Die Verräumlichung des Welt-Bildes. Petermanns Geographische Mitteilungen zwischen „explorativer Geographie“ und der "Vermessenheit" europäischer Raumphantasien

Die Verräumlichung des Welt-Bildes. Petermanns Geographische Mitteilungen zwischen „explorativer Geographie“ und der "Vermessenheit" europäischer Raumphantasien

Organisatoren
Leibniz-Institut für Länderkunde, Leipzig; Forschungszentrum Gotha für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt
Ort
Gotha, Schloss Friedenstein
Land
Deutschland
Vom - Bis
09.10.2005 - 11.10.2005
Url der Konferenzwebsite
Von
Bruno Schelhaas, Forschungszentrum Gotha für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt

Vor 150 Jahren erschien in Gotha die erste Nummer der „Mittheilungen aus Justus Perthes’ Geographischer Anstalt“, der weltweit bedeutendsten geographische Zeitschrift der zweiten Hälfte des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts. Die internationale Konferenz „Die Verräumlichung des Welt-Bildes“ bot anderthalb Jahrhunderte nach Petermann ein Forum, auf dem in einem breiten interdisziplinären Rahmen über Wissenschaft, Raum und Kultur nachgedacht wurde. 70 Wissenschaftler aus fünf Ländern kamen dazu an historischer Stätte auf Schloss Friedenstein, unweit des Stammsitzes des Verlagshaus Perthes in Gotha zusammen. Ein Hauptanliegen der Konferenz bestand in einer offenen Diskussion zum cultural turn in den Raumwissenschaften und zum spatial turn in den Kulturwissenschaften. Insgesamt wurden 18 Fachvorträge gehalten. Veranstalter der von der Volkswagen Stiftung geförderten Konferenz waren das Leibniz-Institut für Länderkunde, Leipzig und das Forschungszentrum Gotha für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt.
Mit dem Anfang 2003 erfolgten Ankauf der umfangreichen und einzigartigen Sammlung Perthes durch den Freistaat Thüringen konnte ein Quellenfundus gesichert werden, der zukünftig vielfältige historische und theoretische Forschungen aus interdisziplinärer Perspektive ermöglicht. Die Konferenz verdeutlichte noch einmal die weltweite Bedeutung Gothas, des Perthes-Verlages und v. a. von Petermanns Mitteilungen für die moderne Kultur- und Wissenschaftsgeschichte.

Nach den Grußworten des Thüringer Kultusministers Jens GOEBEL führte Heinz Peter BROGIATO (Leipzig) in seinem Abendvortrag in die lange Tradition der Geographie und Kartographie in Gotha ein. BROGIATO verdeutlichte, dass das 1785 gegründete Verlagshaus Perthes durch eine geschickte Unternehmensführung und mit seinen hervorragenden Mitarbeitern den lang anhaltenden Gothaer Weltruhm auf dem Gebiet des geographischen und kartographischen Verlagswesens sicherte. Der Verlag in der kleinen Residenzstadt Gotha wurde zum „Zentralen Ort“ für die Sammlung und Verbreitung geographischen Wissens und entwickelte sich zu einem bis in die jüngste Vergangenheit wirksamen regionalen Wirtschaftsfaktor.
Eine Führung durch die Jahresausstellung der Forschungsbibliothek Gotha „Der Erde ein Gesicht geben. Petermanns Geographische Mitteilungen und die Anfänge der modernen Geographie in Deutschland“ schloss den ersten Konferenztag ab.

Mit der Sektion 1 „Räumliches und kulturelles Denken“ wurde der zweite Konferenztag eröffnet. Rudolf STICHWEH (Luzern) legte einleitend aus gesellschaftstheoretischer Perspektive „Die Funktion räumlicher Imaginationen bei der Herausbildung einer Weltgesellschaft“ dar. Seine Annäherungen an die Konzepte der Weltgesellschaft bestehen in einer grundlegenden Autonomie der Strukturen und Prozesse der Systeme. Gesellschaft kann hierbei kommunikationstheoretisch, in Form von Netzwerken begriffen werden. Eingebunden in einen historischen Entwicklungsprozess haben die funktional differenzierten Systeme, wie Recht, Religion, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Erziehung, Gesundheit, Sport, Tourismus und Medien eine spezifische Verbindung zu Raum und Räumlichkeit.
Auch Ute WARDENGA (Leipzig) knüpfte an die kommunikativen Eigenschaften von Institutionen an. In ihrem geographiehistorischen Beitrag über „Die Geographie und ihre Kommunikationsformen“ verglich sie die drei führenden deutschsprachigen Fachzeitschriften der Geographie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. „Petermanns Mitteilungen“ zeichnete sich dabei als ein offenes und interdisziplinäres Organ aus der vorakademischen Phase der Geographie aus und entsprach dem Typus einer auflagenstarken Verlagszeitschrift. Der ebenfalls bei Perthes verlegte „Geographische Anzeiger“ bediente ein schulgeographisch interessiertes Publikum und entwickelte sich von einer Verbandszeitschrift zu einem auch politisch motivierten Fachorgan. Die methodisch und theoretisch ausgerichtete „Geographische Zeitschrift“ – verlegt im benachbarten Leipzig – wurde hingegen vollkommen durch ihren Gründer und Herausgeber Alfred Hettner dominiert.
Am Ende der ersten Sektion griff Iris SCHRÖDER (Berlin) mit dem Referat „Der Beitrag von PGM zur Konstruktion von Welt-Räumen“ die globale Funktion von Gotha als „Weltstadt der Geographie und Kartographie“, neben den Metropolen London, Paris und St. Petersburg auf. Die enorme Nachfrage nach geographischem Wissen in der Mitte des 19. Jahrhunderts führte, so SCHRÖDER, zu einer Institutionalisierung, v. a. in Form von populären Magazinen und Geographischen Gesellschaften. Der Erfolg von „Petermanns Mitteilungen“ beruhte zum einen auf der zunehmenden akademischen Akzeptanz der aufstrebenden Disziplinen Geographie und Geschichte als auch auf der perfektionierten kartographischen Visualisierung, die eine erfolgreiche mediale Vermittlung von geographischem Wissen maßgeblich ermöglichte.

Die zweite Sektion am Nachmittag stand unter dem Thema „Petermanns Mitteilungen als Quelle und Objekt interdisziplinärer Forschung“. Hier wurden drei kartographiehistorisch ausgelegte Beiträge präsentiert. Paul VAN DEN BRINK (Utrecht) legte zunächst die Zusammenarbeit zwischen „Petermanns Mitteilungen“, der Zeitschrift der Königlich-Niederländischen Geographischen Gesellschaft und den niederländischen Entdeckern im 19. Jahrhundert dar und betonte die internationale Dimension der Fachentwicklung. Ferjan ORMELING (Utrecht) analysierte am Beispiel der „Südostasien-Kartographie in Petermanns Mitteilungen“ eine weitere kartographische Verräumlichung, die ihre Wurzeln in der vorakademischen Phase der Geographie hatte.
Imre Josef DEMHARDT (Wiesbaden) schließlich hob in seinem Beitrag über „Veränderungen des Afrika-Bildes in den Karten und Aufsätzen von Petermanns Mitteilungen“ die Leistung der Gothaer Kartographen bei der Veränderung der damals gültigen Vorstellung von Afrika hervor. Durch die in Gotha gesammelten mathematischen Berechnungen und geowissenschaftlichen Bestimmungen waren die Perthes-Kartographen in der Lage, statt der bis dahin weitgehend üblichen Routenskizzen der unbekannten Gebiete nunmehr mit ihren Karten eine sehr viel klarere Vorstellung von Ausdehnung und Aussehen des bereisten Kontinents zu geben.

Der dritte Konferenztag wurde mit der Sektion „Raumbezogene Konstruktionen in den Kultur- und Raumwissenschaften von der „Humboldt-Ära“ bis heute“ fortgesetzt. In diesem interdisziplinären Nachwuchspanel wurden neun Beiträge aus unterschiedlichen historischen und theoretischen Blickwinkeln präsentiert.
Tobias NANZ (Weimar) betonte zunächst in seinem Vortrag über „Das Deutsche Reich am Nordpol“ die stark politisch aufgeladenen Raumkonstruktionen im Umfeld der von August Petermann angeregten ersten deutschen Nordpolarexpedition (1868 und 1869/70) am Vorabend der Reichsgründung. Petermanns Mitteilungen dienten dabei mit den abgedruckten Expeditionsberichten und insbesondere durch die kartographische Umsetzung als vermittelndes Medium.
Auch in dem folgenden Beitrag von Michael C. FRANK (Konstanz) über „Petermanns Mitteilungen, die Ruinen von Simbabwe und die Konstruktion Afrikas als geschichtsloser Kontinent“ wurden die zeitgenössischen politischen Motivationen thematisiert. Die 1871 von Carl Mauch entdeckten Ruinen von Simbabwe wurden von August Petermann in seiner Zeitschrift medial in Szene gesetzt. Die Deutung der Steinbauten als Produkt einer „fremden“ Kultur trug wesentlich zur Konstruktion der europäischen Vorstellung von Afrika als geschichtslosem Kontinent bei.
Im Referat von Jana MOSER (Dresden) „Die Karte als politisches Instrument: Veränderungen in der Raumdarstellung auf Karten zwischen 1850 und 1945 am Beispiel Südwestafrikas“ standen eine karten- und kulturhistorische Analyse und die Frage einer Instrumentalisierung und Funktionalisierung von Karten im Vordergrund. Am Beispiel des Deutschen Schutzgebietes in Südwestafrika wurde eine chronologische Entwicklung der Kartographie beschrieben. Dominierten bis Anfang des 20. Jahrhunderts zunächst Routen- und Übersichtskarten, wurden diese zunehmend von Politischen und Thematischen Karten, auch von Kriegs- und Propagandakarten, v. a. nach 1918 abgelöst. Die Referentin betonte die mediale Bedeutung der Kartographie zur Abgrenzung von Herrschaftsräumen und zur Durchsetzung von wirtschaftlichen und politischen Interessen im Zuge des deutschen Kolonialismus. Nicht alle Karten seien jedoch politisch intendiert, sondern sind vielmehr interpretationsabhängig. Dabei sollten die Kontexte und unterschiedlichen Intentionen von Autor, Kartograph, Auftraggeber und Verlag berücksichtigt werden.
Ulrich BEST (Chemnitz) thematisierte unter dem Titel „Von Mächten, Massen und Räumen“ die Geschichte der deutschsprachigen Militärgeographie. An Hand der Beilage zu „Petermanns Mitteilungen“ „Militärgeographie“ wurden die verschiedenen Inhalte der Teildisziplin aufgezeigt. Neben den empirisch meist trivial, jedoch begrifflich speziell verfassten Aufsätzen zur Theorie, zur Länderkunde, zu Kriegsschauplätzen und zur Militärgeschichte kam eine stark reduzierte Kartographie. Die Subdisziplin Militärgeographie hatte stets mit ihrer wissenschaftlichen Akzeptanz zu kämpfen und wurde von Autoren aus dem Militärwesen selbst geprägt.
Unter der Überschrift „Paradoxe Räume?“ untersuchte Franziska TORMA (München) anschließend die semantischen Konstruktionen des Pamir als geo- und kulturwissenschaftlichen Forschungsraum innerhalb der deutschen Wissenschaft Anfang des 20. Jahrhunderts. Es wurde die These vertreten, dass durch die verschiedenen mental maps und die wissenschaftliche Erschließung auch spezifische Forschungsräume konstruiert wurden. Anhand der semantischen Felder „bekannter Orient“, „unbekannter Orient“ und „Wildnis“ (blank space) wurden diese Raumcodierungen am Beispiel der semantisch-räumliche Regionalisierungen des Pamir analysiert und die Bedeutung für die Ausdifferenzierung der wissenschaftlichen Disziplinen unterstrichen.
Georg GLASZE (Mainz) ging in seinem Beitrag unter dem Titel „Von der imperialistischen Assimilation zur „kulturellen Diversität“?“ auf den Begriff der Verräumlichung ein. Am Beispiel der vom Kolonialgeographen Onésime Reclus mitbegründeten institutionalisierten Frankophonie wurde die Verräumlichung als eine Form von Abgrenzung dargestellt. Besonders drei mögliche geographische und diskurstheoretische Forschungsansätze können nach GLASZE die Diskussion zukünftig voranbringen: postcolonial studies und die Analyse von geographical imaginations, die Analyse von Nationalstaaten als imagined communities und die Ansätze der critical geopolitics.
Aus Sicht der eben genannten critical geopolitics thematisierte Günter WOLKERSDORFER (Münster) im folgenden Vortrag „Geopolitische Leitbilder als Deutungsschablonen für die Bestimmung des „Eigenen“ und des „Fremden“. In einem kurzen Rückgriff auf die Geschichte der Geopolitik wurde die ideologische und politische Vermischung von Wissenschaft und Politik aufgezeigt. Die Deutungsmuster erweisen sich nach WOLKERSDORFER dabei als in hohem Maße differenziert und kontextabhängig.
Auch das anschließende Referat von Heike WOLTER (Dresden) über die semantische Dimension der Lebensraum-Vorstellungen in der Weimarer Republik bezog sich auf die Geschichte der deutschen Geopolitik. Dargelegt wurden insbesondere die interdisziplinären geopolitischen Raumwahrnehmungen und -konstruktionen in Wissenschaft, Literatur und Politik und die Einbindungen in die zeitgenössischen nationalistischen, imperialistischen und kolonialistischen Diskurse. Verdeutlicht wurden diese drei Felder an Hand der Personen Karl Haushofer, Hans Grimm und Adolf Hitler.
Die Sektion wurde mit der literaturwissenschaftlichen Analyse von Rainer ZUCH (Marburg) über „Die Funktion der Kartographie in der phantastischen Literatur“ beschlossen. Der Referent erläuterte, wie die Karte als Orientierungshilfe im Handlungsraum dient und einen multimedialen Zugriff auf den fiktiven Raum ermöglicht. Insbesondere die phantastische Literatur nutzt die kartographische Darstellung als quasi-evidente Unterstützung des Handlungsgeschehens.

Die letzte Sektion der Konferenz griff ein altes Motto von „Petermanns Mitteilungen“ auf: Unter dem Titel „Wissen ist Macht – geographisches Wissen ist Weltmacht“ wurden die Funktionen von geographical imaginations für die Konstruktion und Genese von Weltbildern am Beispiel von zwei Studien aus Asien hinterfragt. Reinhard ZÖLLNER (Erfurt) analysierte das Raumkonzept von „Ostasien“ in seiner historischen Entwicklung im Wechselspiel von Eigen- und Fremdbeschreibung. Deutlich wurde, dass sowohl Europäer wie Japaner das Attribut „asiatisch“ zur eigenen Abgrenzung benutzen und die großräumigen Einteilungen Asiens, von denen eine Reihe aus japanischen Quellen vorgestellt wurden, stets mit geopolitischen Entwürfen, denen eigene außenpolitische und außenwirtschaftliche Interessen zugrunde lagen, verbunden waren.
Eva-Maria STOLBERG (Bonn) analysierte unter dem Titel „Ex Oriente Lux“ die Bedeutung der 1845 gegründeten Russischen Geographische Gesellschaft für die Erforschung Asiens im 19. Jahrhundert. Die Geographische Gesellschaft des Zarenreiches zählte neben den Vereinen in Berlin, London und Paris zu den großen und einflussreichen Impulsgebern der modernen europäischen Geographie. Sie bildete zudem das wesentliche Fundament der russischen Geographie und Heimatkunde und unterstützte tatkräftig die östliche Expansion des Reiches und somit auch die Kolonisierung Mittelasiens. STOLBERG unterschied die theoretischen und konstruktivistischen Raumaneignungen der wissenschaftlichen Geographen von den alltagspraktischen und ethnographischen Interessen der Heimat- und Laienforscher. Die konstruierten Raumbilder sind somit intentional und abhängig von der Sozialisation der Forscher.

Am Ende der Konferenz stand der Vortrag des Ministerpräsidenten des Freistaates Thüringen, Dieter ALTHAUS, über den „Wissenschaftsstandort Thüringen und die Bedeutung von Gotha und Perthes“. Der Ministerpräsident betonte die kulturhistorische Bedeutung und die Verantwortung, die mit der Übernahme der Sammlung Perthes durch die Universität Erfurt verbunden ist. Die Sammlung ist Teil des reichen Thüringer Kulturerbes und trägt zur Attraktivität des Standortes Gotha und Thüringen bei.
In der abschließenden Podiumsrunde unterstrichen noch einmal Paul CLAVAL (Paris), Ferjan ORMELING (Utrecht), Wolf-Dietrich SAHR (Curitiba/Brasilien) und Benno WERLEN (Jena) die Einzigartigkeit der Sammlung Perthes Gotha und ihre Bedeutung für die internationale Wissenschaft. Alle Referenten betonten, dass das in Gestalt der schriftlichten und kartographischen Quellen überlieferte umfangreiche Wissensarchiv nachhaltig gesichert und zukünftig regional und international in die scientific community eingebunden und allgemein zugänglich gemacht werden muss.

Als ein Fazit der Konferenz kann festgehalten werden, dass in Gotha ein Podium geöffnet wurde, auf dem Vertreter unterschiedlicher Disziplinen und Generationen sich dem Thema „Verräumlichung“ nähern konnten. Die Herangehensweisen gehen dabei über einen reinen wissenschaftshistorischen Ansatz weit hinaus und haben Anschlussfähigkeiten zwischen verschiedenen Fachbereichen der Kultur- und Geowissenschaften erkennen lassen.
Die vielfältige Geschichte des Perthes Verlages und die in ihrer Überlieferungsdichte weltweit einzigartige Sammlung Perthes bieten hervorragende Grundlagen einer tiefer gehenden Analyse. Eine schnelle und professionelle Sicherung und Erschließung der Bestände ist daher dringend geboten.


Redaktion
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