Europäische Ansichten. Brandenburg-Preußen - Eine multikulturelle Metropolenregion um 1800

Europäische Ansichten. Brandenburg-Preußen - Eine multikulturelle Metropolenregion um 1800

Organisatoren
Forschungszentrum Europäische Aufklärung e.V.
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.09.2003 - 27.09.2003
Url der Konferenzwebsite
Von
Annette Hilker

Die im Rahmen von "Kulturland Brandenburg" veranstaltete internationale Tagung hatte das Ziel, Brandenburg-Preußen durch subjektive Wahrnehmungen europäischer Reisender zwischen den 1760er und den 1840er Jahren anhand von Reiseberichten, Tagebuchaufzeichnungen und Briefen in einer europäischen Perspektive zu präsentieren. So betonte Günther Lottes in seiner Eröffnungsrede - nach den Grußworten der Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg, Johanna Wanka, und der Projektleiterin von „Kulturland Brandenburg 2003 - Europa", Hanne Landbeck - die Bedeutung Europas, dessen ‚Identität' im Koordinatensystem der verschiedenen Stellungnahmen europäischer Reisender situierbar und auf zweifache Weise bestimmbar wird: als Geschichte der Imagologie Brandenburg-Preußens und als kritische Selbstreflexion, so daß eine Korrektur dessen möglich wird, was bislang nur in mythologischer Verzerrung sichtbar wurde.

Den Auftakt dieser multikulturellen Perspektiven auf Brandenburg-Preußen bildete der Vortrag von Christoph Schulte (Potsdam) mit dem Titel "Jüdische Aufklärung in Berlin". Schulte konnte zeigen, daß die jüdische Aufklärungsbewegung in Berlin, die sich ab 1770 um Moses Mendelssohn herum institutionalisiert und zum Anziehungspunkt und Migrationsziel jüdischer Gemeindemitglieder aus ganz Europa wird, eine ambivalente Position zwischen religiösem Konservatismus und kulturellem Fortschritt bezieht: Berlin wird nämlich zum Paradigma der Aufklärung einer Minderheit, die zwar religiös, nicht aber sozial und kulturell eine Minderheit bleiben will. Die wichtigsten Köpfe dieser Aufklärungsbewegung in Berlin sind u.a. Moses Mendelssohn, Hartwig Wessely und Salomon Maimon.

Eine weitere ambivalente Position, die es kaum ermöglicht, zwischen religiös-konservativem und kulturell-progressivem Aufklärer zu unterscheiden, präsentierte Alessandro Costezza (Mailand) in seinem Vortrag "Carlo Denina in Berlin 1782-1804". Die Widersprüchlichkeit wurde besonders an zwei Punkten deutlich: Der italienische Abt Carlo Denina gilt zwar als progressiver Aufklärer, der das Ziel verfolgt, die zeitgenössische deutsche Literatur in Italien zu popularisieren, doch lassen seine in den Lettere brandenburghesi notierten Urteile auf einen historisch bedingten, allgemeingültigen Rezeptionshorizont schließen. Zweitens enthält sich der Katholik, der den Protestanten eine größere Toleranz zuschreibt als den Katholiken, in Bezug auf das Wöllnersche Religionsedikt (1788) jeglichen Kommentars. Ließe sich zwar einerseits diese Enthaltung durch die schlechte Erfahrung begründen, die ihm durch die Hetzkampagne der Berlinischen Monatsschrift gegen die katholische Proselytenmacherei zuteil wurde und die ihn zu einem Meinungswechsel gegenüber der preußischen Pressefreiheit bewogen haben könnte, kann man umgekehrt ebenso vermuten, daß er gegen die Religionsedikte nichts einzuwenden hatte.

Frauke Geyken (Göttingen) stellte in ihrem Beitrag "Gentlemen auf Reisen - britische Brandenburg-Bilder im 18. Jahrhundert" Wahrnehmungen vor, die vornehmlich geprägt sind von den stereotypen Konstrukten im Heimatland: Das Preußenbild der Briten, das mit den Topoi des Holy Roman Empire assoziiert als politisch nicht interessiert und kulturell allenfalls mit Kuriositäten und Kleinstaaterei verbunden wird, erfährt in den 1780er Jahren durch die Reiseberichte von John Moore eine „Korrektur“. Moore entwirft das Bild von Preußen als einem Militärstaat, der zwar bedrohlich erscheint, aber gleichwohl Vorbildcharakter für Großbritannien erreicht. Brandenburg bleibt dagegen weiterhin unbeachtet und gilt als kulturell rückständige Region.

In ihrem Beitrag "Die Vorbildfunktion der preußischen Aufklärung für die skandinavische Klassik" zeigte Karin Hoff (Kiel), daß die skandinavische Klassik die preußische Aufklärung zwar nicht dezidiert wahrnimmt, aber dennoch heterogen und selektiv rezipiert: Während Dänemark unter der Herrschaft Frederiks V. über den Einfluß des in Kopenhagen weilenden Klopstock eine dänische Nationalkultur zu fördern sucht, das die Ablösung von den Normen der französischen und preußischen Hofkultur anstrebt, orientiert sich Schweden unter dem kunstliebenden Gustav III. stark an den klassizistischen Vorgaben der französischen und preußischen Kultur. Bei der Gründung schwedischer Akademien, durch die die freien Künste nicht nur gefördert, sondern im Zuge ihrer Institutionalisierung zugleich der absolutistischen Kontrolle Stockholms unterliegen, spielt nicht zuletzt aufgrund der dynastischen Verbindungen die preußische Hofkultur eine wichtige Rolle.

Adelheid Müller (Berlin) präsentierte in ihrem Beitrag über Charlotte Elisabeth Konstantina von der Recke die doppelte Perspektive auf das intellektuelle Berlin einerseits und das höfische Preußen andererseits, die in zwei dokumentierten Preußenreisen zutage tritt. Während die erste Reise (1784-1786) durch die intensiven Kontakte zu den führenden Köpfen der Berliner Aufklärung - v.a. Nicolai, Spalding, Biester, Mendelssohn - geprägt und mit dem Ziel verbunden ist, "zum Besten der Warheit beizutragen" (was sie in Publikationen zur Entlarvung Cagliostros auch einlöst), fokussiert die zweite Reise (1791) dagegen den Hof Friedrichs II., dessen Feierlichkeiten sie vor dem Hintergrund der bislang beobachteten Debattierfreude im Hause Nicolai als monoton und leblos empfindet. Den König nimmt sie als Spielball von Intrigen wahr, die nicht durch politische, sondern vielmehr durch obskure Geisterbeschwörungen geleitet sind. Winfried Siebers (Potsdam) Beitrag "Eine türkische Gesandtschaft am Hof Friedrichs des Großen. Ahmed Ressimi Effendis Bericht über seinen Aufenthalt in Preußen" konzentrierte sich auf den ‚orientalischen' Blick des türkisch-osmanischen Gesandten auf den Hof Friedrichs II. 1763/64. Effendi beschreibt die faszinierenden Eindrücke, die er umgekehrt auf die Berliner Gesellschaft bei seinem Einzug am Hof hinterläßt und die man als "Turkomanie" bezeichnen könnte, vergleicht die kulturelle Vitalität und Vielfalt Berlins mit Potsdam als dem organisierten Zentrum rationaler Entscheidungen und militärischer Präsenz, und konstatiert die Ordnung der Verwaltung ebenso wie die rigorose Disziplin des Militärs, die mit einer sozialen Deklassierung der einfachen Soldaten einhergeht.

Der letzte Vortrag dieses Tages, "Die Graphikhandlung Pascal im Spiegel europäischer Vernetzung" von Christoph Frank (Rom/Potsdam), nahm eine Sonderstellung in der Vortragsreihe ein, ging es hier doch weniger um eine Imagologie Brandenburg-Preußens, sondern vielmehr um die kaum erforschte Entwicklung des Graphikhandels in Berlin ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts am Beispiel des Unternehmens Pascal.

Der Vormittag des zweiten Tages war zunächst drei französischen Perspektiven und Retrospektiven auf Preußen und Brandenburg um 1800 in vornehmlich literarischen Quellen gewidmet. Iwan D'Aprile (Potsdam) stellte in Mirabeaus Monarchie Prussienne sous Frédéric le Grand (1788) zwei Stilisierungsstrategien vor, mit Hilfe derer es dem in Preußen politisch aktiven Mirabeau gelingt, aus der Retrospektive nicht nur ein emphatisches Preußenbild zu generieren, sondern auch ein positives Gegenmodell zum desolaten Frankreich zu inszenieren: Seine Strategie hängt einerseits mit der Regentschaft Friedrich Wilhelms II. zusammen, dessen antiaufklärerische Aktivitäten die Regierungszeit Friedrichs II. retrospektiv aufwerten. Andererseits bildet das verhaßte, spätabsolutistische Frankreich die Negativfolie, in die er den preußischen ‚Föderalismus' als positives Gegenmodell einschreibt, um in der Tradition des Herodotschen Schemas der französischen Heimat den Spiegel vorzuhalten.

Im zweiten Beitrag "Der erste Eindruck ist ungemein traurig, vornehmlich im Winter. Mme de Staël unterwegs in Deutschland" stellte Brunhilde Wehinger (Potsdam/Berlin) den schriftstellerischen Blick der Mme de Staël auf Deutschland um 1803/4 vor und konnte zeigen, daß Mme de Staël Deutschland nicht mehr als Konglomerat einzelner Territorialstaaten, sondern als einen Kulturraum betrachtet. Sie wird zur Grenzgängerin zwischen den Kulturen, deren Differenzerfahrung als traumatisches Ereignis zugleich zum Movens ihrer Reisen und am deutlichsten in ihren Briefen thematisch wird. In De l'Allemagne geht es u.a. um die Beschreibung Berlins im Vergleich zu Paris: Das moderne Berlin sei zwar die wahre Hauptstadt des aufgeklärten Deutschland, doch Aufklärung noch immer eine männliche Angelegenheit. Vanessa de Senarclens (Genf/Berlin) machte in ihrem Vortrag "Preußen aus der Sicht eines Exilierten - Chateaubriand in Berlin um 1820" deutlich, daß die Eindrücke des französischen Diplomaten während des Aufenthalts in Preußen durchgehend negativ sind, aus der Retrospektive jedoch eine romantische Verklärung erfahren: Während Chateaubriand in seiner umfangreichen Korrespondenz die Einsamkeit, Stille und winterliche Kälte beklagt und mit den Wäldern Kanadas vergleicht, wird die Weite Preußens im 18 Jahre später verfassten 26. Band der Mémoires umgekehrt ‚romantisiert', abgelöst von literarischen Schilderungen eines "Asyls der Stille", von einer Poetik der Leere, die Kindheitserinnerungen von Cambourg evoziert. Als Echo einer vergangenen Welt wird Berlin hier zur Quelle seiner Imagination.

Auch der Vortrag "Pariser Reminiszenzen: Heinrich Heine blickt auf Preußen und Berlin" von Alexander Kosenina (Berlin) förderte aus der Retrospektive eines französischen Exililierten der 30er Jahre auf das Berliner "Justmilieu zwischen Philosophen und Belletristik" eine unerwartete Rehabilitierung der zunehmend in Misskredit geratenen Berliner Aufklärung zutage. Diese Positivierung geht einher mit einer Instrumentalisierung der führenden Köpfe der Berliner Aufklärung für seine Kritik an der "romantischen Schule", die er mit einem (zuweilen fanatischen) Katholizismus, Spiritualismus und Verworrenheit gleichsetzt: Erstens läßt Heine das ihm bislang verhaßte Berlin durch die Entwicklung einer aufgeklärten Vernunftreligion durch Luther, Lessing und Friedrich zur Hochburg protestantischer Denkfreiheit avancieren. Zweitens wird der umstrittene Nicolai zum "Champion" der Aufklärung, dessen nüchterne, aber fanatisch anmutende Aufklärungssucht Heine nutzt, um sie gegen die romantische Melancholie der 30er Jahre auszuspielen. Drittens rehabilitiert er die Popularphilosophen dadurch, daß sie die vertrackte Philosophie auf das Niveau allgemeiner Verständlichkeit absenken.

Im Beitrag "Das Bild Brandenburgs in den historischen Romanen George Sands" präsentierte Anne Baillot (Paris/Berlin) ein Preußenbild, das in Consuelo noch geprägt ist von gängigen literarischen Topoi, in La Comtesse de Rudolstadt jedoch an Differenziertheit gewinnt: Sand fördert hier das Unterdrückungsverhältnis zwischen Machthaber und Bevölkerung zutage und entwirft in der fiktiven Beziehung zwischen Friedrich II. und der Protagonistin ein ambivalentes Porträt des Königs, der Güte im Privaten und Despotismus im Politischen in sich vereint. Zudem wird Preußen zum Geburtsort okkultistischer Geheimgesellschaften, die Tyrannei und Unterdrückung bekämpfen und zur Quelle der Französischen Revolution werden. Europa erscheint am Ende des Romans emphatisch als deutsch-französisches Europa, das die Revolution hervorgebracht hat.

Katarzyna Kaminska (Posen) stellte in "Prinz Stanislaus Poniatowskis Bericht über seine Reise durch Preußen" den Blick des designierten Thronfolgers auf ein bereits im annektierten Posen beginnendes Preußen vor, der weniger vom politischen als vielmehr vom architektonisch-künstlerischen Interesse geprägt ist: Er besichtigt vornehmlich städtische Gebäude in Posen, erlebt Grodzisk als reiche, bierbrauende Stadt, die ihre Wälder zur landwirtschaftlichen Nutzung gerodet hat, ist fasziniert von den militärischen Manövern in Frankfurt/O. und überrascht von der höfischen Bescheidenheit in Sanssouci.

In dem die Tagung beschließenden Vortrag "Wahrnehmungen der polnischen Kultur in Preußen in den Reisebeschreibungen im späten 18. Jahrhundert" von Wojciech Kunicki (Breslau) ging es um die Perspektive des annektierten Schlesiens als preußische Provinz nach den friderizianischen Kriegen sowie Südpreußens nach der zweiten Teilung Polens 1792. Darin wurde deutlich, daß das annektierte Schlesien, das Preußen zwar langfristig stärken sollte, Preußen jedoch durch die Behauptung der polnischen Identität schwächt, indem ihre führenden aufklärerisch aktiven Intellektuellen versuchen, Südpreußen zu reformieren. Ab den 1790er Jahren kommt es zu einer zunehmenden Radikalisierung der Intellektuellen in Schlesien: Vor allem Zerboni schlägt konkrete Reformen in Bezug auf Südpreußen vor, die aus dem unterdrückten Land einen aufgeklärten Beamtenstaat ohne Korruption machen sollen. Doch Zerbonis Publikationen in der Südpreußischen Zeitung tragen ihm nur die Versetzung nach Brandenburg ein. Die Teilungen Polens können damit als Versuche revolutionärer intellektueller Beamter gelten, Reformvorschläge subkutan zu realisieren.

In den Diskussionen wurde u.a. deutlich: Die Analysen der Reiseberichte zeigten, wie überfrachtet die Wahrnehmung von stereotypen Konstrukten des Heimatlandes sind und wie notwendig daher ein methodologischer Versuch ist, neue Quellengenera zu eröffnen, die einen differenzierten Blick auf die Reisepraxis der Zeit ermöglichen.

Der Tagungsband wird in Kürze als Publikation vorliegen.


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