Technik und Symbolik vormoderner Wahlverfahren

Technik und Symbolik vormoderner Wahlverfahren

Organisatoren
Christoph Dartmann; Günther Wassilowski ; Thomas Weller; SFB 496, Teilprojekte A1 (Prof. Dr. Hagen Keller), B6 (Prof. Dr. Hubert Wolf), C1 (Prof. Dr. Barbara Stollberg-Rilinger)
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
31.05.2007 - 01.06.2007
Url der Konferenzwebsite
Von
Kerstin Hitzbleck, Berlin

Wahlen sind kein exklusiv modernes Phänomen. Auch in vormoderner Zeit wurde, sogar ausgesprochen häufig, gewählt: Nicht zuletzt die Inhaber der beiden Leitungspositionen der Christenheit, kirchliche Würdenträger und weltliche Repräsentanten aller Art wurden durch Wahl ermittelt, die Wahlvorgänge in den oberitalienischen Städten sind wegen ihrer gestrüppartigen Komplexität unter Historikern geradezu berüchtigt. Doch sind Zweifel angebracht, ob jene vormodernen Vorgänge zum Zwecke einer Personalentscheidung mit dem modernen Wahlverfahren mehr als den Namen teilen. An der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster fand am 31. Mai und 1. Juni 2007 unter der Leitung von Christoph Dartmann, Günther Wassilowski und Thomas Weller ein Kolloquium zu diesem Thema, zu „Technik und Symbolik vormoderner Wahlverfahren“ statt.

Das Tagungsinteresse gründete in aktuellen Forschungen in den Teilprojekten A1 (Hagen Keller), B6 (Hubert Wolf) und C1 (Barbara Stollberg-Rilinger) am Sonderforschungsbereich 496 „Symbolische Kommunikation und Gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution“, die sich besonders der symbolischen Kommunikation im politischen Verfahren widmen. Dabei wird Wählen nicht nur als normiertes Verfahren zur Ermittlung eines Amtsträgers verstanden, sondern auch die rituelle und symbolische Komponente einbezogen, die über den rein konstitutiven Aspekt des Vorgangs hinausweist. Indem die Wahl nicht zuletzt der Selbstvergewisserung von Stabilität und Integrität innerhalb einer Gesellschaft dient, ist sie als zentraler Aspekt ihrer politischen Kultur zugleich der Schlüssel zu ihrem Verständnis.

Das Kolloquium, das durch die kurzfristige Absage von GERD MELVILLE und GERD SCHWERHOFF auf zwei Vorträge zu Wahlentscheidungen in mittelalterlichen Klöstern und Orden sowie zu Wahlen in der Stadt des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit verzichten musste, gliederte sich in drei Sektionen und eine thematische Einführung, die den Vorträgen vorangestellt war.

THOMAS WELLER bemühte sich in seiner Einführung um die Abgrenzung moderner und vormoderner Wahlvorgänge und führte in die Grundproblematik der Wahl als politischem Verfahren ein. Ausgehend von dem bekannten Aphorismus „Wahlen ändern nichts, sonst wären sie verboten“ beschrieb er politische Wahlen nicht nur als konstitutiven politischen Akt, sondern auch als Verfahren der (Selbst)Legitimierung und Bestätigung des herrschenden politischen Systems. Beim Wählenden verstärken sie dessen Glauben an die Möglichkeit politischer Partizipation und gewähren durch die Einhaltung von prozessualen Grundprinzipien die Akzeptanz auch seitens der Unterlegenen. So hat der Ausgang der Wahl für das politische System selbst keine Bedeutung, der seinerseits nur durch den Nachweis eines Verfahrensfehlers anfechtbar ist. Nach Luhmann ist die Wahl ein politisches Verfahren mit durchaus symbolischer Funktion, doch keinesfalls ein Ritual: Während dieses einen definierten und voraussehbaren Ausgang kennt, ist jene von einem prinzipiell ungewissen Ausgang gekennzeichnet und ist ebenso grundsätzlich autonom.

Schon Luhmann hatte bemerkt, dass diese Definition von Wahl und Wahlverfahren nur für moderne Gesellschaften und Systeme anwendbar ist, im Mittelalter wegen der grundsätzlich anderen gesellschaftlichen Struktur versagen muss. Trotzdem liegt die Frage nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden modernen und vormodernen Wählens nahe. WELLER will diesem Vergleich moderner und vormoderner Wahlen drei Felder eröffnen - das der luhmannschen Verfahrensautonomie, weiter das der Technik und Symbolik von Wahlen, zuletzt das der Repräsentation als dem Verhältnis von Wählern und Gewählten – und unterbreitete gleich Vorschläge der Abgrenzung. Die Verfahrensautonomie einschränkende Faktoren sind z.B. der Bedarf nach auch religiöser Legitimation in vormodernen Gesellschaften, die Interdependenz der Verfahrens- mit der gesellschaftlichen Rolle sowie die strukturelle Bedeutung von Verwandtschaft, Klientel und Freundschaft im vormodernen politischen System. Technik und Symbolik der Wahlen sind auch und besonders in der Vormoderne nicht zu trennen, wie z.B. die in den notorischen Rangstreitigkeiten augenfällige Ungleichheit der Wähler verdeutlicht. Das Verhältnis von Wählern und Gewählten ist nicht zuletzt durch Legitimitätskonflikte gekennzeichnet, die durch die notwendige Integration der unterlegenen Minderheit gelöst werden mussten.

Die Reihe der Vorträge wurde durch den Dresdner Althistoriker MARTIN JEHNE eröffnet, der sich der „Dominanz des Vorgangs über den Ausgang“ am Beispiel von „Beamtenwahlen in der römischen Republik“ in den Zenturiatscomitien widmete. Ausgehend von der Wahl Cäsars zum Pontifex Maximus im Jahr 63 v. Chr. formulierte Jehne die Frage, für wen eine politische Wahl in der späten Republik wichtig war, wichtig sein konnte, und schlug drei Perspektiven der Untersuchung vor: die des Kandidaten, die des Wählers und, angelehnt an Luhmann, die des politischen Systems selbst.

Indem er eine für das politische System selbst wichtige Wahl als Krisensymptom definierte, konnte Jehne die Wahl von 63 v. Chr. als unkritisch und damit aus dieser Perspektive bedeutungslos darstellen, da die Wahl des Pontifex Maximus schon wegen der Bedeutung des ermittelten Amtsträgers wenig Erosionspotential für das System barg. Aus der Verknüpfung dieses Befundes mit der Feststellung, dass der Wahlausgang prinzipiell offen war, konnte Jehne deutlich machen, dass auch für den Wähler diese Wahl letztlich belanglos war, da sie auf ihn selbst unmittelbar keinerlei Einfluss hatte. So war die Wahl vor allem aus der Perspektive des Kandidaten wichtig, der sich durch die Übernahme des Amtes für eine weitere Karriere empfahl und sich Einfluss im Senat sicherte – ein Umstand, der nicht nur Julius Cäsar zwecks Wählerakquise an den Rand der Insolvenz trieb. Ein konziser Überblick über das Wahlverfahren in der späten Republik, das nur einem Bruchteil der Bürger politische Partizipation überhaupt ermöglichte, führte zur Frage, was die Bürger trotz allem zur Mitwirkung an der Wahl animierte. Jehne konnte zur Beantwortung vor allem zwei Aspekte anbringen, die im Bereich der symbolischen Funktion von Wahl anzusiedeln sind: Zum einen führte das massive Bemühen der Kandidaten um die Wähler zu einem subjektiven Gefühl der Bedeutsamkeit auch bei den unteren Klassen, die von der Tuchfühlung zu den Mächtigen und von deren Wahlgeschenken ideellen wie finanziellen Vorteil hatten. Zum anderen legte Jehne die gemeinschaftsstiftende Wirkung des Wahlvorgangs nahe, die sich geradezu in die Formel „Wir sind der populus romanus“ kleiden lasse. Die politische Integration der – absichtlichen und unabsichtlichen – Nichtwähler erfolgte in der Römischen Republik demgegenüber in weitaus stärkerem Maße über das Militär als über die Politik.

Anschließend widmete sich HAGEN KELLER dem Thema „Wählen im früheren Mittelalter“, in dem er die Frage vor allem nach den Techniken des Wählens stellte. Zwar fanden im Frühmittelalter zweifellos eine Vielzahl von Wahlen statt, allerdings begann man erst nach dem Investiturstreit, Wahltechniken festzuschreiben. Anhand von drei Beispielen führte Keller in das Problem der generellen Ungeregeltheit von Wahlvorgängen ein: Während bei einer „Abtswahl“ aus dem Jahr 983/4 Bischof Ulrich von Augsburg den Mönchen des Klosters Ottobeuren einen Kandidaten nannte, den diesen nach eingehender Besprechung dann in einer „libera electio“ wählten, trafen sich die Fürsten gemäß der Darstellung bei Wipo anlässlich der Nachfolge König Heinrichs II. im Jahre 1024, um zunächst die Kandidatenfrage zu klären. Als letztes Beispiel diente das Papstwahldekret von 1059, das die schrittweise Erhöhung des wählenden Personenkreises vorsieht, um der freien Entfaltung des Ehrgeizes einzelner einen Riegel vorzuschieben. Deutlich konnte Keller anhand dieser Fälle zeigen, dass die Notwendigkeit einer Wahl im Frühmittelalter stets eine Krisensituation darstellte, da ihr Ergebnis die Rangordnung unter den Wählern grundsätzlich ändern konnte. Demnach bestand das Ziel der Wahl in der Etablierung eines möglichst weitgehenden Konsenses, der die Akzeptanz des Wahlausgangs gewährleisten sollte. Die Kandidatensuche ist wie die ungeregelte Willensbildung integraler Teil des Wahlvorgangs, die im stark formalisierten, öffentlichen Bekenntnis der Wähler zu ihrer Wahl ihren Abschluss findet. Nachdem der luhmann'sche Verfahrensbegriff auf Wählen im Frühmittelalter erkennbar nicht anwendbar ist, stellt sich die Frage nach der Legitimation des Gewählten durch die Wahl, mithin der konstitutiven Natur der Wahl. Keller konnte die Wahl als kommunikatives Geschehen charakterisieren, das Akzeptanz schafft und Herrschaft ermöglicht, dessen Legitimation jedoch über die Sphäre des Religiösen definiert wird, indem die Eintracht der Wähler die von Gott gewährte Legitimation des Gewählten verdeutlicht. Die Wahl schafft nicht Legitimität, sondern bildet transzendente Legitimität ab, die der Gewählte nach der Wahl durch symbolische Akte weiterhin unter Beweis stellen muss.

Die zweite Sektion der chronologisch aufgebauten Tagung widmete sich Wahlvorgängen in weltlichen Kontexten zwischen Hochmittelalter und Frühneuzeit.

CHRISTOPH DARTMANN fragte nach der „Kultur der Niederlage?“ am Beispiel von „Wahlen in der italienischen Stadt des Hoch- und Spätmittelalters“. Da jede Wahl zwangsläufig Verlierer auf Seiten der Kandidaten wie der Wähler produziert, ist der Umgang mit einer Niederlage ein wichtiger Indikator für die politische und soziale Verfasstheit einer Gesellschaft. Angesichts der in der Vormoderne für öffentliches Agieren zentralen Kategorien von Ehre und Gesichtswahrung, war die Niederlage in einer Personalentscheidung stets auch ein Verlust an Ehre, den es – auch mit Gewalt – auszugleichen galt. Aus diesem Grund galten auch in den oberitalienischen Stadtkommunen bei politischen Personalentscheidungen die Gepflogenheiten mittelalterlicher politischer Verfahren und politischer Kommunikation. Im Zentrum dieser Gepflogenheiten steht die Vermeidung von innerem Unfrieden wahlweise durch inneren Konsens oder durch Entscheidung einer externen Person. Anhand der Wahlverfahren zur Ermittlung des Mailänder Erzbischofs zwischen 1018 und 1135 konnte DARTMANN zeigen, dass z.B. durch die außergewöhnliche Übertragung der Entscheidung an den Kaiser der innere Frieden gesichert werden konnte. Die gewöhnliche Praxis von nichtöffentlichen, konsensstiftenden Vorabsprachen zur Einigung auf einen Kandidaten, die eine einstimmige Wahl ermöglichen sollte, stieß regelmäßig dort an ihre Grenzen, wo der Unterlegene seine Niederlage im Vorfeld nicht anerkennen wollte und den öffentlichen Wahlakt via facti sprengte.

Dieses Ideal der unanimitas galt auch bei Wahlen für Posten in der Stadtkommune, die bezeichnenderweise zwar Experimente mit neuen, beeinflussungssicheren Wahlverfahren, jedoch keine Debatte um „richtiges Wählen“, um konstitutive Wahlverfahren kennt. Da auch in diesem weltlichen Bereich eine zwiespältige Wahl die Gefahr innerer Unruhen barg. suchte man im Krisenfall die Entscheidung einer externen Person oder entschied anonymisiert durch Losentscheid. In den oberitalienischen Kommunen galt die Dominanz des Ausgangs über den Vorgang: Die späte Formalisierung der Wahlverfahren und der Verzicht auf eine für die Legitimität der Wahl wichtige Wahltechnik zeigen, dass die Bildung eines für alle akzeptablen Konsenses das Ziel der Wahlhandlungen war. Der Imperativ der Ehrerhaltung schafft notorisch schlechte Verlierer – was einen vorsichtigen Umgang mit öffentlichen Niederlagen nahe legte.

Im anschließenden Vortrag stellte STEFANIE RÜTHER die Frage nach den Bedingungen „Eine(r) sichere(n) Wahl? Geleit, Verfahren und Versprechen in der spätmittelalterlichen Königswahl“. Die Münsteraner Historikerin näherte sich in ihrem heftig diskutierten Vortrag dem Wortfeld „sicher“ im Kontext der Königswahl aus drei Richtungen. Erstens, die Sicherung der Stimmen: Sie betraf ein grundlegendes Problem spätmittelalterlicher Königswahl, die Abgrenzung des Wählerkreises von den Nichtwählern, die selbst nach der Kodifizierung der Goldenen Bulle und der Festschreibung der Kurfürsten durch „Erbbesonderheiten“ in den Kurfürstenhäusern Anlass von Konflikten sein konnte. Durch die Bedeutung der Stimmensicherung über Versprechen und Geschenke seitens der Kandidaten gewann dieser Aspekt zusätzliche, nicht zuletzt ökonomische Bedeutung. Erst der Sieg in den konsensschaffenden Vorabsprachen gewährte dem Kandidaten letztlich die sichere, d.h. gesicherte Wahl. Zweitens, die Sicherheit des Weges, die durch gegenseitiges Geleit der Kurfürsten den Zugang zur Wahl gewährleistet werden sollte und so das Verfahren selbst sicherte. Dazu gehörte auch die Regelung des fürstlichen Gefolges, das angesichts der Menge von an Berittenen und Bewaffneten wiederum die Sicherheit des Verfahrens gefährden konnte. Eine wichtige Rolle spielte dabei auch das Königslager vor der Stadt, das dem Wahlsieger ermöglichen sollte, sich mit militärischem Widerstand seitens der Unterlegenen auseinanderzusetzen: Die Schlacht als Fortsetzung der Wahl mit anderen Mitteln, die den Tod eines Kontrahenten durchaus forderte, galt als anerkanntes und praktiziertes Verfahren, dessen unblutiger Ausgang ein Doppelkönigtum nach sich ziehen konnte, wie das Beispiel Ludwigs des Bayern und Friedrichs des Schönen zeigt. Drittens, die konstitutive Sicherheit des Verfahrens, war doch der Ablauf des Königswahlverfahrens nicht nur äußerst störanfällig, sondern auch in hohem Maße ungeregelt. Doch wirkte hier das vormoderne Streben nach Einmütigkeit durch Konsensbildung, das durch die Verbindung mit räumlicher und zeitlicher Exklusivität von Wahlort und Wahltermin die konstitutive Sicherheit der Wahl garantierte. Die Unmöglichkeit eines festen, aus sich selbst legitimierenden Verfahrens in einer hierarchischen Gesellschaft führt bei der Königswahl zu einer gegenseitigen Bedeutungsübertragung zwischen Wählern und Wahlverfahren: Die Kurfürsten sind das Verfahren und das Verfahren sichert den Kurfürsten ihre Bedeutung.

Nach diesen Beispielen aus Italien und dem Reich führten die Überlegungen von THOMAS WELLER in die politischen Verfahren auf der Iberischen Halbinsel: „Repräsentation per Losentscheid? Wahl und Auswahlverfahren der procuradores de Cortes in den kastilischen Städten der Frühen Neuzeit“. Die Cortes, ursprünglich Repräsentationsorgan der Stände, später nur noch der wichtigeren Städte im Königreich Kastilien, wurden zur Zeit des beginnenden spanischen Parlamentarismus im 19. Jahrhundert gern als seine vormoderne Keimzelle vereinnahmt. Weller konnte diese These anhand des Wahlmodus' der Vertreter der Städte in den Cortes als „invention of tradition“ nachweisen. Da die Wahl der beiden Vertreter, die jede Stadt an den Königshof senden konnte, häufig durch den König beeinflusst wurde, setzte sich im Verlauf der Frühneuzeit die Repräsentantenbestimmung per Losentscheid durch. Dieser bot zugleich die Chance, Ehrstreitigkeiten innerhalb der Städte zu vermeiden, zumindest aber zu dämpfen, da das Losverfahren sowohl von der technisch-instrumentellen wie von der symbolisch-expressiven Seite her die Chancengleichheit der Kandidaten, die Gleichwertigkeit der Wählerstimmen zumindest suggerierte. Da in Spanien eine Kultur der Niederlage ebenfalls nicht existierte, war auch hier jede Wahl eine Krisensituation. Der gewollten Zufälligkeit des Ergebnisses standen freilich innere, strukturelle Probleme der Kandidatenauswahl gegenüber, die häufig zur Auswahl untauglicher procuradores führte, die zudem die Möglichkeit hatten, ihr Amt nachträglich sogar an zahlungskräftige Hochadelige des Umlandes zu verkaufen. Das Ergebnis der Wahl war demnach von nur geringer Relevanz für das System, von umso größerer finanzieller und ideeller für die Gewählten. Die per Losentscheid ermittelten procuradores sind nicht als Volksvertreter zu verstehen, sondern als Vertreter des reino, des Reiches, am Königshof. Sie repräsentierten ihre Stadt, erhielten jedoch von dieser nur ein beschränktes Mandat, das ihnen selbständige Entscheidung ohne vorangehende Rückfrage in wichtigen Belangen untersagte. In dieser Konzentration auf die Repräsentation des Reiches sind die procuradores als frühe Vorläufer moderner, parlamentaristischer Strukturen nicht zu vereinnahmen.

Die dritte und letzte Sektion widmete sich kirchlichen Wahlverfahren in der Frühneuzeit. GÜNTHER WASSILOWSKY lenkte den Blick „Von der Huldigung der Faktionen zur Inszenierung des Geheimen“ anhand von „Werte- und Verfahrenswandel bei der frühneuzeitlichen Papstwahl.“ Als Indikator des Verfahrenswandels widmete sich Wassilowsky der häufig übersehenen, frühneuzeitlichen Adorationswahl, die im Jahre 1621 durch die Gregorianische Konklavereform abgeschafft wurde. Die kirchenrechtlichen Bestimmungen zur Papstwahl sehen seit 1179 eine 2/3 Mehrheit der wählenden Kardinäle für einen Kandidaten als konstitutiv an, die auf dem Wege der geheimen Skrutinalwahl ermittelt werden soll. Die Adorationswahl durch Kniefall vor dem in Vorabsprachen ermittelten Kandidaten zielte ebenfalls auf die 2/3-Mehrheit ab, doch unterschied sich dieser Wahlmodus, der im übrigen in keinem Rechtstext erwähnt oder gar geregelt wäre, von der Skrutinalwahl durch den performativen Sog der Huldigung durch die Kardinäle, der bisweilen überraschende Wahlergebnisse zeitigen konnte. Die Adorationswahl ist damit ganz und gar in der hierarchischen Gesellschaft der römischen Kurie zu verorten, indem sie durch den öffentlichen Ausdruck von Loyalität und Treue, als promissorische Eidesleistung des Wählers die Stabilität des kurialen Systems für eine Amtsperiode vorweg nimmt. Dieser Wahlmodus, der im Klientel- und Freundschaftssystem des kurialen Klerus gründet, gerät im 17. Jahrhundert in den Fokus der Nepotismuskritik. Die Abschaffung der Adorationswahl, genauso wie die Abkehr von der Stimmoffenlegung bei der Skrutinalwahl sind nicht weniger als der Ausdruck eines Paradigmenwechsels, der sich in der Einführung des Geheimen manifestiert: An die Stelle horizontaler Verflechtung tritt göttliche Transzendenz, die Egalität der Wähler ersetzt die ponderierende Ermittlung der sanior pars, Innerlichkeit und Gewissensbefragung verdrängen die öffentlich-performative Erzeugung einer Entscheidung.

Dem Wertewandel, bzw. der Wertekonkurrenz widmete sich auch KLAUS UNTERBURGER in seinem Referat „Kanonisch und frei. Das Verfahren der frühneuzeitlichen Abtswahl als Spiegel konkurrierender Wertesysteme.“ Die Bestimmung eines neuen Abtes fand in Mittelalter und Frühneuzeit, ungeachtet allen Strebens nach einer „kanonischen und freien“ Wahl, stets im Einflussfeld der verschiedensten weltlichen und geistlichen Interessen statt. Zwar war die Freiheit von der weltlichen Gewalt unter Stärkung einer romzentrierten Ekklesiologie seit den Zeiten der Kirchenreform das Leitbild einer kanonischen Wahl, doch ließ sich de facto die Einmischung des Landesherrn in die Abtswahl kaum verhindern. Auch die Bischöfe nahmen Einfluss auf die Wahlhandlung, Treue- und Gehorsamsversprechen durch den Kandidaten waren gängige Praxis. Als Grundherr und kirchenpolitische Größe im Diözesanverband war die Person des Abtes von mehr als nur lokalem Interesse. In der Kirchenreformdiskussion des 16. Jahrhunderts erhielt der Modus der Abtswahl im Zuge der Ordensreform wieder größere Relevanz, indem die Rückkehr zur alten mönchischen Regelobservanz angestrebt wurde. In der tridentinischen Forderung nach geheimer Wahl manifestierte sich das antike Ideal der libertas, der Freiheit von externen Einflüssen, sollte die Geheimhaltung Einmischung von außen wie Faktionsbildung im inneren entgegenwirken. Ganz praktisch zeigte sich dieses Bemühen in der Verdrängung der Laien aus dem Wahlkonklave. Unterburger charakterisierte Gründe und Folgen dieser Vorgänge als Ausdruck einer Wertekollision zwischen weltlichem und geistlichem Bereich, juristisch fassbar an der Definition des beneficium als Teil der weltlichen Sphäre, oder, kirchlicherseits, als notwendig zum geistlichen officium des Abtes gehörig und damit weltlicher Einflussnahme entzogen. Der faktischen Einbindung des Abtes als Person des politischen Lebens nicht nur seiner Diözese stand in der Frühneuzeit die geistliche, kanonistisch geschulte Auffassung entgegen, die den Spiritualien den Vorzug vor den Temporalien zuerkannte und daraus die Autonomie der Ordensverbände forderte, ergänzt durch die am mönchischen Demutsideal ausgerichtete Forderung, den geeignetsten Kandidaten zum Abt zu wählen, nicht den politisch opportunen.

HUBERT WOLF widmete sich Fragen von „Präsenz und Präzedenz. Der kaiserliche Wahlkommissar und seine Rolle in Verfahren und Zeremoniell der frühneuzeitlichen Bischofswahlen.“ In Abgrenzung zur Forschungsmeinung sieht Wolf den Bischofswahlmodus in der Frühneuzeit nicht als stabilen Vorgang, sondern erkennt einen tiefgreifenden Wandel nach 1648, der im sich ändernden Rollenverständnis von Kaiser und Domkapitel angesichts der Bischofswahl augenfällig wird. Zwar gehört die Zustimmung des Kaisers zur gültigen Bischofswahl notwendig dazu, doch streben die selbstbewussten Domkapitel die Eliminierung des kaiserlichen Einflusses an, wie zum Beispiel anhand der Verdrängung des kaiserlichen Bildes aus den Sedisvakanzmünzen des Münsteraner Domkapitels deutlich wird. Der Kaiser reagiert mit der Erfindung eines Zeremonialgesandten, der ihn vor Ort repräsentieren und seine Wünsche bei der Bischofswahl vertreten soll. Das Domkapitel begegnet diesem Eingriff mit hartnäckigem Ignorieren des Gesandten oder verfahrenstechnischen Tricks, bis es schließlich im Jahre 1707 zur „Katastrophe“ der Doppelwahl von Münster kommt, die nur noch durch den Papst aufgehoben werden kann. Um eine solche Situation fortan zu vermeiden, wird ein Verfahren ermittelt, das auf die Errichtung einer Konsensfassade zwischen Kaiser und Kapitel ausgerichtet ist. Ein kaiserlicher Wahlkommissar sichert fürderhin die Präsenz des Kaisers bei der Bischofswahl, dem eine integrale zeremonielle Rolle bei der Bestätigung des Bischofs zukommt. Verschiedene zeremonielle Elemente federn Konflikte ab und inszenieren Konsens, um päpstliche Einflussnahme zu verhindern. Zwar konnte der Kaiser auch weiterhin seinen Kandidaten meist nicht durchsetzen, doch gewann er zum Ausgleich an zeremoniellem Kapital. Die Autonomie des Domkapitels wurde durch zeremonielle Präzedenz des kaiserlichen Gesandten aufgewogen.

Die Vielzahl von Wahlverfahren, die in dieser rundum gelungenen Tagung diskutiert werden konnten, zeigten die grundsätzlichen Unterschiede zwischen vormodernen und modernen Wahlvorgängen auf. Besonders deutlich wurde die Bedeutung der Vorabsprachen im vormodernen Verfahren, die eine einmütige Wahl in einer an Ehrbegriffen orientierten Gesellschaft von notorisch schlechten Verlierern sichern sollten. Die Errichtung einer Konsensfassade gab allen Beteiligten die Möglichkeit der Gesichtswahrung, die ein verbindliches Anerkennen der Entscheidung erleichterte wenn nicht ermöglichte: Wer an den Verhandlungen am rechten Ort teilgenommen hatte und bis zum Ende geblieben war, unterwarf sich zugleich dem Ausgang der Wahl. Gleichwohl ließ die grundsätzliche Undurchsetzbarkeit eines unerwünschten, damit nicht akzeptablen und nicht anerkannten Ergebnisses bei den Gegnern Wahlen nur in den unwichtigen und in den sicheren Fällen als geeignetes Mittel zur Entscheidungsfindung erscheinen. Wo ein Konsens nicht wahrscheinlich schien, eine verbindliche Entscheidung ungeachtet des Ausgangs aber notwendig war, konnte der Losentscheid die Verbindlichkeit des Ergebnisses sichern: Die Erzwingung eines – kontingenten – Ausgangs rettete die Funktionsfähigkeit des politischen Systems. In der Vormoderne war ein Wahlverfahren, schon die Notwendigkeit der Wahl aus den verschiedensten Gründen riskant, weshalb besonders in wichtigen Entscheidungen der Etablierung eines Konsenses der Vorzug vor der Kampfabstimmung gegeben wurde. Die luhmannschen Begriffe schärfen die Wahrnehmung der Unterschiede, helfen moderne von vormodernen Verfahren abzugrenzen, dienen als begriffliches Hilfsmittel zur Beschreibung vormoderner Wahlvorgänge, sind angesichts der Bedingungen und Techniken vormodernen Wählens jedoch unzureichend.

Eine baldige Publikation der Tagungsbeiträge ist geplant.

http://www.uni-muenster.de/SFB496/
Redaktion
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