Die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert

Die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert

Organisatoren
Institut fuer soziale Bewegungen der Ruhr-Universitaet Bochum (ISB); Gesellschaft fuer Unternehmensgeschichte" (GUG); Arbeitskreis fuer kritische Unternehmens- und Industriegeschichte (AKKU)
Ort
Bochum
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.10.2001 - 13.10.2001
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Von
Tim Schanetzky, Johann Wolfgang Goethe-Universitaet Frankfurt am Main

"Wer leitet?" - Antwort auf diese zunaechst recht profane Frage geben traditionell die dicken Baende des "Hoppenstedt". Aber wie so oft haben es gerade die vermeintlich einfachen Fragen in sich: Welche Funktion haben die Mitglieder der Wirtschaftselite als handelnde Akteure fuer die Unternehmen? Wie weitreichend war die Kontinuitaet der deutschen Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert? Welche praegenden Mentalitaeten koennen identifiziert werden? Waren Wandlungsprozesse politisch induziert, oder folgten sie einer oekonomischen Logik? Wie rekrutierten Unternehmen ihr Leitungspersonal? Welche Faktoren bestimmten wann und mit welcher Gewichtung die Karrierewege von Unternehmern und Managern: fachliche Kompetenz, soziale Herkunft, kulturelles Kapital? Diese Leitfragen stellte das Symposium "Die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert: Kontinuitaet und Wandel" in den Mittelpunkt, das vom 11. bis 13. Oktober im Bochumer "Haus der Geschichte des Ruhrgebiets" stattfand. Als Veranstalter hatten neben dem "Institut fuer soziale Bewegungen der Ruhr-Universitaet Bochum" (ISB) erstmals die "Gesellschaft fuer Unternehmensgeschichte" (GUG) und der "Arbeitskreis fuer kritische Unternehmens- und Industriegeschichte" (AKKU) gemeinsam eingeladen. Auf dem Hoehepunkt eines Booms der Unternehmensgeschichte ist dies in der Tat ein Novum, war AKKU doch am Ende der achtziger Jahre noch mit impliziter Stossrichtung gegen die GUG gegruendet worden. Die Kooperation der beiden Veranstalter kann somit auch als Ergebnis der in den letzten Jahren intensivierten Diskussion ueber Theoriefaehigkeit und Methoden der Unternehmensgeschichte interpretiert werden.

Den thematischen Rahmen der Tagung steckte Juergen Kocka (Berlin) in seinem Einfuehrungsvortrag in sozialhistorischer Perspektive ab. Die wesentlichen Impulse zur Erforschung der deutschen Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert seien von zwei Richtungen ausgegangen. Zunaechst habe der klare Befund einer doppelten Kontinuitaet der Wirtschaftselite - stabile soziale Herkunft und lange Zeit unveraenderte Rekrutierungsmuster - die Frage nach der Bedeutung der Zaesur "1945" provoziert. Trotz aller Kontinuitaeten habe sich die Elite in der Bundesrepublik auf den Boden der Demokratie gestellt, so dass nach Lerneffekten und Anpassungsbereitschaft gefragt wurde. Damit eng verbunden war die Frage nach Mentalitaeten und der Art des Managements. Auch hier wiesen die bisherigen Forschungen darauf hin, dass politische Zaesuren kaum eine Rolle spielten, dass sich am familialen Management in kleinen und mittelstaendischen Unternehmen sowie an den Tendenzen zu Akademisierung und systematischer Wissensproduktion in Grossunternehmen kaum etwas aenderte. Erst in den siebziger und achtziger Jahren geriet die buerokratisch- hierarchische Steuerungslogik mit der Dezentralisierung und Diffusion von Entscheidungsprozessen unter Druck, so dass Kommunikation, Interaktion und damit Instabilitaet an Bedeutung gewannen.

Der zweite Impuls zur Auseinandersetzung mit der Geschichte der Wirtschaftselite sei von der Buergertumsforschung ausgegangen. Gerade angesichts der kulturellen Erklaerungen fuer die Stabilitaet der Selbstrekrutierung muesse nach dem Buergertum als sozialer Formation gefragt werden: Ist die These vom "Untergang" des Buergertums mit dem 19. Jahrhundert gerechtfertigt, oder hat es eine Erneuerung von Buergerlichkeit in der Aera Adenauer gegeben? Und wenn ja: Welche Rolle spielte dabei dann die Wirtschaftselite? Kocka plaedierte vor diesem Hintergrund dafuer, "Unternehmergeschichte" als Bestandteil der Buergertumsforschung aufzufassen.

Auch in der anschliessenden, von Manfred Pohl (Frankfurt/M.) moderierten Podiumsdiskussion kristallisierten sich die siebziger und achtziger Jahre als Phase beschleunigten Wandels heraus. Michael Hartmann (Darmstadt), Juergen Kocka, Toni Pierenkemper (Koeln), Werner Plumpe (Frankfurt/M.) und Ulrich Wengenroth (Muenchen) waren sich einig, dass gerade in dieser Phase die Veraenderungen funktionaler Zusammenhaenge zwischen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, strukturellem Wandel und individuellen Anforderungsprofilen in den Unternehmen besonders hervortraten. Strittig war hingegen die Bewertung der stabilen Selbstrekrutierung der Wirtschaftselite aus dem gehobenen Buergertum: Waehrend Michael Hartmann auf die zentrale Bedeutung des "kulturellen Kapitals" und der "feinen Unterschiede" verwies, stellte Werner Plumpe in erster Linie aus der Struktur des sozialen Systems Unternehmen abgeleitete Anforderungsprofile und damit funktionale Selektionen in den Mittelpunkt seiner Argumentation.

Da das Symposium nach dem Berichterstatterprinzip organisiert war, koennen an dieser Stelle nur die wichtigsten Befunde der 18 Einzelbeitraege aus den drei Sektionen dargestellt werden (die Beitraege sind im Internet abrufbar: http://www.ruhr-uni-bochum.de/isb/ oder http://www.unternehmensgeschichte.de). Die erste Sektion stand unter dem Titel "Kontinuitaet und Wandel der deutschen Wirtschaftselite zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik" (Leitung: Juergen Kocka. Berichterstatter: Paul Erker, Muenchen). Martin Fiedler (Bielefeld) stellte auf der Basis einer quantitativen Analyse von Netzwerkbeziehungen der deutschen Industrieelite heraus, dass die Zaesur des Jahres 1945 von relativer personaler Diskontinuitaet (v.a. durch alliierte Eingriffe) bei gleichzeitiger mentaler Kontinuitaet gepraegt werde. Bernhard Lorenz (Hamburg) ergaenzte dieses Ergebnis um qualitative Erkenntnisse am Beispiel des Unternehmers Heinrich Draeger, an dem personelle und mentale Kontinuitaet ebenso exemplarisch nachvollzogen werden kann wie die Dauerhaftigkeit von Netzwerkbeziehungen. Die Familie wurde dabei von mehreren Beitraegen als wichtiger Faktor derartiger Netzwerke identifiziert: Hervé Joly (Lyon) entwickelte ein Fuenf- Phasen-Modell des "Familienkapitalismus" und kam zu dem Ergebnis, dass der Faktor Familie in deutschen Unternehmen - und dabei nicht nur in kleinen und mittelstaendischen - ueber alle Brueche hinweg wichtig geblieben ist, was er als Spezifikum des "rheinischen Kapitalismus" bezeichnete. Christiane Eifert (Berlin) konnte am bislang vernachlaessigten Beispiel der Unternehmerinnen in der Bundesrepublik zeigen, dass Frauen in erster Linie in Familienunternehmen und durch Erbschaften (v.a. Unternehmerwitwen) in Fuehrungspositionen aufrueckten. Im Gegensatz zu den maennlichen Erben sei dieser Rekrutierungsmechanismus meist vom Fehlen systematischer Vorbereitung oder formaler Qualifizierung gekennzeichnet gewesen. Irene Bandhauer-Schoeffmann (Linz) praesentierte einen aehnlichen Befund fuer die Nachkriegszeit in Oesterreich - freilich mit dem Unterschied, dass dort weniger die Unternehmerwitwen, als die Unternehmertoechter die Nachfolge im Familienunternehmen antraten. Martin Muenzel konnte fuer die juedischen Mitglieder der deutschen Wirtschaftselite zeigen, dass wenige Ausnahmen von der groesstenteils irreversiblen Verdraengung aus dem Wirtschaftsleben nach 1945 zumeist auf familiaere Kontexte zurueckgehen. Barbara Koller (Zuerich) untersuchte auf der Quellenbasis psychologischer Einzelassessments von Topmanagern die Entwicklung der Anforderungsprofile an die Wirtschaftselite seit den sechziger Jahren. Auch ihre Ergebnisse stuetzten die These einer fundamentalen Zaesur in den siebziger Jahren, da sich seither die Anforderungsprofile ausdifferenzierten, was auf strukturelle Veraenderungen von Fuehrung und Organisation in den Unternehmen zurueckzufuehren sei. Im Ergebnis habe dieser Prozess dazu gefuehrt, dass soziale Kompetenz bei Personalentscheidungen haeufiger den Ausschlag gebe.

Die Diskussion konzentrierte sich vor allem auf den Netzwerkbegriff. Es wurde kritisiert, dass gerade mit dem Konzept des Netzwerks und der Untersuchung regionaler oder lokaler unternehmerischer Fuehrungsschichten der Elitenbegriff an Kohaerenz verliere. Gerade wegen der schwierigen Abgrenzung von Netzwerken stelle sich die Frage, inwiefern diese als Analyseinstrument funktionsfaehig seien: Es bleibe weitgehend unklar, ob die Untersuchung eines sozialen Phaenomens im Vordergrund stehe, oder ob die funktionale Bedeutung von externen Vernetzungen fuer die Entscheidungsprozesse im Unternehmen untersucht werde. Ueberdies habe der informelle Charakter von Netzwerken zur Folge, dass gerade quantitative Untersuchungen unter entsprechenden Blindstellen litten, so dass als wichtige Aufgabe kuenftiger Forschung die Untersuchung von Institutionalisierungen informeller Netzwerke (etwa in Clubs, Vereinen etc.) ausgemacht werden konnte.

Die zweite Sektion stellte unter dem Titel "Wirtschaftlicher Strukturwandel und Elitenwechsel 1930-1990" mehrere Fallbeispiele in den Mittelpunkt (Leitung: Wolfram Fischer, Berlin. Berichterstatter: Christian Kleinschmidt, Bochum). Auch die Beitraege dieser Sektion machten deutlich, dass die Kontinuitaet der Wirtschaftselite trotz der sehr unterschiedlichen untersuchten Branchen und Unternehmensgroessen bis in die siebziger Jahre hinein dominierte. Dieter Ziegler (Bochum) unterstrich dies, indem er zeigte, dass die Bankierselite zwischen 1918 und 1957 gegen den Strukturwandel der Branche (Konzentrationsprozesse in der Zwischenkriegszeit, Bankenkrise, Arisierung, Entflechtung) regelrecht resistent war. Die Kontinuitaet wurde dabei in erster Linie von einer hohen Selbstrekrutierung aus dem gehobenen Buergertum gepraegt, so dass kulturelle Faktoren die Karrierewege bestimmten. Lutz Budrass (Bochum) konnte deutlich machen, dass die Flugzeugindustrie zwischen 1930 und 1960 vor allem von einer eigentuemlichen internen Kontinuitaet gepraegt wurde: Trotz der enormen personellen Expansion der Branche im Rahmen der Luftruestung sei es nach 1945 nicht gelungen, personell in andere Wirtschaftssektoren einzudringen. Auch in der Eisen- und Stahlindustrie waren soziale Rekrutierung und "Korpsgeist" ueber politische Zaesuren hinweg stabil, wie Karl Lauschke (Dortmund) an biographischen Beispielen verdeutlichte. Allerdings fuehrten die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen seit den siebziger Jahren (Stahlkrise, Strukturwandel) dazu, dass die spezifische Branchentradition des machtbewussten "Schlotbarons" auslief und Krisenmanagement nach internationalen Massstaeben gefragt war. Eine andere Perspektive verfolgte Hartmut Berghoff (Goettingen): Die auch fuer die Fuehrungsschichten der mittelstaendischen Wirtschaft signifikanten Veraenderungen seit den siebziger Jahren erklaerte er in mentalitaetshistorischer Perspektive. Angesichts der Dominanz des Familienunternehmens im Mittelstand sei die seither steigende Bedeutung externer Rekrutierungsmechanismen mittelbar auf Wertewandels- und Individualisierungsprozesse zurueckzufuehren (z.B. Rueckgang der Familienbindung und damit Abschied von der traditionellen unternehmerischen "Erbfolge"). Zwei Beitraege dieser Sektion konnten Ergebnisse praesentieren, die der Annahme einer kulturell gepraegten Elitenrekrutierung widersprachen. Wilhelm Bartmann und Werner Plumpe (Frankfurt/M.) zeigten am Beispiel der Vorstaende der IG-Farben-Nachfolgeunternehmen (1952-1970), dass bei ausserordentlich hoher Kontinuitaet die soziale Herkunft gleichzeitig keine Rolle fuer die Elitenrekrutierung spielte. Sie stellten die Organisationsbildung im Unternehmen und die damit verbundenen Inklusions- und Exklusionsmechanismen in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung und kamen zu dem Ergebnis, dass allein Ausbildung und Qualifikation als Chemiker den Karriereverlauf entlang der Organisationsstruktur praegten. Dieses Ergebnis funktional hochselektiver interner Arbeitsmaerkte stuetzte auch Heidrun Homburg (Basel) am Beispiel der Warenhauskonzerne Karstadt und Kaufhof (1930- 1980/90): Eine lange Hauskarriere und die "Naehe zur Ware" im Zusammenspiel mit umfassender interner und externer Qualifizierung seien ausschlaggebend gewesen, so dass auch im Handel Qualifikation und Kompetenz die entscheidenden Faktoren der Elitenrekrutierung gewesen seien.

Die anschliessende Diskussion machte anschaulich, dass diese sich deutlich widersprechenden Ansichten ueber die Gewichtung von Qualifikation und "kulturellem Kapital" auf die Art der Fragestellung und methodischen Herangehensweise zurueckgefuehrt werden muessen. So ist ein Fokus auf kulturellen Faktoren der Rekrutierungsmechanismen oder die Frage nach einer "Renaissance der Buergerlichkeit" naheliegend, wenn die Wirtschaftselite als soziale Formation begriffen wird. Die Perspektive der theoriegeleiteten Unternehmensgeschichte - fuer die gerade AKKU seit Jahren steht - unterscheidet sich von diesem sozialhistorischen Untersuchungsfokus hingegen sehr deutlich, wenn Unternehmen als organisatorische Strukturierungszusammenhaenge von Entscheidungssequenzen begriffen werden, die unabhaengig von der Motivation der Organisationsangehoerigen funktionieren. Damit veraendert sich die Art der Fragestellung grundlegend: Weniger die Form der Elitenrekrutierung, sondern vielmehr ihre Auswirkungen auf die Entscheidungssequenzen im Unternehmen ruecken in den Mittelpunkt des Interesses.

Die dritte Sektion wandte sich schliesslich dem Sozialprofil und den Mentalitaeten der Wirtschaftselite zu (Leitung: Dietmar Petzina, Bochum. Berichterstatter Dietmar Bleidick, Bochum). Michael Hartmann (Darmstadt) stellte in seinem Beitrag fest, dass die soziale Homogenitaet der deutschen Wirtschaftselite seit 1945 nicht allein ungebrochen sei, sondern dass die Selbstrekrutierung aus dem gehobenen Buergertum entgegen aller Prognosen der sechziger Jahre nochmals deutlich zugenommen habe. Dieses Ergebnis muesse zu einer Verlagerung der Perspektive von den Bildungstypen hin zu kulturellen Faktoren fuehren. Datenanalyse und systematische Interviews wiesen eindeutig darauf hin, dass das "kulturelle Kapital" fuer den Karriereverlauf noch an Bedeutung gewonnen habe. Angesichts eines bislang schwachen Forschungsstandes fuer das 20. Jahrhundert stellten zwei Beitraege dieser Sektion den Aspekt der Buergerlichkeit in den Mittelpunkt. Joerg Lesczenski (Bochum) und Birgit Woerner (Frankfurt/M.) fragten in vergleichender Perspektive nach dem "buergerlichen Wertehimmel" des Unternehmers und seiner Lebenspraxis vor 1930. Die Beispiele August Thyssens und Moritz von Metzlers widerlegten die These von der Erosion buergerlicher Werte im 20. Jahrhundert. Gleichwohl wurde die Differenz der beiden Faelle vor dem Hintergrund eines topographischen Ansatzes betont: Konstitutiv sei im Falle von Metzlers die staedtische Milieustruktur Frankfurts mit einer Vielzahl von privaten und oeffentlichen Raeumen der Buergerlichkeit einerseits, die defiziente Urbanitaet des Ruhrgebiets mit nur gering ausgepraegten buergerlichen Traditionen und den damit verbundenen Unsicherheiten Thyssens andererseits. Auch Cornelia Rauh-Kuehne (Tuebingen) kam fuer die Nachkriegszeit zu dem Ergebnis fortdauernder Buergerlichkeit. Sie untersuchte mit Hans-Constantin Paulssen, Fritz Kiehn und Hermann Reusch drei sehr unterschiedliche Biographien: Gerade die Faelle Paulssen und Reusch verdeutlichten eine Kontinuitaet buergerlicher Werte und Handlungsweisen, insbesondere hinsichtlich des Familienkonzepts. Und die Widerstaende, auf die der soziale Aufsteiger Kiehn bei den alteingesessenen buergerlichen Honoratioren traf, verdeutlichten den Fortbestand buergerlicher Werte zumindest indirekt.

Drei weitere Beitraege dieser Sektion stellten die semantische Konstruktion von "Elite" in den Mittelpunkt. Stefan Unger (Bochum) hob die drastischen Veraenderungen der Selbstbeschreibung der Wirtschaftselite im Ruhrgebiet (1930-1970) hervor: Waehrend in der Zwischenkriegszeit in erster Linie die Persoenlichkeit, weniger die Leistungen der Unternehmer im Mittelpunkt gestanden haetten, habe die Phase der Kriegswirtschaft einen "innovativen Schub" mit sich gebracht, als die individuelle Zurechnung von Leistungen staerker betont wurde. Nach einer Verunsicherungsphase in den vierziger und fuenfziger Jahren sei die regionale Elitensemantik der sechziger Jahre durch Leistungsorientierung und Funktionalisierung, jedoch ohne damit verbundenen gesellschaftlichen Fuehrungsanspruch gepraegt gewesen. Morten Reitmayer (Trier) setzte sich insbesondere mit dieser Phase der Verunsicherung auseinander, indem er die Bedeutung der evangelischen Akademien fuer die Neubestimmung des Unternehmerselbstbildes rekonstruierte. Vor dem Funktionalismus der sechziger Jahre habe zunaechst die Frage gestanden, ob es ueberhaupt eine Elite gebe oder geben solle - und ob diese ueber moralische Bindungen oder charakterliche Eigenschaften geschaffen werden koenne. Erst als in den sechziger Jahren der soziologische Klaerungsprozess ueber den Begriff "Elite" einsetzte, habe die Neubestimmung der Unternehmer-Semantik abgeschlossen werden koennen. Christof Biggeleben (Berlin) konnte die Funktion derartiger sprachlicher Bedeutungsfelder am Beispiel des Berliner "Verbands der Kaufleute und Industriellen" unterstreichen: Auf die heterogene Mitgliedschaft aus Mittelstand und Grossbuergertum sowie die Konflikte zwischen Handel und Gewerbe reagierte der Verband von Beginn an mit der Integration unter dem Begriff des "ehrbaren Kaufmanns" - mit entsprechenden antisemitischen Konnotationen. Die abschliessende Diskussion nahm die Auseinandersetzung zwischen kulturellen und funktionalen Erklaerungsansaetzen zur Elitenrekrutierung nochmals auf. Gerade mit Blick auf die Ergebnisse der Beitraege zur Elitensemantik wurde danach gefragt, inwiefern "Elite" ueberhaupt ein trennscharfes heuristisches Konzept darstelle, das sich sinnvoll (etwa im Sinne quantitativer Analysen) operationalisieren lasse.

Als Fazit bleibt festzuhalten, dass es der Bochumer Tagung gelungen ist, eine Bestandsaufnahme der ganzen Bandbreite derzeitiger Elitenforschung vorzunehmen. Beitraege und Diskussionen zeichneten ein detailliertes Bild der Wirtschaftselite, die sich ueber den Grossteil des 20. Jahrhunderts hinweg ihre soziale Exklusivitaet erhalten konnte. Trotz tiefgreifender wirtschaftlicher Strukturveraenderungen und gravierender politischer Umbrueche ist Kontinuitaet von Rekrutierungsmechanismen und Mentalitaeten das eindeutige Kennzeichen der Wirtschaftselite bis weit in die Bundesrepublik der sechziger und siebziger Jahre hinein. Das Symposium hat ausserdem deutlich gemacht, dass die siebziger Jahre in der Perspektive ganz unterschiedlicher Fragestellungen als grundlegender Kontinuitaetsbruch hervortreten.

Die Vielzahl der vorgestellten Fragestellungen und Methoden war jedoch zugleich auch die groesste Schwaeche der Tagung: Es wurde deutlich, dass der Elitenbegriff in seiner Unschaerfe ein grosses Spektrum unterschiedlicher Herangehensweisen ermoeglicht. Da begriffliche und theoretisch-methodische Klaerungen unterblieben, fuehrte dies dazu, dass Ergebnisse und Diskussionsbeitraege nicht immer anschlussfaehig waren. Antworten auf einige wichtige Fragen konnten so kaum formuliert werden: In welchem Verhaeltnis stehen Eliten- und Buergertumsforschung? Welche politischen Dimensionen hatte die lange Kontinuitaet der Wirtschaftselite? Ganz und gar unverstaendlich bleibt, warum nach der Reichweite der Elitenforschung fuer die Unternehmensgeschichte nicht einmal gefragt wurde! So wichtig sozialhistorische und kulturelle Aspekte im einzelnen auch sein moegen - letztlich ist das Unternehmen der konstitutive Kern der Wirtschaftselite. Die Perspektive des Unternehmens kann die Fragestellungen leiten, muss es aber nicht - das haben die intensiven Debatten ueber kulturelle und funktionale Rekrutierung hinlaenglich gezeigt. Waeren aber wenigstens die Ergebnisse auf die Unternehmensgeschichte bezogen worden, haette dies zumindest strukturierend wirken koennen. So jedoch blieb es bei dem Eindruck, dass beim Thema "Wirtschaftselite" nicht allein sozial- und unternehmenshistorische Fragestellungen oder Methoden, sondern auch zwei Wissenschaftskulturen aufeinandertrafen.


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