Vom roten Mars und runden Atomen. Bilder von Wissenschaft und Technik zwischen öffentlicher Wissensvermittlung und Faszinationsproduktion

Vom roten Mars und runden Atomen. Bilder von Wissenschaft und Technik zwischen öffentlicher Wissensvermittlung und Faszinationsproduktion

Organisatoren
Förderinitiative "Wissen für Entscheidungsprozesse" des BMBF und des DFG-Schwerpunktes 1143 "Wissenschaft, Politik und Gesellschaft"
Ort
Offenbach
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.10.2007 - 26.10.2007
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Von
Konstanze Weltersbach, Zürich

Bilder vermitteln Wissen über naturwissenschaftliche und technologische Phänomene und Erkenntnisse. Die Tagung "Vom roten Mars und runden Atomen. Bilder von Wissenschaft und Technik zwischen öffentlicher Wissensvermittlung und Faszinationsproduktion" knüpfte an aktuelle Diskussionen um die Rolle der Bilder in den Wissenschaften und Medien an.

Martina Heßler (Offenbach) und Alexander Gall (München) benannten in ihrer Einführung als Kernthemen einerseits die Strategien der Bildproduktion selbst, sowie die Wissensverschiebungen, welche durch die Produktion und Rezeption von Bildern entstehen. Wie hängen Wissensproduktion, Faszination und Legitimation durch Bilder zusammen, und wie wird bestehendes Wissen mittels Produktion und Rezeption von Bildern transformiert?

"Wahre Lücken?" Zur Sichtbarmachung des Vergangenen
Die Tagung eröffnete Hans-Jürgen Lechtreck (Essen) mit einem Vortrag zu taxidermischen Präparaten des Gorillas und ihrem literarischen Kontext im 19. Jahrhundert. Die Präparation basierte neben der Verwendung der materiellen Überreste der getöteten Tiere vor allem auf Reise- und Erlebnisberichten, Gedichten und Erzählungen, fachwissenschaftlichen Publikationen, Zeichnungen, Druckgraphiken, Gipsmasken, Fotografien und Flüssigpräparaten. Anhand der Vielfalt der Medien zeigte Lechtreck auf, wie die verschiedenen sprachlichen und bildlichen Darstellungen mit- und untereinander um Authentizität und Glaubwürdigkeit konkurrierten.

Oliver Hochadel (Wien), nahm ebenfalls dreidimensionale Darstellungen zum Ausgangspunkt: Dermoplastiken und virtuelle Rekonstruktionen der Australopithecus-Dame Lucy. Rekonstruktionen der prähistorischen Vergangenheit haben alle mit dem gleichen Problem zu kämpfen: Aus den wenigen erhaltenen Skelettüberresten eine möglichst realistische und wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechende Darstellung zu schaffen. Hochadel lieferte einen Einblick in die vielfältigen Vernetzungen zwischen Anthropologen, Rekonstrukteuren und den Rezipienten, welche allesamt das Aussehen kommender Rekonstruktionen beeinflussen.

Faszination und Wissensproduktion
Nina Samuel (Basel) widmete sich in ihrem Beitrag dem Bilderwissen der nichtlinearen Dynamik. Überzeugend stellte sie die Einstellung einiger Mathematiker zu "ihren" Bildern vor, die häufig eine Präferenz des handgezeichneten Bildes über das computergenerierte "objektivere" Bild verriet. Es wurde eine Differenz zwischen Laborpraxis und Medienöffentlichkeit erkennbar, die nicht nur die populäre Bildgeschichte der Fraktale auf den Kopf stellt, sondern auch grundsätzliche Fragen an Methoden der Bildwissenschaft und die Geschichte des digitalen Bildes aufwirft.

Visuelle "boundary objects" und ihre Präsentation in der Öffentlichkeit
Charlotte Bigg (Berlin) stellte die visuelle Geschichte des Brownschen Bewegungs-Diagramms vor, welches 1909 von dem französischen Chemiker Jean Perrin veröffentlicht wurde. Das Diagramm entstand aus einem Zusammenschluss unterschiedlicher visueller Kulturen von der Physiologie und Filmtechnik bis zur physikalischen Chemie und Mathematik. Bigg lieferte eine überzeugende Darstellung der Wechselwirkungen zwischen verschiedenen naturwissenschaftlichen Disziplinen bzw. Wissenschaft und Öffentlichkeit und der Fruchtbarkeit eines Bildes als eigenständiger Wissenserzeuger, -träger und -vermittler.

Im Gegensatz zu den winzig kleinen Studienobjekten in Charlotte Biggs Bildern beschäftigte Sebastian Linden (Jena) sich mit einer Abbildung des ganz Grossen. Er zeigte die Karte der kosmischen Mikrowellenstrahlung, welche als Bestätigung des Urknallmodells gesehen wird und zu einer der populärsten Illustrationen der modernen Wissenschaft geworden ist. Die Faszination der populärwissenschaftlichen und populären Medien für die kosmische Mikrowellenstrahlung scheint durch eine Kombination des Bildes mit dem, was gerade nicht auf dem Bild zu sehen ist, zu entstehen: Der mystisch klingenden "dunklen Energie".

Visualisierungstechniken und Popularisierung
Drei Vorträge beschäftigten sich in chronologischer Folge mit verschiedenen Techniken der Visualisierung. Thilo Habel (Berlin) sprach zu Lithografie und Xylografie im publizistischen Experiment um 1850 und verglich dabei die Veröffentlichungen Franz Junghuhns mit dessen Vorbild Alexander von Humboldt. Junghuhn lieferte methodische Neuerungen wie Langzeitbeobachtungen des natürlichen Pflanzenwachstums oder die Registrierung der spezifischen Reliefformen bei Wanderungen durch verschiedene Gebirge. Um die idealisierten Darstellungen der die Natur charakterisierenden Vorgänge direkt im Textfluss wiederzugeben, entschied Junghuhn sich nicht für die graustufenreiche Kreidelithographie, sondern für Holzstich-Textabbildungen.

Alexander Gall (München) zeigte dagegen Bilder populärer Wissenschaft in Holzstich und Fotografie um 1900. Er wählte die Illustrierten "Gartenlaube" und "Die Woche", um den Medienwechsel von Holzstich zu Fotografie am Beispiel von Zoobildern nachzuvollziehen. Dabei stellte er versuchsweise die visuell reiche "Brillanz" der Holzschnitte dem "Authentizitätsversprechen" der Fotografie entgegen.

Ann-Sophie Lehmanns (Utrecht) Beitrag führte schließlich ins digitale Zeitalter und beschrieb die Interaktion naturwissenschaftlicher und künstlerischer Prozesse bei der Herstellung photorealistischer Computergraphiken. Sie ging von dem Streben nach visuellem Realismus aus und ging am Beispiel der Simulation von Haut und anderen Texturen der Frage nach, wie sich die Computergraphik zur Malerei verhält.

Der Blick zur Kunst
Der erste Tagungstag wurde mit einem Blick auf aktuelle künstlerische Positionen beendet. Tim Otto Roth (Köln) stellte sein Projekt "Pixelsex" vor. Hier setzte er unter dem Stichwort "Bioart" die Interaktion eines Zellulären Automaten (Myxobakterium) auf der 90 x 40 m2 grossen Fläche des KPN Telecom Tower in Rotterdam künstlerisch um. Wichtig war Roth dabei die Einbeziehung von Wissenschaftlern, die ihr Forschungsobjekt in seinem Projekt wieder erkennen sollten.

Im anschließenden Werkstattgespräch zeigte Peter Müller (Maastricht) erste Beispiele der Zeichnungsserie "'L.Y.S.S.A. wäre natürlich unpassend gewesen' von Julia Bellberg, Toronto / 'Syndrome und vier Dekaden Forschung' von Stefan Poller, Brüssel", die er in Zusammenarbeit mit Adrian Nießler entwickelt. Beide sind interessiert an medial dargestellten wissenschaftlichen Arbeitsräumen. Die Zeichnungsserie befindet sich noch in der Herstellung und soll einmal aus 80 schwarzen Konturzeichnungen bestehen, deren Grundlage sich aus Fotografien verschiedener Onlinedatenbanken zusammensetzen.

Visuelle Überzeugungsstrategien
In ihrem Vortrag zu populären und nicht-populären Bildern der klassischen Archäologie im 19. Jahrhundert widmete sich Stefanie Klamm (Berlin) Bildern, welche in der Jubiläumskunstausstellung der Akademie der Künste in Berlin von 1886 und August Baumeisters "Denkmälern des klassischen Altertums" (1885-1888) von den Ausgrabungen in Olympia vermittelt wurden und führte vor, auf welche Weise die Bilder der archäologischen Fachpublikationen an ein breiteres Publikum herangetragen wurden.

Barbara Wurm (Wien) stellte populärwissenschaftliche Filme der frühen Sowjetunion und ihre (nicht-)filmischen Verfahren vor. Neben Arbeits- und Lebenswissenschaften, die im Hinblick auf biopolitische Fragen der Hygiene und Gesundheit zentral waren, waren auch Naturwissenschaft und Technik in den institutionellen Bemühungen der jungen Sowjetunion um eine breite Wissenschaftsdemokratisierung eingeschlossen. Am Beispiel zweier Filme - des 1928 entstandenen "Die Erde und der Himmel" und des 1931 gefilmten "Ionisierung. Eine Entdeckung von Prof. L. A. Cizevskij", denen jeweils auch Szenen des "making of" eingebaut waren, beschrieb Wurm die visuellen Codierungsverfahren von spezifischem Wissen.

Roter Mars und bunte Sterne - Darstellungen der Astronomie in der Öffentlichkeit
Eine Sektion widmete sich mit dem roten Mars einem der titelgebenden Bilder der Tagung. Ralf Adelmann (Paderborn) zeigte die mediale Verbreitung der Daten und Bilder von "Marsis" (Mars Advanced Radar for Subsurface and Ionospheric Sounding) am 15. und 16. März 2007 im Anschluss an die erste Veröffentlichung im Magazin "Science". Die Nachricht, dass die Pole des Mars vermutlich aus gefrorenem Wasser bestehen und eine aus den Daten abgeleitete Kartierung der Eismassen wurde in mehreren Quellen schnell mit der Frage nach Leben auf dem Mars und verschiedenen Bildern vom Mars verknüpft: Vom computergenerierten "Foto" des roten Planeten bis hin zum virtuellen Flug über die Oberfläche des Mars.

Rolf Nohr (Braunschweig) sprach im Anschluss über die Rolle des Amateurs bzw. der Amateurastronomie in der Entwicklung des Bildes vom Mars. In Zusammenhang mit der Einführung von Raumsonden schrieb die Zeitschrift "Stern und Weltraum", welche Nohr als Beispiel diente, 1972: "Wer so fotografieren kann, braucht nicht mehr zu beobachten". Inwieweit die Veränderungen in der Astronomie und im speziellen der Beobachtung des Mars ein "backyard-Wissen" produziert oder vielmehr als "science in action" zu verstehen seien, war die Kernfrage des Vortrages.

Medialisierung der Wissenschaften
Die letzte Session der Tagung startete mit Ulf von Rauchhaupts (Frankfurt) Erläuterung der Auswahlkriterien von Bildern im Wissensteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Die für den Bilderredakteur entscheidende Frage sei: "Und was zeigen wir da?" Anhand verschiedener Ausschlusskriterien führte Rauchhaupt vor, welche Wissenschafts-Bilder es in die FAS schaffen können und beschrieb, auf welche Weise die Verfügbarkeit von Bildern das Produkt - den Wissensteil - beeinflussen. Dabei können die Bilder die Geschichte erst evozieren, aber auch vor allem der Verdeutlichung dienen.

Im Anschluss hielten Christoph Bieber und Benjamin Drechsel (Gießen) einen Vortrag zum Thema "Bilder im Staatsdienst - die Instrumentalisierungsstrategien visueller politischer Kommunikation". Sie versuchten, die Geschichte des Gesichtsbildes als Erkennungsinstrument mit dem heutigen sicherheitspolitischen Diskurs zu verknüpfen. Dabei suchten sie auch nach anderen Interessen, die zu einer Strukturierung neuer Kontroll- und Überwachungstendenzen beitragen könnten.

Helmuth Trischler (München) las zum Abschluss der Tagung nicht nur das Manuskript der leider abwesenden Karin Bruns (Linz) zum Thema "Die Erde glüht. Vom Orientierungswissen 'Klima' zum mediopolitischen Katastrophismus" vor, sondern kommentierte auch die letzten beiden Vorträge. Er verwies auf den Verlust von Glaubwürdigkeit, wenn zu früh Katastrophenszenarien sicherheits- oder umweltpolitischer Natur heraufbeschworen würden. Die Diskussion fand damit den Weg zurück zu einigen Anfangsüberlegungen der Tagung, welche um das Dreieck Wissenschaft - Politik - Technik kreisten.

Den Organisatoren ist es gelungen, ein vielfältiges und sehr dichtes Programm zu aktuellen Fragen der Bildwissenschaften zusammenzustellen. Die Vorträge beschäftigten sich mit den Kernthemen in einer großen historischen Spannbreite. Der Dialog zwischen Naturwissenschaftlern, Künstlern, Journalisten und Geisteswissenschaftlern bestätigte, dass es nicht nur möglich, sondern auch produktiv ist, fachübergreifend über die "Logik der Bilder" zu sprechen.

Konferenzübersicht:

I. „Wahre Lücken?“ Zur Sichtbarmachung des Vergangenen

Hans-Jürgen Lechtreck: „Ein seltsames Gemisch von Wahrheit und Dichtung“.
Taxidermische Präparate des Gorillas und ihr literarischer Kontext im 19. Jahrhundert

Oliver Hochadel: Lucy wie sie leibt und lebt. Dermoplastiken und virtuelle Rekonstruktionen in der Paläoanthropologie

II. Faszination und Wissensproduktion

Natascha Adamowsky: Visualisierung des Unbekannten. Medienästhetische Überlegungen zu wissenschaftspopulärer Bildproduktion

Nina Samuel: "Erzwingen – knacken – Tötungsbiß". Bilderwissen der nichtlinearen Dynamik zwischen Labor und Publikation

III. Visuelle „boundary objects“ und ihre Präsentation in der Öffentlichkeit

Charlotte Bigg: What’s in a line? Eine visuelle Geschichte des Brownschen Bewegungs-Diagramms

Sebastian Linden: Die Karte der kosmischen Hintergrundstrahlung in Wissenschaft und Öffentlichkeit

IV. Visualisierungstechniken und Popularisierung

Thilo Habel: Zackenprofile und Strichwolken. Lithografie und Xylografie im publizistischen Experiment um 1850

Alexander Gall: Populäre Wissenschaft in Holzstich und Fotografie um 1900

Ann-Sophie Lehmann: How to render Jupiter (Jupiter und andere Kunstwerke). Zur Interaktion naturwissenschaftlicher und künstlerischer Prozesse bei der Herstellung photorealistischer Computergraphiken

V. Der Blick zur Kunst

Tim Otto Roth: Pixelsex oder zellulärer Automat? Kunst trifft Wissenschaft jenseits von musealer Pauschalkritik und Science-Event

Peter Müller Video Project – „D.I.S.P.A.T.E.R. Grötzingen“

VI. Visuelle Überzeugungsstrategien

Stefanie Klamm: Populäre und Nicht-populäre Bilder. Klassische Archäologie im 19. Jahrhundert

Barbara Wurm: Von „Erde und Himmel“ zur „Ionisierung“ des Menschen. Populärwissenschaftliche Filme der frühen Sowjetunion und ihre (nicht-)filmischen Verfahren

VII. Roter Mars und bunte Sterne – Darstellungen der Astronomie in der Öffentlichkeit

Thomas Hensel: Von Canali, Himmelsschiffen und Sterndämonen. Der Planet Mars als Leitstern der Bildwissenschaft

Ralf Adelmann: Natural – Representative – Enhanced. Medialisierung und Popularisierung astronomischer Bilder

Rolf Nohr: Amateurastronomie und das Bild vom Mars

VIII. Medialisierung der Wissenschaften

Ulf von Rauchhaupt, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: „Und was zeigen wir da?“ Welche Bilder im Wissenschaftsteil einer Sonntagszeitung auftauchen – und warum

Christoph Bieber, Benjamin Drechsel: Bilder im Staatsdienst. Instrumentalisierungsstrategien visueller politischer Kommunikation

Karin Bruns: „Die Erde glüht“. Vom Orientierungswissen „Klima“ zum mediopolitischen Katastrophismus

Kommentar: Helmuth Trischler

Redaktion: Godehard Janzing <janzing@arthist.net>

Diesen Tagungsbericht finden Sie in Kürze auch unter:
http://www.arthist.net/DocCoD.html

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