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BERLINER ZEITUNG

Versäumte Fragen - Interviews zur NS-Vergangenheit deutscher Historiker

Nachdem auf dem Frankfurter Historikertag 1998 endlich öffentlich über die Rolle deutscher Historiker im Nationalsozialismus diskutiert wurde, blieben mehrere Fragen. Hatten sich einige der namhaften und auch in der frühen Bundesrepublik einflussreichen Historiker, allen voran Theodor Schieder und Werner Conze, durch ihre Arbeit während der NS-Zeit schuldig gemacht? Welche Funktion hatten Schriften, in denen mehrfach von "Entjudung" und "Umvolkung" gesprochen wurde?

Und andererseits: Hatten die Schüler und Assistenten, darunter einflussreiche Wissenschaftler wie Hans-Ulrich Wehler oder Wolfgang J. Mommsen, es versäumt, ihre Lehrer nach deren Rolle im Nationalsozialismus zu fragen?

Unzufrieden mit der auch im Persönlichen heftigen Polemik während des Frankfurter Historikertages und danach, formulierte Rüdiger Hohls, Historiker an der Humboldt-Universität und zugleich Redakteur des Internet-Magazins der deutschen Geschichtswissenschaft H-Soz-u-Kult, weitere Fragen. Er wollte wissen, wie eine "wissenschaftliche Sozialisation" in den 50er und 60er Jahren verlief, wie das Lehrer-Schüler-Verhältnis in der Geschichtswissenschaft nach dem Krieg aussah. Gemeinsam mit Konrad Jarausch entwickelte er ein Interviewprojekt. Studenten sollten mit einigen der deutschen Historiker sprechen, die ihre Karriere in den 50er und 60er Jahren begonnen hatten.

Gab es ein Schweigegelübde?

In den letzten Monaten befragten drei Studenten der Humboldt-Universität, Jens Hacke, Julia Schäfer und Marcel Steinbach-Reimann, siebzehn zwischen 1922 und 1942 geborene Historiker. Unter dem Titel "Fragen, die nicht gestellt wurden! Oder gab es ein Schweigegelübde der zweiten Generation?" werden diese Interviews jetzt nach und nach auf der Homepage von H-Soz-u-Kult veröffentlicht.

Jedes Interview beginnt mit biografischen Fragen, die Interviewpartner sollten ins Erzählen kommen. Dieser Teil bietet interessante Einblicke in das Studenten- und Universitätsmilieu der frühen Bundesrepublik. So erwähnen mehrere der Interviewten die "Spiegel-Affäre" von 1962 als den Wendepunkt, an dem neue politische Protestformen wie die berühmten Unterschriftenlisten ihren Weg in die Universitäten zu finden begannen.

Auf den narrativen Teil folgt eine Liste von acht Standardfragen, die jedem der Historiker gestellt wurden. Sie sollten sich zur Rolle der Geschichtswissenschaft während der NS-Zeit, zu Kontinuitäten nach dem Krieg und zur politischen Rolle von Geschichtsschreibung überhaupt äußern.

Wer die Antworten vergleicht, wird leicht Unterschiede in der Bewertung feststellen. Wolfgang Schieder will die Historiker nicht als "Vordenker" der Vernichtung, sondern als "Mitdenker" bezeichnen, die sich zur aktiven Politikberatung haben heranziehen lassen. Hans-Ulrich Wehler dagegen zeigt sich auch im Vergleich mit eigenen früheren Äußerungen weitaus kritischer: "Mein Vorwurf ist, dass sie durch die Art, wie sie dachten und sprachen, die zivilisatorischen Hemmschwellen senkten."

Das Projekt schafft Quellen, die es so noch nicht gab. Durch den biografischen Ansatz, so Julia Schäfer, sollte ein deutliches Bild von der Persönlichkeit der Historiker und den Brüchen in ihrer Entwicklung gewonnen werden. Der Gewinn, so Marcel Steinbach-Reimann, lag vor allem darin, dass die befragten Wissenschaftler vielleicht unterbewusst eher bereit waren, mit Studenten als mit der "Anklägergeneration" der heute 40-Jährigen zu sprechen: "Wir hatten das Gefühl, dass bei uns nicht die üblichen Verteidigungslinien hochgefahren wurden."

Das Projekt "Fragen, die nicht gestellt wurden!" ist im Internet unter http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ zu finden.

Datum: 12.08.1999
Ressort: Feuilleton
Autor: Jan Sternberg


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