H-Soz-u-Kult Review-Symposium:

Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus


[Die folgende Rezension erschien in der Wochenzeitung DIE ZEIT vom 27.7.2000, S. 45 f. Wir danken dem Autor und der Redaktion für die freundliche Überlassung des Textes.
P. Helmberger]


Manfred Hettling

Rezension zu:
Rüdiger Hohls und Konrad H. Jarausch Hg., Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus, Stuttgart 2000

'Wie hieltest Du es mit dem Nationalsozialismus?' - diese Gretchenfrage der Nachgeborenen wird seit dem Historikertag 1998 in Frankfurt in der geschichtswissenschaftlichen Zunft erregt diskutiert. Im Mittelpunkt stehen vor allem Theodor Schieder und Werner Conze, die intellektuell und vor allem institutionell einflußreichsten Historiker der Nachkriegszeit. In den letzten Jahren wurde durch Arbeiten von Götz Aly, Karen Schönwälder, Peter Schöttler, Willi Oberkrome, Michael Fahlbusch u.a. bekannt, daß sich zahlreiche Historiker unter dem Zeichen des Volkstumskampfes eng mit dem Nationalsozialismus verbunden hatten. Im Kern dreht sich der Streit über antisemitische Äußerungen im Kontext geplanter Umsiedlungen im Osten, und um die Mitarbeit an bevölkerungspolitischen Plänen nach Beginn des Weltkriegs. Das brisante Problem besteht darin, welche zurechenbare Verantwortung die von Historikern (und anderen) propagierte "Entjudung" polnischer Städte für den kurze Zeit später vollzogenen Judenmord hatte. Nach 1945 schwiegen Theodor Schieder und Werner Conze - wie so viele andere - beharrlich über ihre eigene Rolle.

In dem Maße, wie der "faustische Pakt" (Hans Mommsen) von Ostforschung und Nationalsozialismus ans Tageslicht kommt, wird die einflußreiche Stellung und die Reputation von Historikern wie Schieder und Conze in den Jahrzehnten nach 1945 zum Problem. Erkannte man ihre aktive Teilnahme am Nationalsozialismus nicht, oder ließen sich seit den 50er Jahren auch die Schüler in den Schweigekonsens ihrer akademischen Lehrer einbinden? Vielleicht aus Gleichgültigkeit, vielleicht aus Karriererücksicht?

Unstrittig ist, daß in den Jahrzehnten nach 1945 kaum jemand danach fragte, was die Größen des Faches eigentlich vor 1945 gemacht hatten. Das mag im Rückblick verwundern, gehören doch mit Reinhart Rürup, Hans und Wolfgang J. Mommsen und Hans-Ulrich Wehler auch Historiker dazu, die unter dem Banner einer "emanzipatorischen Geschichtswissenschaft" entscheidend zur scharfen Verurteilung und zur Überwindung der nationalsozialistischen Überhänge in der Bundesrepublik beigetragen haben. Sie stehen nun selber im Kreuzfeuer der Kritik, scheint doch einigen inzwischen die Sozialgeschichte durch die Herkunft aus der "braunen" Volksgeschichte diskreditiert.

Drei Ebenen überschneiden sich in dieser Kontroverse. Es geht erstens darum, welchen Anteil Historiker wie Schieder und Conze (und viele andere aus der "Ostforschung") an der intellektuellen Vorbereitung und der Durchführung des Judenmordes hatten. Zweitens dreht sich der Streit um die Frage personeller Kontinuitäten über 1945 hinaus, und drittens gründet der Streit im unterstellten Vorwurf, die Sozialgeschichte habe ihre intellektuellen Wurzeln in einer dem Nationalsozialismus zuarbeitenden Volksgeschichte.

Neu ist hierbei vor allem die Frage nach den langfristigen intellektuellen Kontinuitäten und Veränderungen über den Nationalsozialismus hinaus. Hans Rothfels ist in diesem Kontext eine der spannendsten Figuren. Als Person charismatisch, in den 20er Jahren etatistischer Neokonservativer und Gegner der Weimarer Republik, scharte er in Königsberg Jüngere um sich (Schieder und Conze gehörten dazu). Seit den 30er Jahren im Exil, da er nach den nationalsozialistischen Gesetzen als Jude galt, wurde er nach 1945 eine der einflußreichsten Figuren in der historischen Zunft. Auch er änderte seine Position nach 1945, und schützte, wenn man so will, durch seine Unantastbarkeit als Verfolgter seine inzwischen etablierten Schüler.

Mit der aktuellen Kontroverse hat für die Geschichtswissenschaft die lange überfällige Erforschung der eigenen Geschichte begonnen. Zu lange hat man sich mit dem nicht weiter überprüften Urteil zufrieden gegeben, daß die große Mehrheit der Historiker bereits vor 1933 zwar dezidiert national-konservativ gewesen sei, deshalb aber auch eine gewisse Distanz zur nationalsozialistischen Ideologie bewahrt hätte. Wie die jüngere Forschung gezeigt hat, war die deutsche Gesellschaft während des "Dritten Reiches" viel intensiver mit dem "Zivilisationsbruch" verbunden, als es die Mitläuferlegende suggeriert. Das gilt eben auch für viele Historiker.

Der von Rüdiger Hohls und Konrad Jarausch herausgegebene Band ist ein Beitrag zu dieser überfälligen Historisierung der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft. Er enthält 17 Gespräche mit renommierten und bekannten Historikern der Bundesrepublik. Die meisten Interviewten haben den Nationalsozialismus als Kinder zwar bewußt erlebt, ohne jedoch damals als Erwachsene verantwortlich handeln zu müssen. Rudolf Vierhaus (Jahrgang 1922) ist der einzige der Befragten, der noch Soldat war; die zwei Jüngsten der Befragten sind 1941 (Jürgen Kocka) und 1942 (Winfried Schulze) geboren; zwei Frauen (Helga Grebing und Adelheid von Saldern) stehen neben 15 Männern.

Die Gespräche kreisen jeweils um mehrere Themenfelder - um die Erinnerungen an den Nationalsozialismus, um die eigenen Erfahrungen während des Studium und des wissenschaftlichen Werdegangs, um die Bedeutung der gegenwärtigen Auseinandersetzung für die Geschichtswissenschaft. In den einzelnen Interviews überlagern sich immer wieder der akademische und der politische Teil der Debatte. Der Reiz des Bandes besteht nicht zuletzt darin, Einblicke in die universitäre Situation der frühen Bundesrepublik zu geben. Eine durch den Zusammenbruch 1945 nicht beeinträchtigte ordinariale Hierarchie überdauerte bis 1968, zugleich aber treten die heftig attackierten Historiker Schieder und Conze als Lehrer hervor, die damals viele Jüngere durch ihre Person faszinierten, und die in ihrem direkten Umkreis auch eigenständige und abweichende Meinungen schätzen und fördern konnten. Eindringlich wird aber auch der Schweigekonsens jener Jahre über die Zeit vor 1945 deutlich. Täter und Opfer wollten oder konnten damals weder reden noch fragen. Hartmut Lehmann berichtet, daß Hugo Hantsch, der in Buchenwald inhaftiert gewesen war, genauso wenig nach seiner Vergangenheit "befragt" wurde wie Schieder und Conze. Die materielle Abhängigkeit der jungen Assistenten, die hierarchischen Schranken zwischen Professoren und Studenten erklären das nur zum Teil. Man neigt heute vermutlich dazu, diese äußeren Rahmenbedingungen zu überschätzen. Denn auch von Personen außerhalb universitärer Herr und Knecht-Verhältnisse wurde dieses Schweigen nicht durchbrochen.

Daß die Schüler in den 50er Jahren jene Nachfragen nicht gestellt haben, die in den 90ern aktuell geworden sind, ist bekannt. Daraus einen moralischen Vorwurf zu machen, erscheint jedoch unhistorisch. Liest man die Interviews, begegnen einem altbekannte Erinnerungsmuster. Wer aus einer Arbeiterfamilie kam, wie Helga Grebing, beschreibt eine deutlich größere Distanz zum Nationalsozialismus - und zum späteren akademischen Betrieb - als die bürgerlichen Kinder. Diese erinnern ihre Bewerbung für die Napola - so Wolfram Fischer - als Mittel, um der Langeweile der Schule zu entkommen und das Sportangebot der nationalsozialistischen Eliteschulen zu nutzen. Wem in seinen eigenen Erinnerungen an den Nationalsozialismus der ideologischen Gehalt des vergangenen Alltags fehlt - der war nach 1945 kaum prädestiniert, seinen Lehrern derartige Fragen zu stellen. Doch geschwiegen haben auch andere. Auch Hans-Ulrich Wehler, der einzige im Band, der seine eigene "Hingabe" und die ideologische Begeisterung eines pubertierenden Jünglings erinnert, gehört dazu. Doch gerade die Jungen konnten sich oft auch sehr schnell von ihren Bindungen an die politischen Formeln des Nationalsozialismus lösen.

Gemeinsam war den intellektuell Neugierigen dieser Generation nach 1945 anscheinend eine produktive Illusion des Neuanfangs. Einerseits waren sie durch die selbst erfahrene Verführbarkeit politisch sensibilisiert, andrerseits waren sie zu jung gewesen, um selber schuldhafte Handlungen zu begehen. "Verdrängung" wäre deshalb der falsche Begriff für ihre Abkehr von der nahen Vergangenheit. Gerade weil man das Geschehene nicht hinreichend erfassen und reflektieren konnte, konzentrierte man sich ausschließlich auf das Neue. Befördert durch die frühen Amerikaaufenthalte engagierte man sich politisch in der Gegenwart. Damit konnte man auch jener "Melancholie" entfliehen, wie sie Alexander Mitscherlich als für die Älteren typisch beschrieben hat. Die direkte Vorgeschichte, der Nationalsozialismus, blieb ausgeblendet. Man arbeitete, auch als professioneller Historiker, so Wolfgang J. Mommsen, "mental ins Leere". Fragen nach der Vergangenheit wurden nicht gestellt, da die Neugestaltung im Vordergrund stand. Als Täter sah man nur einen relativ kleinen Kreis von Verantwortlichen an; der kritische Impetus jener Generation bemühte sich, diese aus verantwortlichen Positionen in der demokratischen Gegenwart fernzuhalten und strafrechtlich zu verfolgen.

Die aktuelle Debatte ist auch eine Kontroverse zwischen den Generationen. Sie ist deshalb nicht ohne das veränderte Interesse der Nachgeborenen an der nationalsozialistischen Vergangenheit zu verstehen. Wenn einge während des Historikerstreits Mitte der 80er Jahre aufgeregt eine "Normalisierung" der deutschen Geschichte und ein Vergessen der Nationalsozialismus befürchteten, so ist in den letzten Jahren das Gegenteil zu beobachten. Der Nationalsozialismus provoziert auch bei den Nachgeborenen emotionale Reaktionen - und neue Fragen an die Vergangenheit. Je größer die zeitliche Distanz zum Nationalsozialismus wird, desto eher scheint es möglich, die Verbrechen und das Leid offen zu erörtern. Das begünstigt auch eine Emotionalisierung und Moralisierung. Einige sind in dieser Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus nicht frei von einer Arroganz der späten Geburt. Manchmal scheint fast, als werde den Älteren ein Vorwurf daraus gemacht, daß jene in den 50er und 60er Jahren nicht gründlicher die nationalsozialistische Vergangenheit "bewältigt" hätten - als ob die Nachgeborenen hofften, sie hätten dadurch von dieser historischen Last befreit werden können.

Doch jede Generation muß ihre eigenen Fragen an den Nationalsozialismus stellen - um diese Vergangenheit als Teil der eigenen Geschichte annehmen und aushalten zu können. Das unterscheidet uns von Parzival. Weil er nicht fragen konnte, woran Amfortas leidet, war Parzival zu einer langen Wanderschaft verurteilt. Das Epos präsentiert die versäumte Frage nicht als moralischen Vorwurf - statt dessen wird eine individuelle Entwicklung geschildert, die die versäumte Frage zu einem späteren Zeitpunkt für Parzival überhaupt erst möglich macht. Was der junge Tor nicht konnte, kann erst der gereifte Parzival: sich bewußt dem Schrecken und dem Leid zuwenden. Die aktuelle Kontroverse und dieser Band zeigen, daß die deutschen Historiker sich inzwischen ihre eigene Teilhabe am Nationalsozialismus bewußt machen können. Doch Befreiung von der Vergangenheit gibt es nicht. Auch wenn damals mehr gefragt worden wäre.


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