Die Neuordnung der Lebenswelt. Kulturelle Strategien zur Bewältigung von Umbrucherfahrungen in den muslimischen Regionen der (ehemaligen) Sowjetunion

Die Neuordnung der Lebenswelt. Kulturelle Strategien zur Bewältigung von Umbrucherfahrungen in den muslimischen Regionen der (ehemaligen) Sowjetunion

Organisatoren
Abteilung für Osteuropäische Geschichte des Historischen Seminars der Uniuversität Mainz
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.11.2004 - 14.11.2004
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Von
Andreas Frings, Osteuropäische Geschichte, Johannes Gutenberg Universität Mainz

Die muslimischen Regionen der ehemaligen Sowjetunion, die nach dem Oktoberumsturz 1917 für lange Jahrzehnte aus dem Blick geraten waren, ziehen seit einigen Jahren die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich. Dabei wird deutlich, dass das Wissen um diese Regionen dürftig ist. Zu lange hatten sich etwa die Islamwissenschaftler auf den arabischen Raum oder die Türkei konzentriert, während die Osteuropa-Spezialisten eher die slawischen Bevölkerungsgruppen, die mehrheitlich christlichen Konfessionen angehören, in den Blick nahmen. Das hat sich jedoch in den letzten Jahren geändert. Die Öffnung früher verschlossener Archive im Raum der ehemaligen Sowjetunion, die Möglichkeit, in die nun abhängigen Republiken oder in die Russländische Föderation einzureisen, aber auch das wachsende Angebot an Forschungsgeldern für Untersuchungen über "russlandmuslimische" Fragen, die sogenannten "Terrorgelder", führten zu einem verstärkten Interesse der Wissenschaftler an diesen Gesellschaften.
Was die muslimischen Regionen der (ehemaligen) Sowjetunion heute auszeichnet, ist nicht zuletzt das Gefühl rascher Veränderungen in ökonomischer, sozialer oder kultureller Hinsicht. Was derartige Umbruchprozesse kulturell bewirken, wie sie symbolisch verständlich gemacht werden und wie Menschen auf das Wegbrechen vertrauter Selbstverständlichkeiten reagieren, ist ein bis heute theoretisch unzureichend aufgearbeitetes Gebiet. Die Abteilung für Osteuropäische Geschichte der Universität Mainz unternahm deshalb den Versuch, Islamwissenschaftler und Historiker, die auf diesem Gebiet derzeit Qualifikationsarbeiten anfertigen, zu einem Gespräch zusammenzubringen, das die Schwierigkeiten bei der Erforschung dieser Regionen ausloten sollte. Auf einer vom Mainzer Zentrum für Interkulturelle Studien geförderten Tagung sollten hierfür vor allem theoretische und methodische Zugänge diskutiert werden.

Ausgangspunkt war ein theoretisches Konzept, das für breite Strömungen in der Soziologie wegweisend war: die Analyse der "Lebenswelt". Dieses Konzept, das von Alfred Schütz entwickelt und von Thomas Luckmann weiterentwickelt wurde, verweist auf die Selbstverständlichkeiten in einer Alltagswelt, die zu hinterfragen für einen Menschen im Normalfall nicht sinnvoll ist. Die Lebenswelt wird strukturiert durch einen Vorrat an Wissen, der durch Sozialisation erworben und durch die Typisierung eigener Erfahrungen weitergebildet wird. Dieser Wissensvorrat dient der Bewältigung des Alltags, indem er für typische Situationen typische Lösungen, typische Handlungsmuster bereitstellt. Damit verweist der Begriff der Lebenswelt viel klarer als der ubiquitäre Begriff der Kultur auf die unzweifelhaften Gewissheiten, die eine Gesellschaft strukturieren.

Die Fragestellung der Tagung war nun, ob man in gesellschaftlichen Umbruchprozessen weiterhin von Selbstverständlichkeiten und typisierten Lösungsmustern sprechen kann. Vermutet wurde, dass man viel eher mit dem Scheitern solcher Muster rechnen müsse - und dementsprechend mit Versuchen, die verloren gegangene Selbstverständlichkeit wieder herzustellen. Das gebe unterschiedlichen Akteuren die Möglichkeit, Angebote zu machen und diese gesellschaftlich auszuhandeln. Im Mittelpunkt der Tagung sollten also Versuche stehen, Selbstverständlichkeiten und Gewissheiten wieder herzustellen - und das am Beispiel der genannten muslimischen Regionen.

Die Befunde waren jedoch alles andere als einheitlich. So wurde etwa die Möglichkeit beschrieben, dass unterschiedliche Akteursgruppen sich wechselseitig aneinander anpassen und dabei zu neuen kulturellen Verhaltensmustern finden. Dies war etwa bei der amerikanischen Hungerhilfe in den Hungergebieten der Mittleren Volga und dem Ural-Gebiet zwischen 1921 und 1923 der Fall, über die Julia Chemelevskaja (Celjabinsk) referierte. Amerikanische Helfer mussten sich hier auf lokale Situationen einstellen, die sie in dieser Form nicht erwartet hatten. Gleichzeitig erforderte der extreme Hunger auf Seiten der lokalen Bevölkerung, sich den Vorgaben der amerikanischen Hilfe anzupassen. Im Ergebnis änderten beide Seiten ihr Handeln und ihr Verständnis der sie umgebenden Welt.

Einen ähnlichen Fall trug Christine Hunner (Bielefeld) für die azerbajdžanische Gegenwart vor. Ihr Thema waren die Konzeptionen religiöser Bildung, die im Baku der Gegenwart neu verhandelt werden. In einer mehrheitlich schiitischen Gesellschaft, die sich auch in der Zusammensetzung der Studierenden an der theologischen Fakultät spiegelt, arbeiten heute vornehmlich türkische Theologen sunnitischer Ausrichtung. Deren Versuch, die Gegensätze zwischen sunnitischen und schiitischen Auffassungen nicht zu stark zu betonen, resultiert in der Konstruktion eines Kernbestandes islamischer Überzeugungen, der von den Studierenden auf Grund seiner "Wissenschaftlichkeit" begeistert aufgenommen wird. Dies hat jedoch innerfamiliäre Konflikte zur Folge, etwa wenn ein Vater, der seine Tochter möglichst gut verheiraten möchte, angesichts ihres neuen Kopftuches verzweifelt. Die Entstehung eines neuen Islamverständnisses lässt sich als Ergebnis einer wechselseitigen Anpassung azerbajdžanischer Studierender und türkischer Lehrender beschreiben.

Ein weiterer Schwerpunkt war die Reaktion lokaler Gemeinschaften auf die kulturellen Deutungsangebote eines neuen Regimes, dargestellt am Beispiel der frühen Sowjetunion. Den Anfang machte hier Andreas Frings (Mainz), der die Versuche einer Erklärung der Reaktionen auf den sowjetischen Chudžum kritisch betrachtete und, ausgehend von Forderungen der Analytischen Wissenschaftstheorie, ein handlungstheoretisches Erklärungsmodell vorstellte. Der Chudžum, also der Angriff der Sowjetunion auf die traditionelle Geschlechterordnung, hatte zunächst eine wachsende Renitenz der lokalen Gemeinschaften bis hin zu brutaler Gegenwehr (etwa Ermordungen entschleierter Frauen) zur Folge. Es gab jedoch auch eine große Zahl hiervon abweichender Reaktionen. Andreas Frings zeigte, dass eine handlungstheoretische Erklärung diese Varianz besser erklären kann als Konzepte, die auf den kulturellen Kontext als Ganzes abstellen.

Christian Teichmann (Berlin) wählte hingegen den Fall eines tatarischen Kreises an der Mittleren Volga, an dem er darlegen konnte, dass es den dort lebenden Tataren gelang, ihre existierenden Konflikte mit einem russischen Dorf in die Sprache des neuen Regimes zu kleiden und damit dieses Angebot auf eine Weise zu nutzen, die den Interessen der Sowjetmacht zuwiderlief und bald von der Kontrollkommission der Partei untersucht wurde. Gleichzeitig widerlegte er so die von Habermas behauptete Annahme, die Lebenswelt sei einer Reflexion und Veränderung entzogen, und Krisen in der kulturellen Reproduktion der Lebenswelt führten somit zu einer Sinnverknappung und einem Zusammenbruch. Stattdessen zeigte sich, dass lebensweltliche Strukturen auch in neue Begriffe und Symbole übersetzbar sind. Diesen Übersetzungsprozessen, so Christian Teichmann, könne man sich nur interpretativ nähern.

Eine in Umbruchprozessen ebenfalls nicht zu vernachlässigende Gruppe stellte schließlich Marlies Bilz (Kiel) vor, die sich vor allem mit tatarischen Intellektuellendiskursen der Gegenwart beschäftigt. Ihr Ausgangspunkt war die Frage der diskursiven Zuschreibung einer tatarischen Identität an bestimmte, benennbare Personengruppen, die nicht, wie oft unterstellt, nach binären Inklusions- und Exklusionskriterien verlaufe, also Tataren von Nicht-Tataren unterscheide. Stattdessen würden Abstufungen von Tatarisch-Sein postuliert, nach denen zum Beispiel die getauften Tataren (die sogenannten krjašeny) "etwas weniger tatarisch" seien als die muslimischen Kazan-Tataren. Dieses Schema geriet mit der russländischen Volkszählung von 2002 in Gefahr, als die Moskauer Statistiker die getauften Tataren als eigene ethnische Kategorie in ihren Katalog aufnahmen. Die Gefährdung des gerade erst eingeführten Kategoriensystems führte zu einer Neuausrichtung der Kategorien - recht erfolgreich, denn eine große Mehrheit der getauften Tataren klassifizierte sich in der Volkszählung als "Tataren".

Insgesamt zeigte sich, dass die Ausgangsfrage der Neuordnung von Lebenswelten für das Verständnis moderner Prozesse nützlich ist. Wie von Raoul Motika (Bochum/ Heidelberg) und Jan Kusber (Mainz), die die Tagung begleiteten, angemerkt wurde, ist die Erfahrung von Umbrüchen, auf die man eher reagiere als dass man gestaltend eingreife, in der muslimischen Welt seit dem 19. Jahrhundert geradezu ein Topos. Nimmt man diese Wahrnehmung ernst, werden Prozesse, die aus europäischer Sicht zunächst unverständlich erscheinen mögen, auf einmal zugänglicher. Das Lebenswelt-Konzept kann hier insofern fruchtbar sein, als es den Blick auf die Selbstverständlichkeiten in solchen Gesellschaften richtet, in denen diese gerade fragwürdig werden. Die unterschiedlichen Konzeptionen waren jedoch zu heterogen, um erkennen zu lassen, in welcher Richtung diese weitere Forschung erfolgen sollte. Christian Teichmanns Plädoyer, unterschiedliche Ansätze nebeneinander stehen zu lassen, da ein solcher Eklektizismus erst Wissenschaft befördere, widersprach dabei wohl nicht der Forderung von Andreas Frings, diese Ansätze nicht gleichgültig hinzunehmen, sondern konkurrierend zu begreifen - in einem Wettbewerb um die größere Erklärungskraft. Der geplante Tagungsband, der im Herbst 2005 erscheinen soll, gibt jedem Leser die Möglichkeit, die konkurrierenden Ansätze kennen zu lernen.


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