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BADISCHE ZEITUNG

Generationenkämpfe in der Geschichtswissenschaft - Interviewprojekt mit deutschen Historikern jetzt im Internet veröffentlicht

Fragen, die nicht gestellt werden

Von Jan Sternberg

Die Diskussion unter den normalerweise gesetzten und disziplinierten Wissenschaftlern ging heiß her: An Polemik und persönlichen Vorwürfen wurde nicht gespart. Das Thema auf dem Frankfurter Historikertag 1998 hieß "Deutsche Historiker im Nationalsozialismus".

Zwei Fragen standen im Raum: Hatten sich einige namhafte und auch in der frühen Bundesrepublik einflußreiche Historiker wie Theodor Schieder und Werner Conze durch ihre Arbeit während der NS-Zeit schuldig gemacht? Konnten Schriften voller Ausdrücke wie "Umvolkung" und "Entjudung" als Politikberatung und aktive Unterstützung für die Vertreibungs- und Vernichtungspolitik der Nazis angesehen werden? Und andererseits: Hatten die Schüler und Assistenten es versäumt, ihre Lehrer und Professoren nach deren Rolle im Nationalsozialismus zu fragen? Auch sie waren inzwischen etablierte und zum Teil schon emeritierte Historiker geworden, unter ihnen viele einflußreiche Wissenschaftler wie Hans-Ulrich Wehler oder Wolfgang J. Mommsen.

Im Publikum saß damals auch Rüdiger Hohls, Historiker an der Humboldt-Universität Berlin und Redakteur des Internet-Magazins der deutschen Geschichtswissenschaft, der Mailingliste von H-Soz-u-Kult. Während er zuhörte, kam ihm eine Idee: "So, wie das da gemacht wurde, mit dieser Polemik, so geht das nicht. Man müßte eine distanziertere Perspektive finden." Allgemeinere Fragen drängten sich auf: Wie verlief eine "wissenschaftliche Sozialisation" in den 50er und 60er Jahren? Wie war das Lehrer/Schüler-Verhältnis in der Geschichtswissenschaft nach dem Krieg? Was war der biographische Hintergrund jener, die in der bundesrepublikanischen Wissenschaft wichtig wurden?

So kam Hohls die Idee einer Interviewreihe mit einer Auswahl derjenigen deutschen Historiker, die ihre Karriere in den 50er/60er Jahren begonnen hatten – also Schüler der durch NS-Karrieren belasteten Wissenschaftler waren. In Gesprächen mit Prof. Konrad Jarausch nahm das Projekt langsam Gestalt an: Die Interviewer sollten auf jeden Fall Studentinnen und Studenten kurz vor ihrem Examen sein.

Einerseits mußten sie die nötige Sachkenntnis der Nachkriegszeit und der Wissenschaftsgeschichte mitbringen, andererseits repräsentierten sie auch eine neue Generation, nicht die "Generation der Ankläger" der heute 40jährigen.

Schließlich fand sich eine Gruppe von drei Berliner Studierenden zusammen: Jens Hacke, Julia Schäfer und Marcel Steinbach-Reimann. Die drei interviewten in den letzten Monaten insgesamt 17 Historikerinnen und Historiker, geboren zwischen 1922 und 1942. Die Interviews werden jetzt – unter dem Titel "Fragen, die nicht gestellt wurden! oder gab es ein Schweigegelübde der zweiten Generation?" nach und nach auf der Homepage von H-Soz-u-Kult veröffentlicht.

Ihre Struktur ist zweigeteilt: Zuerst wird eine Reihe eher narrativer, biographischer Fragen gestellt, die Interviewpartner sollen ins Erzählen kommen. Im zweiten Teil folgt eine Liste von acht Standardfragen: Die Befragten sollten sich zur Rolle der Geschichtswissenschaft während der NS-Zeit, zur Kontinuität in Westdeutschland nach dem zweiten Weltkrieg und zur politischen Rolle von Geschichte allgemein äußern. Die Publikationsform Internet macht es möglich, die Antworten auf diese Fragen zwischen den einz elnen Interviewten direkt zu vergleichen: Wie kommentiert Hans-Ulrich Wehler die intellektuellen "Entgleisungen" seines Doktorvaters, was sagt Heinrich August Winkler zur politischen Rolle der Geschichtswissenschaft?

Die jetzt veröffentlichten Interviews zeigen teilweise gestandene Professoren in Erklärungsnöten, sie zeigen aber auch, wie innovativ und wertvoll so ein Vorgehen für die Wissenschaft und andere historisch Interessierte sein kann: Es werden hier Quellen geschaffen, die es so noch nicht gab. Julia Schäfer betont den biographischen Ansatz des Projekts: "Wir wollten durch die Gespräche die Persönlichkeiten und die persönlichen Brüche der Wissenschaftler zeigen." Marcel Steinbach-Reimann drückt sein Interesse a n den Interviews so aus: "Es war eine Möglichkeit, den Interviewten solche Fragen einmal nicht als Wissenschaftler, sondern als Menschen zu stellen." Und diese Menschen waren (vielleicht unterbewußt) eher bereit, mit Studenten zu sprechen: "Wir hatten das Gefühl, daß bei uns nicht sofort die üblichen Verteidigungslinien hochgefahren wurden." Das Projekt "Fragen, die nicht gestellt wurden!" ist im Internet unter http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ zu finden.

17.07.1999
Jan Sternberg


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