"Experten und Politik. Wissenschaftliche Beratung in geschichtlicher Perspektive" (Speyer, 10.-12.10.2001)

"Experten und Politik. Wissenschaftliche Beratung in geschichtlicher Perspektive" (Speyer, 10.-12.10.2001)

Organisatoren
Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer
Ort
Speyer
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.10.2001 - 12.10.2001
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Von
Johannes Platz, Universität Trier, FB III - Neueste Geschichte Email:

Vom 10.-12. Oktober des Jahres fand an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer eine Forschungstagung über die Reichweite und Grenzen wissenschaftlicher Politikberatung in historischer Perspektive statt. Veranstaltet wurde die Tagung vom Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung an der DHV Speyer.

Die Tagung hatte sich eine "Neuvermessung des Verhältnisses Wissenschaft, Beratung und Politik" zum Ziel gesetzt. Die Tagung nahm sich des Themas in vier Sektionen aus unterschiedlichen Perspektiven an. In der ersten Sektion wurde in nationalgeschichtlich-diachroner Perspektive die Entwicklung von den Anfängen der wissenschaftlichen der Politikberatung im 19. Jahrhundert über Kaiserreich, Weimarer Republik und Nationalsozialismus sowie in der DDR beleuchtet, während in der zweiten Sektion über Ressortberatung der mikrohistorische Ansatz überwog. Die Vorträge der dritten Sektion behandelten das Verhältnis von Beratern und Beratenen vornehmlich anhand biographischer Studien zu den wissenschaftlichen und politischen Akteuren. Die vierte Sektion schließlich hatte neue Wissensformen in der Beratung wie Demoskopie, Wahlkampfberatung, Zukunftsforschung und organisationswissenschaftliche Beratung zum Gegenstand.

In der ersten Sektion präsentierte Hans-Christof Kraus (Stuttgart) eine Reihe systematischer Fallstudien zu "Vorformen und Anfängen der Politikberatung im 19. Jahrhundert" durch Juristen, Historiker, Ökonomen, Pädagogen und Philosophen in Fragen der Verfassung, der Sozialreform sowie der Bildungs- und Schulreformen. Kraus kam zu dem Schluss, dass es vor 1900 eine instutionalisierte, nach festen Regeln ablaufende Politikberatung nicht gegeben hat, sondern dass sie vielmehr nach dem Zufallsprinzip, bzw. nach vorausgehenden sozialen und informellen Kontakten zwischen Herrschern/Verwaltung und Wissenschaftlern erfolgte.

Margit Szöllösi-Janze (Köln) schlug in ihrem Vortrag "Wissenschaft vom ersten Weltkrieg bis zum Nationalsozialismus" vor, das soziologische Konzept der "Wissensgesellschaft" als Formationsbezeichnung auf seine Brauchbarkeit zu prüfen und es verwendbar zu machen, indem man es historisiert. Unter Wissensgesellschaft versteht Szöllösi-Janze eine Gesellschaftsformation, in der die Wissenschaft als Produktivkraft darstellt und in der tendenziell alle gesellschaftlichen Bereiche von wissenschaftsförmigem Denken durchzogen werden. Sie plädiert dafür, dieses Modell auf eine Zeitgeschichte anzuwenden, die ein "langes zwanzigstes Jahrhundert" von 1880 bis zur Gegenwart umfasst. In der Annahme, dass die Bereiche des Sozialen, der Technik, industriellen Produktion einem Trend zur Verwissenschaftlichung unterlagen, der das institutionelle System der Wissenschaft nachhaltig veränderte zeichnete Szöllösi-Janze drei Entwicklungsstränge vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus nach. Den ersten Entwicklungsstrang verortete sie im anwendungsbezogenen Bereich der Rationalisierung der Arbeitswelt und in den Normalisierungsdiskursen und -praktiken der Humanwissenschaften. Der zweite ist der im industriellen-naturwissenschaftlichen Sektor seit dem ersten Weltkrieg unter Autarkiegesichtspunkten beschrittene Weg einer industriellen Forschungs- und Entwicklungspolitik, der sich im Ausbau industrieller Forschungseinrichtungen niederschlug. Den dritten Strang bildet schließlich Verflechtung von Akteuren aus Wirtschaft, Staat und Militär, welche den Typ interdisziplinärer und teamorientierter Großforschung hervorbrachte.

Das Verhältnis zwischen "Wirtschaftswissenschaften und Wirtschaftspolitik in der DDR von der Reformzeit unter Ulbricht und der Honecker-Ära" analysierte André Steiner (Potsdam). Ausgehend von der Vorstellung des wissenschaftlichen Sozialismus beanspruchte die SED die Planungshoheit über die gesellschaftliche Entwicklung zu besitzen und von daher eine "wissenschaftliche Politik" zu betreiben. Weitgehend habe jedoch der ideologische Rahmen die Rolle und die Position von Experten und Expertengremien bestimmt. Nach einer weitgehend rigiden Wissenschaftspolitik in den 50er Jahren, in der auch für die Wirtschaftswissenschaften nur geringe Handlungsspielräume bestanden, weil wirtschaftspolitische Entscheidung und wirtschaftswissenschaftliche Analyse weitgehend von einander abgekoppelt blieben, änderten sich die Rahmenbedingungen in Folge der Existenzkrise der DDR 1960/61 dahingehend, dass die politische Führung im Zuge der anstehenden Wirtschaftsreform die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in die wirtschaftspolitischen Koordinationsmechanismen integrierte; so konnten diese zu deren Umgestaltung beitragen. In der Honecker-Ära unterlagen die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften dann jedoch einem rapiden Bedeutungsrückgang, da die SED-Politik sich mehr und mehr als beratungsimmun erwies und die in den 60er Jahren fortgeschrittene Institutionalisierung der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, die mit einer Integration in die politikberatende Funktionen einher gegangen war, wieder verstärkt auf Kontroll- und Leitungsinstanzen reduziert wurden. Die Politik selbst wurde dadurch der kritischen Analyse entzogen.

Thematisch schloss die zweite Sektion über die "Ressortberatung in der Bundesrepublik" mit Gabriele Metzlers (Köln) Beitrag über "Versachlichung statt Interessenpolitik. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung beim Bundeswirtschaftsministerium" gelungen an. Der 1963 zum ersten Mal einberufene Sachverständigenrat hatte die Erstellung von Gutachten zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zur Aufgabe, jedoch keine konkreten wirtschaftspolitischen Empfehlungen auszusprechen. Dadurch, dass er seine Gutachten publizierte, erstreckte sich die Wirkung seiner Beratung auch auf die Öffentlichkeit von Parlament, Verbänden und Publizistik. Das wissenschaftliche Leitbild des Rates war das wertneutraler Wissenschaft. Die reale politische Funktion und Bedeutung lag hingegen weniger in der Nutzung von Wissensressourcen, denn in gesamtgesellschaftlicher Integration. Seine Tätigkeit wurde in der zeitgenössischen Kritik als formal nicht legitimiert und typische Form "indirekter Gewalt" betrachtet.

Mit der Atomkommission beim Bundesministerium für Atomfragen stellte Bernd A. Rusinek (Düsseldorf) in seinem Vortrag über "Die Rolle der Experten in der Atompolitik" eine ungleich direktere Form der Einflussnahme von Industrie und Wissenschaft auf dieses wissenschaftspolitisch und wirtschaftlich zentrale Politikfeld der jungen Bundesrepublik vor. Diese 25 Mitglieder umfassende Kommission, in die Wirtschaft, Banken und kommunale Unternehmen, Gewerkschaften, Politik und die Wissenschaften Mitglieder entsandt hatten, war ein Gremium, das zur effektiven Entscheidungsfindung in Atomfragen gegründet worden war. Durch die politische Entscheidung, dem "schlanken" und noch wenig kompetenten Atom-Ministerium eine hochkarätige Kommission beizugesellen, entwickelte sich im ersten Jahrzehnt seines Bestehens eine Wissensasymmetrie zwischen dem Expertengremium und der Ministerialbürokratie. Vor dem Hintergrund des geänderten Staats- und Politikverständnisses, einer steigenden Fachkompetenz in Politik und Ministerialbürokratie, der gewandelten Öffentlichkeit in den 60er Jahren sowie der geänderten Diskussionskultur hatte sich die Atomkommission als intransparentes, der öffentlichen Kontrolle entzogenes Expertengremium Ende der 60er Jahre überlebt und wurde als überkommenes Politikforum Anfang der 70er aufgelöst.

Die Bildungsressortforschung war Gegenstand des Beitrags von Wilfried Rudloff (Speyer). Rudloff untersuchte unter dem Titel "Wieviel Macht den Räten? Wirkungschancen und Einflussgrenzen von Politikberatung im bundesdeutschen Bildungswesen während der Boomjahre" die Verwissenschaftlichung der Politik im Zusammenhang des Bildungsbooms anhand der wichtigsten Beratungsgremien des deutschen Bildungspolitik, nämlich dem Deutschen Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen, dem Wissenschaftsrat und dem Deutschen Bildungsrat. Rudloff beleuchtete die Konstruktionsprinzipien der Expertengremien sowie die Fragen nach Auftrag und Selbstverständnis der beratenden Akteure und nach der Durchschlagskraft der wissenschaftlichen Expertise. Von politisch noch eher geringer Bedeutung blieb das erste Beispiel. Der 1957 gegründete Wissenschaftsrat wies eine institutionell differenzierte Parallelstruktur von Wissenschafts- und vetofähiger Verwaltungskommission auf, wodurch Berater und Entscheider bereits in der Planungsphase zusammengeführt wurden. Der schließlich 1965 gegründete deutsche Bildungsrat, der wegen des Widerstandes der Länder nicht den gleichen institutionellen Integrationsgrad wie der Wissenschaftsrat erreichte, kam am ehesten dem Modell der wissenschaftlichen Politikberatung gleich, insofern er sich selbst als forschungsgestütztes Gremium verstand. In der sich verschärfenden politischen Kontroverse um die Bildungsreform konnte der dem pragmatischen Politikberatungsmodell verpflichtete Bildungsrat nicht mehr in dem Maße politikgestaltend wirken wie seine beiden Vorläufer. Rudloffs Fallstudien zeigen, dass institutionelle Integration und die Verschränkung mit den Entscheidern den Erfolg der wissenschaftlichen Beratung weit stärker sichern als der wissenschaftliche Charakter der Beratung alleine.

Im ersten Block der Nachmittagssektion über "Berater und Beratene" lag das Schwergewicht mehr auf der Beratergruppe. Hierbei stellten sich aufschlussreiche Kontinuitäts- und Diskontinuitätsfragen. In Clemens Albrechts Beitrag über die "Politikberatung durch die Frankfurter Schule" entwickelte dieser ein Wirkungsmodell, das auf den verschiedenen Kapitalformen der sozialen Akteure aufbaut. Neben dem ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapital, die an Bourdieusche Kategorien erinnern, führte Albrecht die Kategorie des "moralischen Kapitals" als ein spezifisches Kapital ein, das "Opfer" und "Unterdrückte" aktivieren. Diesem Modell zufolge hätten die remigrierten Vertreter der "Kritischen Theorie" in Fragen der Politikberatung vorwiegend ihr "moralisches Kapital" als NS Verfolgte und vertriebene jüdische Wissenschaftler aktiviert. Albrecht demonstrierte seine These anhand einer Fallstudie über die politikberatende Funktion, die das Frankfurter Institut für Sozialforschung gegenüber Experten des Amtes Blank zeitweilig einnahm, wobei die remigrierte Frankfurter Schule jedoch durch die Wahl des falschen Bündnispartners innerhalb des Amtes Blank letztlich eher scheiterte.1

Die Kontinuität der ungleich erfolgreicheren Netzwerkarbeit Hans Harmsens konnte Sabine Schleiermacher (Berlin) in ihrem Vortrag "Lobbyist für Bevölkerungspolitik. Hans Harmsen in Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Bundesrepublik" aufzeigen. Der Mediziner und Nationalökonom Harmsen, der sich auf Fragen der Sozialhygiene und der Bevölkerungspolitik spezialisiert hatte, baute über eine Vielzahl von Mitgliedschaften seit der Weimarer Republik ein Netz von Verbindungen und Beziehungen auf, das von der völkischen Bewegung, über sozialhygienische und bevölkerungspolitische Experten bis hin zu Gesundheitspolitikern reichte. Wichtige Gegenstände der Beratung bildeten in der Weimarer Zeit Fragen der Eugenik und der Entwurf eines Sterilisierungsgesetzes. Im Rahmen seiner Tätigkeit in der "Inneren Mission" beriet, rechtfertigte und unterstützte er die Sterilisationen in Folge des nationalsozialistischen "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses". Im Anschluss an die 1939 erfolgte Habilitation konnte Harmsen seine Hochschulkarriere ausbauen, an die er im Jahre 1945 als Leiter der "Akademie für Staatsmedizin" als einer Ausbildungsstätte und ab 1946 an der Universität Hamburg fast nahtlos anschließen konnte. Auch in der Bundesrepublik setzte Harmsen seine Vernetzungsarbeit im Feld der Bevölkerungspolitik fort. Über die Netzwerke und eine Reihe von Publikationsorganen, deren Herausgabe teilweise in Harmsens Händen lag, trug er zur Verbreitung und Durchsetzung eigener Ideen bei. Schleiermacher konnte überzeugend zeigen, welche Kontinuitäten im Feld der Bevölkerungswissenschaften und -politik zwischen Weimar, dem "Dritten Reich" und der Bundesrepublik bestanden und wie diese sich über personale Netzwerke erhielten.

Einen anderen Fall personaler Kontinuitäten stellte Detlef J. Blesgen (Bonn) mit seinem Vortrag „Erich Preiser als Politikberater“ vor – jedoch unter umgekehrten Vorzeichen. Der Volkswirt Preiser, der bei Franz Oppenheimer studiert hatte, gehörte von 1940 bis 1943 der Klasse IV der „Akademie für deutsches Recht“ und später (1943/44) der dem Widerstand zuzurechnenden „Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckerath“ an, in der er zusammen mit anderen regimekritischen Teilnehmern die begonnenen Arbeiten über die wirtschaftspolitischen Möglichkeiten eines konsequenten und möglichst reibungslosen Übergangs von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft fortsetzte. Obgleich die Diskussionen aufgrund der nach dem 20. Juli 1944 einsetzenden Verfolgungen nicht abschließend beraten werden konnten, weisen die zahlreichen Ausarbeitungen deutliche Bezüge zum Konzept der „Sozialen Marktwirtschaft“ auf. In der Nachkriegszeit gehörte Preiser ab 1948 dem „Wissenschaftlichen Beirat“ der „Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebietes“ und ab 1950 „beim Bundesministerium für Wirtschaft“ an. Hier entwickelte er eine vermittelnde Tätigkeit zwischen den marktwirtschaftlichen und planwirtschaftlichen Positionen innerhalb des Beirats unter der Zielvorstellung einer „nach sozialen Zielen gesteuerten marktwirtschaftlichen Ordnung“. Konkret zeigte Blesgen Preisers Wirkung anhand der Beispiele der Vermögensbildung und des Miteigentums der Arbeiter am Produktivkapital auf.

Im zweiten Block standen bei Hans-Peter Mensing (Bonn-Bad Honnef) und Daniela Münkel (Göttingen) die "Beratenen" im Mittelpunkt. Beide Beiträge boten einen Überblick über die Vielfalt der Beratungsverhältnisse, in denen sich Konrad Adenauer und Willy Brandt befanden. Mensings Vortrag über Konrad Adenauers Regierungsstil wandte sich gegen das verbreitete Bild, Adenauer sei der Kanzler der "einsamen Beschlüsse" gewesen. Pointiert formulierte Mensing, dass Adenauer gerade "Effizienz durch Teamwork und Koordination" erzielt habe. Aus dem Nachlass Adenauers beleuchtete der Referent, die in der Tat vielfältigen und auch tiefgehenden Intellektuellenkontakte Adenauers. Dabei zeigte er auf, dass Adenauer bereits in der "ersten Ära Adenauer", nämlich als Kölner Oberbürgermeister, Beraternetze um sich scharte und wie er in der Nachkriegszeit zum Teil an diese Netzwerkverbindungen wieder anknüpfen konnte.

Daniela Mönkel berichtete über "Willy Brandt und seine Berater". Brandt verstand es seit seiner Wahl 1960 zum Parteivorsitzenden der SPD, Intellektuelle und Wissenschaftler an die SPD zu binden und sich darüber auch als ein Politiker der Intellektuellen zu inszenieren. Dadurch, dass er - auch parteifremde - jüngere Fachleute und ihre Expertise in den unterschiedlichsten Politikfeldern der Bildung, der Gesundheit, der Stadtplanung und Familie zu integrieren wusste, konnte er für die SPD ein dynamisches und modernes Image aufbauen. Jedoch hat Brandt es nicht verstanden, einen tatsächlichen "brain trust" aufzubauen, vielmehr seien seine Kontakte zu den genannten Gruppen eher durch seinen diskursiven Politik- und Führungsstil und den persönlichen Kontakt geprägt gewesen. Während seiner Regierungszeit als Kanzler habe Brandt ein internes Beraternetzwerk aufgebaut, während der Rückgriff auf externe Politikberatung eher geringer ausgeprägt gewesen sei, als unter der Regierung Erhard.

In der vierten Sektion ging es anhand der Beispiele der Demoskopie, der Zukunftsforschung, der Wahlkampfberatung und der Organisationswissenschaften um "neue Arten des Querschnittswissens in der Beratung" von den 50ern bis in die frühen siebziger Jahre.

Christoph Conrad (Wassenaar, NL) und der nachfolgende Vortrag von Alexander Schmidt-Gernig (Berlin) lösten sich etwas von dem institutionengeschichtlichen bzw. biographischen Muster, dem die meisten Tagungsbeiträge folgten, indem sie für ihre Beiträge vergleichende kulturhistorisch orientierte Ansätze wählten. Conrad stellte den Stilwandel der Politik, der sich infolge der Anwendung von Umfrageforschung ergab, unter dem Titel "Wähler als Konsumenten. Demoskopie und ihr politischer Gebrauch in der frühen Bundesrepublik" vor. Bei den in der Zwischenkriegszeit entwickelten Verfahren der Demoskopie handelt es sich um eine neuartige "Technologie der Öffentlichkeit". Durch ihren Gebrauch - so die These - in Politik, Medien und Unternehmen werden veränderte Verhältnisse zwischen Regierenden und Regierten, Medien und ihren Nutzern sowie Unternehmern und ihren Kunden erzeugt. Zwar handelt es sich bei der kommerziellen Meinungsforschung nicht um eine Wissenschaft im engeren Sinne, doch mobilisierten die Meinungsforscher die "Wissenschaftlichkeit" als Ressource, um ihr Produkt zu legitimieren und investierten daher in erheblichem Maße in die methodologische Absicherung und die Verfeinerung ihrer Verfahren. In einer konkreten Fallstudie demonstrierte Conrad, wie Adenauer die Demoskopie im Zusammenhang der Wiederbewaffnung einsetzte.

Der Beitrag von Frank Bösch (Göttingen) über "Wahlkampfberatung - Die CDU in vergleichender Perspektive (1949-1972)" schloss thematisch passend an Conrads Fallstudie an. In vergleichender Perspektive mit der großen Konkurrentin SPD zeigte Bösch, dass es nicht die Sozialdemokraten waren, die in den 60er Jahren den am amerikanischen Muster orientierten Wahlkampf einführten, sondern bereits in den 50ern die CDU. Da die Parteiorganisation der CDU in diesem Jahrzehnt noch schwächer entwickelt gewesen sei als die der funktionärsstärkeren SPD, sei die CDU auf professionelle externe Unterstützung weit stärker angewiesen gewesen. Aufgrund ihrer engeren informellen Tuchfühlung mit Großunternehmen kam die CDU bereits in den fünfziger Jahren mit dem Wissen über neuere Methoden der Marktforschung und -werbung in Berührung. Anfangs erfolgte die Wahlkampfberatung über das informelle Umfeld Adenauers und Erhards, ab den späten fünfziger Jahren lief sie offiziell über die Parteiführung, die zwei der umsatzstärksten Werbeagenturen sowie zwei Meinungsforschungsinstitute politikberatend hinzuzog. Im internen Verkehr versuchten sich die neuen Experten aus den Agenturen über eine hohe Zahl von Denkschriften zu profilieren. Der reale Einfluss sei aber von den führenden Köpfen der Agenturen ausgegangen. Die Umfrageergebnisse der Pre-Tests und Erhebungen hatten direkten Einfluss auf Akzentsetzungen der Regierungspolitik in der Vorwahlzeit. Auf die Empfehlungen der Werbeexperten und Meinungsforscher gehen die Vereinheitlichung des Erscheinungsbildes der CDU, die Emotionalisierung und Entpolitisierung der Wahlkämpfe sowie deren weitgehende Personalisierung zurück. Andererseits bot ihr akkumuliertes Wissen über Zielgruppen, deren Verteilung und die Milieuveränderungen in der Nachkriegszeit wichtiges Planungswissen für die adressatenbezogene Verteilung der Wahlkampfmittel, die Streuung der Anzeigen und die Wahl der Strategie.

Alexander Schmidt-Gernigs (Berlin) Vortrag "Kann man 'Zukunft' planen? - Leitbilder und Planungskonzepte der Zukunftsforschung in den 60er und 70er Jahren" widmete sich der Futurologie. Nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte diese sich in einer Reihe von westlichen Ländern als ein Typus empirisch fundierter zukunftsorientierter Expertise, der im Unterschied zu den eher sozialutopischen, teleologisch argumentierenden Entwürfen der Zwischenkriegszeit auf eine prognostische Modellentwicklung zielte, die sich an Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten orientierte. Die Zukunftsforschung konnte sich in einer Reihe von Institutionen etablieren. In den USA etwa rechnet Schmidt-Gernig die RAND-Corporation oder das Hudson-Institut zu ihnen, für Frankreich nannte er wissenschaftliche Institute im Umfeld der Planifikationsbehörden. Als vorherrschendes Leitkonzept etablierte sich in den 50er Jahren die Kybernetik, deren Regelkreismodell auf Entscheidungs-, Regulierungs- und Kontrollmechanismen übertragen wurde. Die Schwerpunkte der Futurologie lagen zum einen im Bereich des technologischen Wandels und seiner Auswirkungen auf die "Wissens-, Dienstleistungs- und Kommunikationsgesellschaft", zum zweiten im Bereich der Auswirkungen der kommunikationstechnologischen Wandels auf die internationalen Beziehungen. Die dritte Gruppe, die sich vor allem Gegen Ende des langen Booms in den frühen Siebzigern etablierte, fragte nach den sozialen und ökologischen Kosten des rapiden gesellschaftlich-technologischen Wandels. Abschließend zeigte Schmidt-Gernig vergleichend auf, weshalb sich die Futurologie in der Bundesrepublik nicht in dem Maße als Planungswissenschaft etabliert hat, wie dies in den USA, Frankreich und der Sowjetunion der Fall gewesen ist.

Winfried Süß' (München) Vortrag "'Rationale Politik'. Sozialwissenschaftliche Beratung bei der Neuorganisation der Bundesregierung im Übergang von der Großen zur Sozialliberalen Koalition" behandelte die interministerielle Beamtenprojektgruppe "Regierungs- und Verwaltungsreform", die nicht nur die Inhalte, sondern auch die Modi des Verwaltungshandelns ändern sollte. Süß' rekonstruierte in drei Schritten die Konflikte und Aushandlungsprozesse um die Institutionalisierung dieses Innovationsgremiums, die Binnenstruktur der Kommission, um schließlich die realen Einflußchancen und Grenzen sozialwissenschaftlicher Beratung zu bestimmen. Die Arbeit dieses interministeriellen Reformausschusses zeigt, dass sich in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre der Stellenwert sozialwissenschaftlicher Expertise gesteigert hatte; einerseits eigneten sich einzelne der Kommissionsmitglieder sozialwissenschaftliche Erkenntnisse an, andererseits zogen sie den Expertenrat verschiedener Sozialwissenschaftlergruppen heran. Die interministerielle Arbeitsgruppe wandte die neuen Organisationsprinzipien aber auch auf die eigene Arbeit an. Um die realen Wirkungen der sozialwissenschaftlichen Expertise einzuschätzen, unterschied Süß drei Einflussebenen, nämlich erstens innerhalb der Projektgruppe, zum zweiten bezüglich des Einflusses auf die Umsetzung von Reformvorschlägen und drittens die Rückwirkung der Beratungstätigkeit auf die Experten selbst. In den Jahren 1969 bis 1971 hat die Projektgruppe als "Transferagentur sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse" in die Praxis gewirkt. Lediglich die Reformvorschläge des ersten im August 1969 vorgelegten Berichts der Projektgruppe zeigten reale politische Folgewirkungen auf die Organisation der Bundesregierung. Die Rückwirkungen auf die beteiligten Wissenschaftler und auch ihr Fach allgemein seien durch verbesserte Forschungsmöglichkeiten und erhöhte Ressourcen dagegen höher zu veranschlagen, so dass die politikorientierte Beratung indirekt zu einer disziplinären Festigung der Regierungs- und Verwaltungsforschung beigetragen habe.

Die Diskussionen der Tagung haben gezeigt, dass die "Neuvermessung des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Politik" ein sinnvolle Forschungsaufgabe darstellt und dass die Zeitgeschichte sich der methodischen Herausforderung, "die" Wissenschaft als Produktivkraft und Lieferant von Deutungsmustern zu untersuchen, stellt. Offen bleibt, ob es dazu eines neuen Formationsbegriffes bedarf, wie es das vorgestellte Modell einer "Wissensgesellschaft" vorsieht oder ob ein akteursbezogenes Modell der Verwissenschaftlichung, das auf eine andauernde Präsenz von wissenschaftlichen Experten verweist, jenem vorzuziehen ist.

Der vorgeschlagene Zeitrahmen - nämlich ein langes zwanzigstes Jahrhundert - leuchtete ein, da Ordnungsvorstellungen und Ideen in der Praxis häufig eine längere Beständigkeit aufweisen als kurzfristige Konjunkturen im Feld der Wissenschaft es vermuten lassen. Wichtiges Ergebnis war, dass für eine ganze Reihe politischer Bereiche in Mikrostudien die nachhaltige Wirkung wissenschaftlicher Experten und ihrer Expertise nachgewiesen werden konnte. Dabei wurde das bewährte Argumentationsmuster, die Praxis sei nicht wissenschaftlich und die Theorie sei der Anwendung fern, in Frage gestellt. Wenn auch der angestrebten "Neuvermessung des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik" im wesentlichen in Einzelfallstudien nachgegangen wurde, kann angesichts der thematischen Breite der Tagung festgestellt werden, dass Carl Böhrets (Speyer) pointierte These, der zufolge der Wissenschaftler in der Praxis häufig den "Neo-Narren" gebe, nur in der geringeren Zahl der Fälle zutrifft und dass Versachlichung und Rationalisierung von Verwaltungshandeln durch wissenschaftliche Expertise ein breites Forschungsfeld kennzeichnen, in dem noch viele Fragen zu klären sind. Vor diesem Hintergrund kann man auf die Publikation der Ergebnisse der Tagung, die von Dr. Wilfried Rudloff und Prof. Dr. Jörg Fisch an der DHV Speyer vorbereitet wird, überaus gespannt sein.

Anmerkung:
1 Der Berichterstatter, der zum Thema Sozialwissenschaften in der
Bundeswehr arbeitet, wird in seiner Dissertation hierzu eine Untersuchung
vorlegen.


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