H-Soz-u-Kult Review-Symposium:

Kultur und Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung


Im Dunkeln sehen. Vom kinematographischen Blick in der Geschichtswissenschaft

von Martin Baumeister, Berlin

Der von Christoph Conrad und Martina Kessel zusammengestellte Reader, der die "Postmoderne" definitiv in "Kultur" überführt (vgl. den vorangegangenen Band: C.C. / M.K., "Geschichte schreiben in der Postmoderne" Stuttgart 1994), verweist zunächst einmal auf die Schwierigkeit, wenn nicht gar Unmöglichkeit, hierzulande und andernorts von "Kulturgeschichte" im Singular zu reden, selbst wenn es sich dabei um eine "neue" handeln sollte. Das liegt zunächst sicherlich an der von den Herausgebern gleich eingangs, gewissermaßen als Motto angeführten Vielstimmigkeit von "Kultur" sowie an der Fülle der in ihrem Namen quer durch die Geistes- und Sozialwissenschaften unternommenen Anstrengungen. "Vielstimmigkeit", in der ja auch eine verwirrende Mehrdeutigkeit anklingt, sagt nun noch wenig aus über die Art der in ihr und mit ihr betriebenen Verständigung. Die Vignette, die den Einband von "Kultur & Geschichte" mit zwei erratischen, blind aneinander vorbeiredenden Kopfwesen schmückt, will nichts Gutes verheißen. Ob die VerfechterInnenen von "Kulturgeschichte" die Planken für ein wie auch immer gestaltetes gemeinsames Boot zusammenzimmern können - und wollen, muß sich m.E. erst noch erweisen.

Unbestritten ist, daß sich unter dem Etikett der Kultur hierzulande seit geraumer Zeit eine mit Argwohn, großen Unsicherheiten, aber auch hohen Erwartungen bedachte "Pluralisierung" der Geschichte ankündigt. Inwieweit sie tatsächlich einen Generationswechsel in der etablierten Zunft prägen kann, steht noch völlig in Frage. Daß die Öffnung keineswegs mit einem Verlust an Theoriehaltigkeit erkauft sein soll, das zeigt die "differenzierte und gelassene Form der wissenschaftlichen Selbstreflexion" die etwa Ute Daniel kulturwissenschaftlichem Argumentieren bescheinigt. Wenn dagegen Wolfgang Hardtwig und Hans-Ulrich Wehler in der Einleitung zu dem von ihnen herausgegebenen Sonderheft von "Geschichte und Gesellschaft" "Kulturgeschichte Heute" besorgt vor dem Aufzug einer neuen Totalitätsideologie unter dem Banner einer neuen Kulturgeschichte warnen, so klingt dagegen wohl eher altbundesrepublikanischer Schlachtenlärm der 70er Jahre nach. Weit und breit ist noch keine große "Deutsche Kulturgeschichte" in Sicht.

Will man aus dem von Conrad und Kessel zusammengestellten Digest seinen Nutzen ziehen, so läßt er sich sicher im Alltag universitärer Lehre als anregende Diskussionsgrundlage einsetzen. Mit ihrem Importunternehmen wollen die Herausgeber vor allem jedoch im Zeichen von "Kultur" zum Überdenken hiesiger Praktiken und Grenzziehungen auffordern. Höflich laden sie zu "einer ebenso kooperativen wie kreativen disobedience gegenüber zu frühzeitigen Disziplinierungsversuchen" (C. / K., Kultur & Geschichte, S. 20) ein.

Die größte Neugier wecken deshalb die von ihnen ausgewählten konkreten Fallstudien in der letzten Rubrik des Bandes "Praktiken der Beobachtung, Risiken der Deutung", an denen Möglichkeiten und Probleme neuerer kulturgeschichtlicher Forschung unmittelbar nachvollzogen werden können. Während sie in ihrer ersten Sammlung in ironischer Bescheidenheit das Schlußwort Claude Simon einräumten, bieten sie nun illustrierend und bilanzierend sechs Leseproben jüngeren Datums aus dem Umfeld der Geschichts- und Literaturwissenschaften.

Aus der Reihe der Erwählten dürfte dabei die amerikanische Historikerin Vanessa R. Schwartz den geringsten Bekanntheitsgrad vorweisen. Ihr Aufsatz über "Die kinematische Zuschauerschaft vor dem Apparat. Die öffentliche Lust an der Realität im Paris des Fin de siècle" ist Teil ihrer vor kurzem erschienen Studie "Spectacular Realities. Early Mass Culture in Fin de siècle Paris ( Berkeley / L.A.: University of California Press, 1998), auf die ich mich im folgenden mit einigen knappen Beobachtungen beziehen möchte.

Schwartz bewegt sich auf beliebtem kulturwissenschaftlichem Terrain: Paris als Hauptstadt der (westeuropäischen) Moderne, Großstadt-Diskurs, Massenkultur, Mediengeschichte. Durchaus neu und provozierend sind allerdings ihre Anverwandlung des Visuellen im Rahmen einer historischen Studie und die Konsequenzen, die sie daraus zieht. Sie setzt an bei einem Emblem der Moderne, dem Kino, und untersucht dessen Entstehungskontext, nicht etwa im Umfeld technologischer Innovationen, sondern aus der Transformation einer umfassenden "visual culture" im Paris der 80er und 90er Jahre des letzten Jahrhunderts, das im Zeichen von "Haussmannization" und der "Explosion" des kommerziellen Kapitalismus ein von Grund auf verändertes Gesicht erhält. Das Interesse Schwartz' gilt dem Phänomen, daß Großstadtleben in einer entstehenden Massenkultur zum Schauspiel wird. Dessen Dramaturgie und Ästhetik werden in ihrer Sicht entscheidend geprägt von der Ästhetik der illustrierten Massenpresse, die neue literate Schichten mit einer sensationalistischen Aufbereitung aktuellen Stadtgeschehens in ihren Bann zieht und "Realität" in einen zur Vermarktung bestimmten Konsumgegenstand verwandelt. Schwartz zieht überraschende Verbindungen zwischen einer Reihe populärer Spektakel, die im untersuchten Zeitraum einem breiten städtischen Publikum Großstadt-"Aktualität" im Sinn der "Boulevard-Kultur" vorführten. Dazu gehören die Morgue, die zu vorgeblich stadtpolizeilichen Zwecken mysteriöse Todesfälle als Gratisattraktion ausstellte; das Musée Grévin, das bekannteste Wachsfigurenkabinett der Stadt, das für die flanierenden Besucherströme mit Dioramen Gucklöcher ins exklusive Pariser Leben schuf; die "panoramania" der Jahrhundertwende, in deren Gefolge sich ein bereits lange bewährtes Spektakel immer mehr zur grandiosen multimedialen Illusionsmaschine entwickelte; und abschließend die letztlich vergeblichen Bemühungen im Musée Grévin, den Publikumshunger nach visualisierten "actualités" durch die Vorführung bewegter Bilder zu stillen.

Schwartz geht in ihrer Analyse der von ihr umrissenen "visual culture" erst in zweiter Linie auf die Zeichen, die Bilder, ein. Sie setzt vielmehr an bei den Formen und Praktiken kollektiven Sehens, bei der Konstituierung des Publikums und dessen zeitgenössischer Thematisierung. Diese Perspektive leitet unmittelbar hin zu einer ihrer zentralen Thesen: daß diese kollektiven Seherlebnisse identitätsstiftende Wirkung entfalten. Man kann ihre Studie als historischen Beitrag zur Frage lesen, wie "Fiktion" Realität generiert. "Spectacular realities", wie sie die untersuchten Medien erzeugen, sind nach einem festen Regelschema organisierte Wirklichkeitsbilder, "representations of a representation of reality" (S. 130), ihrer Bestimmung nach Unterhaltungsware, Konsumangebote, die die neue Stadt für ihre Bewohner und ihre Besucher inszenieren und erzählen. Schwartz trägt sich keineswegs mit der Absicht, den manipulatorischen Charakter der Medienwelten, das "falsche Bewußtsein" der Konsumenten aufzudecken. Die "revolutionary crowd" verschwindet in ihren Augen von den Pariser Straßen; in den Jahrzehnten nach der Commune entsteht eine neue Menge im vergnügten, bewußten Genuß von "contrived and falsed representations of the real" ( S. 193), in der die Grenzen von Klasse und Geschlecht wenn nicht aufgehoben, so doch überschritten würden. Im sozialen Akt des "kinematographischen Sehens" steckt somit ein utopisch-transzendendierendes Potential; die Massenspektakel erwachsen aus einem demokratisierenden Kulturverständnis.

In leider allzu verständlicher Selbstbeschränkung überläßt es Schwartz weiteren Forschungen, Grenzen und Erfolgen der medialen Erschaffung der Pariser, den komplizierten Wechselspielen von "Realität" und "Virtualität" weiter nachzugehen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der kulturgeschichtliche Blick, auch wenn er wie hier die "Faszination des Spektakulären" in überzeugender Weise freilegt, die Macht des Imaginären zuwenig kanalisiert und nur unbefriedigend in politischen, sozioökonomischen Rahmen kontextualisiert.

Kulturgeschichte der Schwartz'schen Art koppelt "Kultur" allerdings keineswegs ab von "Gesellschaft. Sie konstruiert "Gesellschaft" jedoch anders, als dies die überkommene Sozialgeschichte tut. Dabei ist eine Menge von ihr zu lernen, etwa: Wie man sich von der Warte einer Geschichtsschreibung, die sich nur allzu gern als Hüterin des geschriebenen Wortes versteht, ins schwierige Terrain des Visuellen vorwagen kann. Oder: wie eine Disziplin, die sich trotz allen Theorie- und Methodenbewußtseins oft als empirisch-investigative Wissenschaft gebärdet und dabei auch eine Art von Realitätssimulation betreiben will, ihr Wirklichkeitsverständnis am bewußten Re-Konstruktionsprozeß medialer Welten hinterfragen und damit nicht zuletzt altüberkommenen Diskussionen um Objektivität und Standortgebundenheit neue Anschaulichkeit verleihen  kann. Oder: daß eine unscharfe und dennoch wohl unverzichtbare Großkategorie wie die (westeuropäische) "Moderne" als umfassender, krisenhafter Umbruch in der Organisation des öffentlichen Lebens, in den Bedingungen materieller und sozialer Existenz und in den Koordinaten von Erfahrung und Bewußtsein ohne kulturgeschichtliche Perspektivierung ins Leere zielen muß.


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