Flugblätter vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart

Flugblätter vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart

Organisatoren
Staatsbibliothek zu Berlin, Freie Universität Berlin (Editionswissenschaft), Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.03.2006 - 25.03.2006
Url der Konferenzwebsite
Von
Stephan Theilig, MGFA / Schriftleitung

Der etwas sachlich und sehr allgemein gehaltene Titel dieser Tagung täuscht über die Aktualität und Vielfarbigkeit des Themas hinweg. Es war ein besonderer Anlass, den die Handschriftenabteilung zusammen mit dem Fachbereich Editionswissenschaft der Freien Universität Berlin dazu bewog, zahlreiche Bibliothekare und Wissenschaftler nach Berlin einzuladen: Nach vielen Jahren intensivster Tätigkeit verließ Frau Dr. Eva Bliembach die Handschriftenabteilung. Sie hat mit dazu beigetragen, das Flugblatt „hoffähig“ zu machen. Wolfgang Harms (München) wies darauf hin, als er in seiner Rede über die Anfänge deutscher Flugblattforschung sprach. Zusammen mit Michael Schilling (Magdeburg) und Eva Bliembach hatte er 1975 in einem kleinen Arbeitskreis in Wolfenbüttel an einem Katalog gearbeitet, der sich schnell zur Grundlage für zahlreiche Forschungsprojekte entwickelte. Seitdem sind das Flugblatt und die Flugschriften nicht mehr nur massenhaft und nicht ausgewertetes Bibliotheksinventar, sondern stellen Quellen in vielerlei Hinsicht für die Wissenschaft dar, was in den folgenden drei Tagen sehr eindrücklich zelebriert wurde.1

Die Einzigartigkeit der Tagung zeigte sich besonders in der Spannbreite der Vorträge. Sie reichte von der allgemeinen, eher definitorischen Betrachtung des Flugblattes, über die Erfassung und Erschließung der Drucke, deren Bedeutung für die Wissenschaft als Quellenmedium, bis hin zu Fragen der konservatorischen Tätigkeit des Bibliothekars und der Bewahrung dieser Medien mit Hilfe moderner Digitalisierungstechniken. Das gerade diese Spannweite auch Stoff für zum Teil harte Auseinandersetzungen bietet, ist evident. Von historischer Seite her betrachtet, bot die Tagung eine Vielschichtigkeit, die wohl kaum einem anderen Medium in solch einem Rahmen zukommt. Vorgestellt wurden sowohl Flugblätter der Frühen Neuzeit, angefangen vom 15. Jahrhundert, als auch die Flugblätter des 19. und 20. Jahrhunderts, bis hin zu denen der „Kommune I“. Dabei bestätigten und visualisierten sich die Eingangsworte der Generaldirektorin der Staatsbibliothek, Barbara Schneider-Kempf, die auf die Funktion der Flugblätter als „gedruckte Begleiter des Protestes“ hinwies, die als „Indikatoren kultureller Paradigmenwechsel“ nicht außer Acht gelassen werden dürften.

Dass mit dieser Tagung jedoch nicht allein das Ziel der Erschließung von Flugblättern und die Zelebrierung des Erreichten im Mittelpunkt stehen könne, betonte Wolfgang Harms noch einmal eindrücklich. Vielmehr müsste die „Inganghaltung“ eines Prozesses angestrebt werden, da „das Flugblatt nicht enträtselt ist“. Die mehrschichtigen Inhalte, vor allem die der graphisch-verbalen Sprache der illustrierten Flugblätter, sollten weiterhin erschlossen und besonders für die „neuen“ Kulturwissenschaften aufbereitet werden. Vielerorts müsste noch mit dem Verdikt der zum Teil stark traditionalisierten Geschichtswissenschaft gekämpft werden, die das Flugblatt als „unprofessionell“ ansehen würde. Daher leide das Flugblatt noch immer unter den Diskreditierungen vergangener Zeiten. Die „Grundartikulation einer Epoche über ihre Epoche“ würde so außen vor gelassen werden.

Es waren diese „Grundartikulationen“, welche die Referenten in ihren Beispielen hervorhoben. So zeigte Florent Gabaude (Limoges) anhand barocker Darstellungen von Prozessionen, den informativen, zugleich aber auch „spöttelnden“ Charakter von Flugblättern, die damit eine „Dokumentation von Zeitgeschehen“ sind und eine zum Teil „dramatische Vergegenwärtigung des Herrschers“ aufweisen. So betonte Barbara Mahlmann-Bauer (Bern) die Funktion des Flugblattes als „Spiegel der Verunsicherung“, als sie über die Wick’sche Sammlung referierte. Ähnliche Beispiele zeigte auch Wilhelm R. Schmidt (Frankfurt/Main) auf, der die Flugblätter der „1848er Revolution“ im Rahmen des Digitalisierungsprojektes der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main vorstellte.

„Digitalisierung“ war eines der großen Schlagworte dieser internationalen Tagung mit Rednern aus sechs europäischen Ländern. Hintergrund für die Diskussion bildeten Fragen der Konservierung und Zugänglichkeit von Flugblättern. Schmidt anglizierte diese Problematik, so dass sie dadurch „verständlicher“ wurde und sprach von „Preservation and Access“. In diesem Zusammenhang zeigten sich die unterschiedlichen und vereinzelten Herangehensweise, die eine Zusammenführung der unterschiedlichen Projekte in einer notwendigen Datenbank behinderten. Aufgrund mangelnden Finanzhilfen müsste aus der Vielzahl der vorhandenen Drucke selektiert und in einzelnen Schritten Digitalisate hergestellt werden. Diese „Methodik“ verhinderte bisher eine einheitliche Verzeichnung der Drucke, auch wenn international geltende und anerkannte Masken verwendet würden. Ein erster Schritt hin zu dem „Global Access“, auch wenn er vorerst auf Deutschland beschränkt bleibt, bietet das „Zentrale Verzeichnis Digitalisierter Drucke“, einer Homepagelösung,2 welche die Verlinkungen zu den unterschiedlichen Digitalisierungsprojekten von Bibliotheken, Archiven und Universitäten herstellt.

Doch tauchten vor allem in der Verbindung von Theorie und Praxis definitorische „Zwickmühlen“ auf, die zahlreiche Diskussionen während und nach den Vorträgen zur Folge hatten. Was soll wie digitalisiert werden, was sind eigentlich Flugblätter und wo liegen die Unterschiede zu Flugschriften, wenn es solche überhaupt gibt? Dabei zeigte sich sehr deutlich die Schwierigkeit in der Abgrenzung zu den anderen Druckformen, die sich im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung von Drucktechniken und in der zunehmenden Vielschichtigkeit der Druckerzeugnisse entwickelt haben. Bliembach, Harms und Schilling hatten vermutlich nicht mit den Dimensionen gerechnet, die von dem 1975 ins Rollen gebrachten Stein rund dreißig Jahre später sichtbar bzw. erahnbar werden. Heute scheint es zu „engstirnig“ die Definition von Flugblatt auf den Kauf bzw. Verkauf, auf die Beschränkung von einem Blatt, auf das Vorhandensein von Illustrationen oder die Auflagenstärke bzw. ein- und mehrmalige Veröffentlichung abhängig zu machen. Sind nicht vielmehr auch die Intension und der Inhalt ein Charakteristikum, das Beachtung finden muss?

Die weitere Verfolgung der Debatte wird interessant und zweckmäßig sein. Als klares Ergebnis dieser einmaligen Tagung kann konstatiert werden, dass sich ein „altes Medium“ als modern und zugleich „zeitlos“ erwiesen und neue Perspektiven in den unterschiedlichsten Forschungszweigen eröffnet hat. Dem „Pioniergeist“ einzelner Wissenschaftler in den 1970er-Jahren ist es zu verdanken, dass eine „neue alte“ Quelle wieder zu „Ehren“ gelangt ist, die nur allzu oft diskreditiert und als der „Volkskultur“ zugehörig, „ergo unwissenschaftlich“, eingestuft worden ist. Das Flugblatt wird wahrgenommen und die Vielschichtigkeit seiner Funktionen, aber auch die Notwendigkeit seiner Konservierung herausgestellt: es informiert, unterhält, belehrt, schreckt ab, gibt Hoffnung, definiert das „Selbst“, legitimiert, kritisiert, karikiert und Vieles mehr. Auf den geplanten Tagungsband, der diese Multiperspektivität darstellen soll, kann man zu Recht gespannt sein. Die Handschriftenabteilung konnte Frau Dr. Eva Bliembach am „Ende ihres offiziellen Beruflebens“ kein größeres Geschenk machen.

Anmerkungen:
1 Das Tagungsprogramm ist mit allen Teilnehmern und Vorträgen auf den Seiten der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin nachzulesen:
http://handschriften.staatsbibliothek-berlin.de/flugblaetter.html
2 Übersicht über Digitalisierungsprojekte und Zugriff auf diese: Zentrales Verzeichnis Digitalisierter Drucke:
http://www.zvdd.de

Kontakt

Kontaktadressen der Veranstalter:

Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz (http://handschriften.staatsbibliothek-berlin.de/; handschriftenabt@sbb.spk-berlin.de)
Fachbereich Editionswissenschaft an der Freien Universität Berlin (http://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/html/Studium/Studiengebiete/editionmaster.shtml; jungmayr@zedat.fu-berlin.de)

Unterstützer der Tagung:

Deutsche Forschungsgemeinschaft (http://www.dfg.de);
Freunde der Staatsbibliothek zu Berlin e.V. (http://www.freunde-sbb.de/);
Dr. Klaus Kirchner (Erlangen); MikroUnivers GmbH (http://www.mikrounivers.de);
3-point concepts (http://3-point.de)