilt gewesen. Es wurde weiterhin angeregt, (De-)Politisierung nicht als abgeschlossenen Top-Down-Prozess zu begreifen, sondern die medialen Bedingungen sowie konkreten Akteurskonstellationen zu betonen. Mehrere Diskussionsbeiträge machten darauf aufmerksam, dass der Zusammenhang von Ökonomie und Konsum, mithin die Wirkmächtigkeit ökonomischer Diskurse, eine nochmals gänzlich anders geartete Perspektive auf das Thema eröffnen würden.

Insgesamt verdeutlichte die Tagung, dass sich Konsum in unterschiedlichsten thematischen, zeitlichen und geographischen Zusammenhängen als zentraler Indikator und Faktor politischer Kommunikation erweist, das heißt Aussagen über Strukturierungen des politischen Kommunikationsraums zulässt. Die Untersuchung von Konsum im Rahmen einer neuen Politikgeschichte scheint daher äußerst ertragreich, nicht zuletzt, da an diesem Thema jeweils herausgearbeitet werden kann, welche Rolle moralische, kulturelle und ökonomische Bezüge in politischer Kommunikation einnehmen.

Konferenzübersicht:

I. Einführung

Ingrid Gilcher-Holtey (Bielefeld): Begrüßung

Kirsten Bönker, Vera Simon (Bielefeld): Konturen einer politischen Konsumgeschichte

II. Konsum und Identität – Konsumpraktiken als Gegenstand kultureller Selbst- und Fremdzuschreibung

Thomas Riechmann (Bielefeld): Der frühneuzeitliche Reisebericht als Referenzmedium

Oliver Kühschelm (Wien): Alpen und Austrifizierung in Moderne und Postmoderne. Nationalisierende Produktkommunikation in Österreich, 1930-2000

Kommentar: Neithard Bulst (Bielefeld)

Moderation: Lutz Häfner (Göttingen/Bielefeld)

III. Konsum und System – Stabilisierung oder subversive Kraft?

Hartmut Berghoff (Washington): Verlockung und Mangel. Konsumpolitik und politisierter Konsum im Nationalsozialismus

Isabelle de Keghel (Konstanz): Konsum im Blick. Visualisierungsstrategien in sowjetischen und ostdeutschen Printmedien (1953-64)

Kommentar: Stephan Merl (Bielefeld)

Moderation: Kirsten Bönker (Bielefeld)

IV. Konsum und Partizipation – Der Konsument als politisierbares Argument und politischer Akteur

Anne-Kathrin Ebert (Wien): Konsumenten als nationale Systembauer: Deutsche und niederländische Radfahrerverbände, 1900-1940

Iselin Theien (Oslo): Consumer planning in the post-war Scandinavian kitchen

Claudius Torp (Florenz): Der Kampf um die politische Repräsentation der Konsumenten zu Beginn der Weimarer Republik

Kommentar: David Gilgen (Bielefeld)

Moderation: Vera Simon (Bielefeld)

V. Konsum und Moral – Strategien der Tabuisierung und der Idealisierung des Konsums

Annerose Menninger (München): Genussmittel als Drogen: Tabak, Kaffee, Tee, Schokolade in globalhistorischer Perspektive

Lutz Häfner (Göttingen/Bielefeld): „Mundus vult schundus“: Konsum und Reklame als Felder politischer Kommunikation in Russland (19./20. Jahrhundert)

Thomas Welskopp (Bielefeld): Moral und Alkoholkonsum in der amerikanischen Prohibitionszeit, 1919-1933

Kommentar: Angelika Epple (Bielefeld)

Moderation: Thomas Riechmann (Bielefeld)

VI. Konsum und Körper – Konsumverhalten als Betrachtungsobjekt der Wissenschaft

Ulrike Thoms (Berlin): Consuming Bodies. Der menschliche Körper im Zugriff der Wissenschaft (20. Jahrhundert)

Bettina Blessing (Stuttgart): Konsum und Arzneimittel (1870-1950)

Kommentar: Axel Hüntelmann (Bielefeld)

Moderation: Claudius Torp

VII. Abschlussdiskussion: Konjunkturen und Bedingungen der Politisierung/De- und Repolitisierung von Konsum

Anmerkung:

1 Martin Daunton / Matthew Hilton, Material Politics. An Introduction, in: Dies. (Hrsg.), The Politics of Consumption. Material Culture and Citizenship in Europe and America, Oxford / New York 2001, S. 1-32, hier S. 9; vgl. auch Jörg Lamla (Hrsg.), Politisierter Konsum – konsumierte Politik, Wiesbaden 2006; Sigrid Baringhorst u.a. (Hrsg.), Politik mit dem Einkaufswagen. Unternehmen und Konsumenten als Bürger in der globalen Mediengesellschaft, Bielefeld 2007.


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