Soldat und Gesellschaft. Biographien und Selbstzeugnisse in der Militärgeschichte

Soldat und Gesellschaft. Biographien und Selbstzeugnisse in der Militärgeschichte

Organisatoren
Jahrestagung des Arbeitskreises Militärgeschichte e.V. in Zusammenarbeit mit der Otto-von-Bismarck-Stiftung und dem Hamburger Institut für Sozialforschung
Ort
Reinbek
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.10.2003 - 11.10.2003
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Von
Andreas Helmedach; Thomas Kubetzky; Heidi Mehrkens, Braunschweig

Biographien und Selbstzeugnisse haben auch in der Militärgeschichte Konjunktur. Deshalb mussten die Organisatoren der diesjährigen Jahrestagung des Arbeitskreises Militärgeschichte e.V. (AKM), die am 10. und 11. Oktober des Jahres im schönen Reinbeker Schloss stattfand, 18 Referate aus nicht weniger als 54 Bewerbungen auswählen. Die Zusammenstellung der Beitragsthemen zeigte, dass die Organisatoren - das Programm wurde von Michael Epkenhans (Friedrichsruh), Stig Förster (Bern) und Karen Hagemann (Berlin) gestaltet -, sich bemühten, eine möglichst weite Zeitspanne von der Frühen Neuzeit bis in das 20. Jahrhundert zu berücksichtigen. Dieses Vorhaben ist durchaus gelungen, auch wenn der zeitliche Schwerpunkt der Beiträge wiederum im 20. Jahrhundert lag.

Sektion I: Selbstzeugnisse I, Leitung Gundula Bavendamm (Berlin)

Alle drei Referate der ersten Sektion behandelten Themen aus dem Feld der deutsch-französischen Konfliktgeschichte. In ihrem Vortrag ",Wo jeder Franzmann heisset Feind'. Zivile Selbstzeugnisse aus der Zeit der napoleonischen Kriege" führte Ute Planert (Tübingen) aus, dass in den Selbstzeugnissen aus den Rheinbundstaaten im Süden und Südwesten des Reiches ein national unterlegtes, feststehendes Feindbild des Franzosen nicht zu erkennen sei. Vielmehr gebe es durchaus eine Fähigkeit zur Unterscheidung: Verurteilt würden meist nicht die Franzosen als solche, sondern das Verhalten französischer (wie im übrigen auch anderer) Soldaten im Falle von Ausschreitungen. Häufig sprächen die Selbstzeugnisse zudem von "Republikanern" und nicht von "Franzosen"; die Vertreter von Freiheit, Gleichheit und Nation seien vor allem als Feinde der katholischen Kirche gesehen worden, ihre Ablehnung sei politisch und religiös, nicht jedoch national begründet. Deshalb könne man noch nicht von der Geburt nationaler Vorurteile sprechen. Die "Franzosenzeit" sei nicht die Wasserscheide zur Nationsbildung gewesen. Planert plädierte vielmehr dafür, eine "nationale Sattelzeit" als den Beginn einer Entwicklung von Deutungsmustern im Freund/Feindbild anzusetzen.

Manuel Richter (Göttingen) untersuchte in seinem Vortrag "Das Selbst und das Andere im Krieg. Nationale Selbst- und Fremdbilder in Selbstzeugnissen aus dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71" eine Briefsammlung von 214 Briefen eines preußischen Soldaten aus dem Zeitraum 1870-73. Während Richter für die Phase des Krieges eine Wahrnehmung "des Franzosen" als unpersönlichem Feind konstatierte, wechselte diese Sicht seiner Meinung nach in der Besatzungszeit. Die nationalen Deutungsmuster (Stereotype) des Soldaten in Bezug auf die Franzosen seien in Frage gestellt worden. Als Ursache vermutete Richter die Diskrepanz zwischen der Frankreich- und Franzosenwahrnehmung in der Heimat und derjenigen im Umfeld der deutschen Truppen in Frankreich. Die zweifellos existierenden Stereotypen über die Franzosen würden durch die täglichen Erfahrungen im Umgang der Soldaten mit den Landesbewohnern relativiert.

In seinem Beitrag "Zu Rollenkonzeption, Rollenerwartungen und Rollenkrisen in den autobiographischen Aufzeichnungen deutscher und französischer Frontoffiziere des Ersten Weltkriegs" stellte Eberhard Demm (Lyon) erste Forschungsergebnisse vor. Angesichts der Motive des Autobiographen - Rechtfertigung und Überlieferung eines idealisierten Bildes vom Selbst an die Nachwelt - sei es möglich, Rollenerwartungen aus diesen Quellen herauszuarbeiten. Demm unterschied verschiedene Typen von Rollen, die ein Offizier gegenüber Seinesgleichen, untergebenen Soldaten und anderen Personengruppen ausfülle. Diese bestünden etwa in der Vaterfigur mit Fürsorgepflichten gegenüber Soldaten oder in der des kritischen Befolgers von Befehlen gegenüber Vorgesetzten. Rollenkrisen äußerten sich als nicht rollengerechtes Verhalten bzw. als Konflikte mit der eigenen Rolle. Die Rollenerwartungen seien zwar durch militärische Reglements und Offizierslehrbücher verbreitet und gefestigt worden, aber nicht rein militärischen Ursprungs, sondern auch kulturell bedingt. Die Unterschiede zwischen Deutschen und Franzosen seien gering. Allerdings unterstrich Demm den Thesencharakter seiner Ausführungen, der der bisher geringen Quellenbasis geschuldet sei.

Sektion II: Selbstzeugnisse II, Leitung Dierk Walter (Hamburg)

Eckard Michels (London) analysierte in seinem Beitrag "Ein Feldzug - zwei Blickwinkel? Paul v. Lettow-Vorbecks ,Meine Erinnerungen an Ostafrika' (1919) und Heinrich Schnees ,Deutsch-Ostafrika im Weltkriege - wie wir lebten und wie wir kämpften'"(1919) ein sehr bekanntes und ein weniger bekanntes Selbstzeugnis zur Kolonialkriegführung. Lettow-Vorbecks bis in die 1950er Jahre hinein immer wieder aufgelegtes und zudem früh übersetztes Buch sei in erster Linie eine "ermüdende Operationsgeschichte", so Michels, angereichert mit Schilderungen von Jagderlebnissen und Problemen der Ersatzstoffbeschaffung. Der ostafrikanische Gouverneur Schnee dagegen behandelte neben den militärischen Problemen auch die wirtschaftliche Mobilmachung und das Verhältnis zu den Eingeborenen. Bei ihm erscheine der Krieg nicht nur als eine Gemeinschaftstat von Militär und Zivilverwaltung, sondern bereits als ein tendenziell totaler Krieg mit möglichst vollständiger Mobilisierung aller verfügbaren wirtschaftlichen Ressourcen.

Christian Koller (Zürich) untersuchte in seinem Referat ",Die Ungebundenheit des Kriegslebens war man gründlich satt' - Die Legionserfahrung als biographische Krise in schweizerischen Selbstzeugnissen" den Stellenwert der Dienstzeit in der französischen Fremdenlegion in biografischen Texten schweizerischer Legionsangehöriger. Die von Koller herangezogenen Selbstzeugnisse umfassen den Zeitraum von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Er arbeitete heraus, dass die überwiegende Mehrheit der ehemaligen Fremdenlegionäre ihre Dienstzeit als Leidenszeit empfanden und ihre Entscheidung, in die Legion einzutreten, schnell bereuten. Koller sah den Entschluss zur Verpflichtung meist als Folge einer seelischen Depression und allgemeiner Orientierungslosigkeit. Der Eintritt in die Legion selbst könne als Übergangsritus beschrieben werden, mit der den "Neuen" die Legion zur alleinigen Heimat gemacht werden sollte. Die Rückkehrer aus der Legion seien in der schweizerischen Gesellschaft Außenseiter und gesellschaftlich entwurzelt gewesen.

"Autobiographien sind mentalitätsgeschichtliche Quellen für den Zustand der kollektiven Erinnerung zum Zeitpunkt ihrer Entstehung." Diese These war der methodologische Dreh- und Angelpunkt des Referates von Patrick Krassnitzer (Berlin): ",Der Krieg ist aus. Der Kampf um Deutschland geht weiter!' Milieuspezifische Weltkriegserinnerung und die Legitimation des Nationalsozialismus in den Autobiographien nationalsozialistischer Weltkriegsveteranen". Das autobiographische Gedächtnis sei aufgrund seiner Eigenschaften weder authentisch noch individuell, sondern durch den Einfluss kollektiver Erinnerungen geprägt. Wichtig sei die Untersuchung von "Erinnerungskollektiven" von Familien an aufwärts. Phänomene wie "importierte Erinnerungen" und "Quellenamnesie" brachten, laut Krassnitzer, in den von ihm vorgestellten Beispielen eine Überlagerung autobiographischer Eigensichten mit Elementen kollektiver Erinnerung mit sich. Das ursprünglich von Röhm stammende Narrativ von der "Geburt des Nationalsozialismus im Schützengraben" etwa kehre sehr häufig als "eigenes" Motiv der jeweiligen Autoren in den Weltkriegserinnerungen wieder.

Sektion III: Biographien, Leitung Michael Epkenhans (Friedrichsruh)

In seinem Vortrag: "Prominenter Feldherr - unbekannte Persönlichkeit? Methodische Probleme einer frühneuzeitlichen Biographie am Beispiel von Johann T. Graf v. Tilly (1559-1632)" zeigte Michael Kaiser (Köln), dass allenfalls nur "biographische Facetten" zu Tilly herausgearbeitet werden könnten, da kaum Nachweise zur Person des Feldherren überliefert seien und Selbstzeugnisse nahezu vollständig fehlten. Tillys geistige Umwelt, geschweige denn seine Gefühle ließen sich kaum erschließen. Quellenkritische Probleme bestünden laut Kaiser bei der Zuordnung von Schriftstücken. Da Tilly wenig Deutsch sprach, sei bei deutschsprachigen Dokumenten "häufig nur die Unterschrift authentisch". Wegen der "Beharrungskraft einmal sedimentierter Urteile", auch der konfessionell geprägten, stammten viele bis heute fortgeschriebene Wertungen zu Tilly bereits aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Tilly sei für seinen modernen Biographen somit nichts anderes als eine "Chiffre", die es aufzulösen gelte. Hierbei betonte Kaiser die Wichtigkeit der Offenlegung von Quellenlücken zur Verdeutlichung der Problematik, dass eingeschliffene Urteile häufig keine dokumentarische Basis hätten.

Annika Mombauer (Milton Keanes) führte in ihrem Beitrag ",... diese flüchtigen Aufzeichnungen dürfen niemals der Öffentlichkeit bekannt werden': Das Bild Helmuth von Moltkes in Selbstzeugnissen und in der Biographie" aus, dass die verbreitete Vorstellung vom "jüngeren" Moltke durch negativ konnotierte stereotype Sichtweisen bestimmt werde. Mombauer sieht dies in den Motiven der Vertreter der sogenannten Schlieffen-Schule begründet, die nach dem Tod des Feldherren Gründe für die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg suchten. Zugleich hätten sie von ihrer eigener Verantwortung, zum Beispiel für die Fehlannahmen bei der Umsetzung des Schlieffenplanes, ablenken wollen. Die Verteidiger Moltkes, die aus anthroposophisch geprägten Kreisen kamen (der bekannteste war Rudolf Steiner selbst), hätten dagegen das negative Moltkebild nur schwer revidieren können. Allerdings sei sich Moltke selbst nicht sicher gewesen, ob der kommende Krieg kurz oder lang sein werde. Da er aber gewusst habe, dass ein langer Krieg nicht gewonnen werden konnte, müsse ihm heute die Verantwortung zugesprochen werden, so Mombauer.

Olaf Meuther (Düsseldorf) zeigte in seinem Vortrag "Der Soldat Hugo Armann im Zweiten Weltkrieg" am Beispiel eines Hauptfeldwebels der Wehrmacht, der in Baranowitschi in Weißrussland Juden gerettet und einigen von ihnen auch Waffen gegeben hatte, die Problematik von Biographien "kleiner Leute" auf. Meuther verwies darauf, dass gerade in diesen Fällen die spärlich überlieferten Zeugnisse eine Annäherung an die jeweilige Person erschwerten, und unterstrich die Schwierigkeiten, die bei der notwendigen Gegenprüfung und Ergänzung der Selbstzeugnisse durch eine oft unzureichende Quellenlage aufträten. Zudem erschwerten, so Meuther, die Aufbewahrungsumstände von Selbstzeugnissen in den Familien der Nachlasser die Arbeit des Historikers. So sei Hugo Armann zwar in Yad Vashem geehrt worden, aber die einzigen heute verfügbaren Quellen über sein Tun in Weißrussland stammten aus dem Jahr 1983.

Jörg Hillmann (Hamburg) sprach zum Thema "Grossadmiral Erich Raeder und das Bild der Kriegsmarine im Nachkriegsdeutschland". Er zeigte, wie das Geschichtsbild der Kriegsmarine im kollektiven Bewusstsein ihrer Angehörigen unter der Maxime "Ehre der Marine" konstruiert worden sei. Laut Hillmann gleiche die Marinegeschichtsschreibung der Jahre bis zur Wiederbewaffnung einem ausgeklügelten Manöver, das den Eindruck vermitteln sollte, die Marine sei während des Zweiten Weltkriegs eine "saubere Teilstreitkraft" gewesen. An der Konstruktion dieses Bildes hätten alle wichtigen hohen Admiräle der Kriegsmarine mitgearbeitet und sich auch untereinander abgestimmt, vor allem was die Produktion von Memoiren betraf. Das politische Programm der ehemaligen Marineführung zur Rehabilitierung der Marine als Teilstreitkraft und der Versuch, ein positives Marinebild im kollektiven Gedächtnis der bundesdeutschen Nachkriegsöffentlichkeit zu implementieren, hätten dem Ziel gedient, den "Übergang vom Vorgestern zum Gestern reibungslos" verlaufen zu lassen.

Sektion IV: Gruppenbiographien, Leitung Stig Förster (Bern)

Die in dieser Sektion vorgestellten Gruppenbiographien gehörten alle in die zwei Jahrzehnte zwischen Spanischem Bürgerkrieg und deutscher Wiederbewaffnung, erweiterten die 'geographische' Bandbreite der Tagung aber durch die Einbeziehung der spanischen Soldaten der "Blauen Division". Stefanie Schüler-Springorum (Hamburg) wies in ihrem Vortrag: "Lust am Krieg. Die Legion Condor in autobiographischen Zeugnissen" darauf hin, dass wir über die etwa 19.000 Akteure der Legion Condor im spanischen .Bürgerkrieg noch immer nur sehr wenig wüssten. Nicht wenige dieser Männer hätten zwischen dem Ende des Bürgerkrieges und 1943 ihre Erinnerungen veröffentlicht, die teilweise recht erfolgreich gewesen seien. In literarischer Hinsicht habe das Spektrum dieser Texte von "klassischer Luftkampfliteratur" bis hin zum "Entwicklungsroman eines politischen Soldaten" gereicht. Gewalt sei in ihnen vielfältig repräsentiert - wiederum von der 'klassischen' Schilderung des Luftkampfes bis hin zu ausführlichen Darstellungen der Repression im Hinterland, und hier vor allem als Schilderung von sexueller Gewalt von 'Roten' gegen 'nationale' Frauen und Mädchen, deren "Detailfreude und pornographisch-sadistischer Charakter" nach Aussage der Referentin hervorzuheben sei. Diese Schilderungen hätten der "ideologischen Aufrüstung der deutschen Bevölkerung" gedient; sie seien als Quellen für die "psychische Disposition des männlichen Teils der deutschen Bevölkerung zu Kriegsbeginn" geeignet, aber kaum als Grundlage für eine Gruppenbiographie der Legion Condor, da hierfür eine "doppelte Dekonstruktion" dieser Texte nötig wäre.

Xosé Manoel Nunez Seixas (Santiago de Compostela) gab in seinem Vortrag "Russland war nicht schuldig. Die Ostfronterfahrung der spanischen "Blauen Division" in Selbstzeugnissen und Autobiographien, 1944-2003" einen Überblick über sein Vorhaben, das "Gedächtnis" der "Blauen Division" mit dem Ziel einer Gruppenbiographie zu erforschen. Bei den Mitgliedern der Division habe es sich im Kern um überzeugte Falangisten gehandelt, die ihren Kampf gegen die Sowjetunion als Fortsetzung des Bürgerkriegs begriffen hätten. Die Analyse der Selbstzeugnisse zeige, so Nunez Seixas, dass bei der Erinnerung das Kollektiv wichtiger als das Individuum gewesen sei, in den Biographien stehe immer die Blaue Division im Vordergrund, während der Einzelne hinter die Gruppe zurücktrete. Dies zeige sich etwa in der Idealisierung gemeinsamer Werte, wie Kameradschaft etc. Darstellungen von Fremderfahrungen würden in den Biographien einen breiten Raum einnehmen, die Verbrechen an der Ostfront allerdings nicht thematisiert. Insgesamt werde, so Nunez Seixas, das Selbstbild des tapferen Soldaten entworfen, der Russen und Juden immer mild behandelt habe. Man habe nicht für Deutschland gekämpft, sondern an der Ostfront gegen den Kommunismus, den gemeinsamen Feind.

Mit seinem Beitrag "Biographie und Sozialprofil - Neue Wege zu einer Sozialgeschichte der Wehrmacht. Die Mannschaften und Unteroffiziere der 253. Infanteriedivision 1939-1945" stellte Christoph Rass (Aachen) seinen Ansatz zur Erforschung von "Verlauf und Mechanismen des sozialen Wandels in einer Großeinheit der Wehrmacht" dar. Das Ziel dieser Strukturanalyse sei ein Vordringen in den "Mikrokosmos" einer Infanteriedivision und die Überwindung eines statischen Bildes von der Zusammensetzung solcher Gruppen. Anhand einer Analyse der Sozialprofile der Mannschaften und des Unteroffizierskorps der Division erläuterte Rass Möglichkeiten und Denkansätze zur Erforschung militärischer Gruppen in Bezug auf deren Zusammensetzung nach Altersdurchschnitt, sozialer Herkunft und Dienstzeiten. Am Beispiel von Daten aus Personalaktenbeständen der Wehrmachtauskunftsstelle, des Bundesarchivs und des DRK-Suchdienstes demonstrierte Rass den Einsatz empirischer Datenanalyseverfahren mittels einer Datenbank. Dieses Vorgehen, so Rass, eröffne im Anschluss an die Auswertung der Datensamples vielfältige neue Forschungsperspektiven.

Alaric Searle (München) plädierte in seinem Referat "Wehrmachtsgeneräle in der westdeutschen Nachkriegszeit (1945-1959): Das Fallbeispiel einer militärischen Elite nach einer Niederlage" dafür, derartige Gruppenbiographien nicht nur unter der Prämisse der nationalsozialistischen Vergangenheit der Generäle zu betrachten, sondern diese auch in den Kontext der Diskussion um die Wiederbewaffnung in der frühen Bundesrepublik zu setzen. Das Schreiben dieser Gruppenbiographie sei die Analyse von Formen des Gruppenverhaltens nach der Auflösung der Generalität als Berufsgruppe. Die Biographien würden bis 1949 durch die Erfahrungsgemeinschaft der Generäle, anschließend durch Fraktionsbildungen innerhalb der Gruppe und insgesamt durch den Anspruch der Generäle, wieder eine militärische Funktionselite zu werden, geprägt. In diesem Zusammenhang spiele die Diskussion um die Wiederbewaffnung eine wesentliche Rolle für die Positionierung der Generalität als Gruppe. Um diese Einflüsse zu verdeutlichen, plädierte Searle für das Heranziehen von Quellen, die den "Blick hinter die Kulissen" der Entstehung von Generalsbiographien erlaubten (wie etwa Briefwechsel). Nur so könne die Erinnerungsliteratur der Wehrmachtsgeneräle vor dem Hintergrund der Wiederbewaffnungsdiskussion verstanden werden.

Sektion V: Gruppenbiographien, Selbstzeugnisse und Kultur, Leitung Gerd Krumeich (Düsseldorf)

In seinem Beitrag "Vom Leben und Überleben in Gefangenschaft. Selbstzeugnisse von Kriegsgefangenen, 1757-1814" analysierte Lutz Voigtländer (München) die Aussagen frühneuzeitlicher Kriegsgefangener in Europa und Amerika. Der Vorgang der Gefangennahme werde in Briefen und Tagebüchern topisch als "gefährliches Ereignis" geschildert, ebenso die Bedrohung und die Entbehrungen im Rahmen der Gefangenentransporte. Auch "touristische" Beschreibungen des fremden Landes und seiner Bewohner seien zu finden, seit dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg auch Angaben zur Einstellung der Bevölkerung gegenüber den Gefangenen, zudem könnten Einzelheiten zur Unterbringung ermittelt werden. Nicht angesprochen würden in den Selbstzeugnissen hingegen persönliche Befindlichkeiten oder gemeinschaftsstiftende Elemente wie beispielsweise der Aspekt der Kameradschaft. Aus dem durchgängigen Nichtvorhandensein religiöser Äußerungen in den Selbstzeugnissen schloss Voigtländer auf eine Tendenz zur Säkularisierung bereits am Ende des 18. Jahrhunderts.

Michael Sikora (Münster) stellte in seinem Referat "Viele Briefe - eine Biographie? Reflexionen über die Scharnhorst-Edition" Probleme im Umgang mit einer Werkausgabe vor, die den Herausgeber "neben Textkritik und Präsentation" beschäftigen würden. Von Bedeutung für den Editor sei beispielsweise die Frage nach dem Erkenntniswert einer Werkausgabe in Abgrenzung zu einer biographischen Darstellung. Obgleich Scharnhorst so gut wie nie über seine Gefühle und sich selbst räsonniere und die Mehrheit der Texte in einer Personaledition eben keine "normalen" Selbstzeugnisse wie Briefe, Tagebucheinträge etc. seien, ließen sich aus diesen Schriftstücken dennoch Schlüsse auf den Erfahrungshorizont ihres Verfassers ziehen. Die kritische Aneignung von Erfahrung, so Sikora, sei für Scharnhorst die Voraussetzung erfolgreicher Kriegführung gewesen. Mit dem Nachvollziehen des Prozesses dieser Aneignung werde die Konstruktion von Erfahrung sichtbar und nicht nur das "Konstrukt Erfahrung".

Marcus Funck (Berlin) unterstrich in seinem Beitrag "Gebrochene Erinnerungen. Autobiographisches Schreiben deutscher Offiziere im 20. Jahrhundert", dass sich Autobiographien in der deutschen Geschichtswissenschaft keiner großen Beliebtheit erfreuten, und dies, wie der Referent meinte, zu recht. Ihre positivistisch und illustrative Verwendung schrecke ab. Heranzuziehen seien heute aber Methoden der Verwendung von Selbstzeugnissen, wie sie etwa die Alltagsgeschichte hervorgebracht habe: Selbst Offizierserinnerungen enthielten "ein Minimum an Wahrheitsliebe" (Lutz Niethammer). Ein neu idealisierter Begriff des Offiziersstandes sei nach dem Ersten Weltkrieg durch die Beschäftigung der Biographienschreiber mit dem eigenen Offiziersstatus während des Krieges entstanden.

Der Vortrag von Silke Satjukow (Jena) "Kriegshelden als Medien des Außeralltäglichen und des Vertrauens. Methodologische Überlegungen zur Erforschung eines langandauernden Phänomens" musste leider entfallen, ebenso wie die Abschlussdiskussion "Biographien und Selbstzeugnisse in der Militärgeschichte - Möglichkeiten und Grenzen"; letztere allerdings, weil am Schluss die Zeit nicht mehr reichte. So sympathisch es anmutet und so überraschend es für manchen Aussenstehenden sein mag, dass sich auch Militärhistoriker häufig weder durch Knappheit der Rede noch durch große Disziplin bei der Einhaltung von Anfangs- und Pausenzeiten auszeichnen - eine von Anfang an etwas strengere Diskussionsleitung wäre doch wünschenswert gewesen. Gerade angesichts des besonders im Vergleich zur vorherigen Jahrestagung des Arbeitskreises Militärgeschichte zum Thema "Besatzung" in Augsburg insgesamt erfreulich hohen theoretischen Reflexionsniveaus der Referate hätte eine resümierende Diskussion der theoretischen und methodischen Aspekte der Tagung großen Gewinn bringen können, zumal Karen Hagemann (Berlin) mit einem entsprechenden Impulsreferat bereitstand. So blieb es den Teilnehmern selbst überlassen, die verschiedenen theoretischen und methodologischen Stränge noch einmal zusammenzuführen. Trotz dieser kritischen Anmerkung bleibt das Bestreben der Organisatoren zu loben, methoden- und theoriegeleitete Diskussionen zum Stellenwert von Einzel- und Gruppenbiographien in der militärgeschichtlichen Forschung angestoßen zu haben. Man kann der Fortsetzung dieser hochinteressanten und anregenden Diskussion auf der nächsten Jahrestagung des Arbeitskreises Militärgeschichte im November oder Anfang Dezember 2004 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf zum Thema "Militärische Helden / Helden im Krieg" mit großem Interesse entgegensehen.


Redaktion
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