Interview mit Jürgen Kocka
zum Thema: "Neubeginn und Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft in den 1950/60er Jahren"

Jürgen Kocka, geboren 1941 in Haindorf/Sudeten, studierte seit 1960 Geschichte, Politikwissenschaft, Soziologie und Philosophie in Marburg, Wien, Berlin und Chapel Hill (North Carolina). Er promovierte 1968 bei Gerhard A. Ritter zum Thema "Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847-1914. Zum Verhältnis von Kapitalismus und Bürokratie in der deutschen Industrialisierung". Bis zu seiner Habilitation 1972 und der ersten Professur an der Universität Bielefeld von 1973 bis 1988 war er Wissenschaftlicher Assistent in Münster und ACLS-Fellow in Harvard. Als Gastprofessor bzw. Fellow war er u.a. in Princeton, Jerusalem, Stanford und Paris.

Seit 1988 ist Jürgen Kocka Professor für die Geschichte der industriellen Welt an der FU Berlin sowie seit 1991 ständiges Mitglied des Wissenschaftskollegs zu Berlin.

Kocka: "Sozialgeschichte wurde in der zweiten Hälfte der 60er Jahre zu einem Zauberwort. Das war die Inkorporierung aller fortschrittlichen, wünschenswerten Tendenzen in der eigenen Disziplin."

Teil 1: Biographische Fragen

Fragen Interviewer/in: Herr Kocka, Sie sind 1941 in den Sudeten geboren. Können Sie uns etwas zu Ihrer Herkunft sagen und beschreiben, was die wesentlichen Prägungen Ihrer Kindheit waren?

Ich stamme aus einer Vertriebenenfamilie und bin an verschiedenen Orten zur Schule gegangen: in Pommern, in Linz an der Donau und schließlich in Essen an der Ruhr, wo ich 1960 mein Abitur gemacht habe. Ich hatte in den 50er Jahren die Gelegenheit, an außerschulischen Schülerlehrgängen teilzunehmen, die politische Bildung vermittelten. Diese Seminare (z.T. von Vlotho aus organisiert) lagen in der Hand von damals jungen Studenten und wurden von der nordrhein-westfälischen Kultusverwaltung unterstützt. Das hat mich stark beeinflußt. Ich bin damals mit politischen und historischen Fragen in Verbindung gekommen, die von der deutsch-deutschen Situation ausgingen und deshalb von der Verwaltung gefördert wurden. Man versuchte, im Konkurrenzverhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten nicht den Kürzeren zu ziehen, sondern so auszubilden, daß die jungen Leute auch in den Diskussionen mithalten würden. Was ursprünglich aus dem deutsch-deutschen Konkurrenzverhältnis heraus entstand, hat sich aber dann ganz anders entwickelt: als eine kritische Form von Diskussionen, Lehrgängen, Veranstaltungen, die sich sehr grundsätzlich und kritisch mit dem Marxismus, mit der Geschichte der Bundesrepublik, mit dem Nationalsozialismus, mit Naturrecht befaßten. In diesem Zusammenhang habe ich eigentlich meine Motivation bekommen, neben Germanistik auch Geschichte und Politikwissenschaft zu studieren, womit ich dann im Jahre 1960 begonnen habe.

Es waren also in erster Linie diese Prägungen und nicht das Elternhaus? Ihr Vater war ja Techniker bzw. Ingenieur?

Nein, das ist nicht aus dem Elternhaus gekommen. Dort bestand eher die Erwartung, einen naturwissenschaftlichen Beruf aufzunehmen. Meine Erfahrung weist darauf hin, daß die 50er Jahre, im Rückblick gesehen, auch interessante, produktive Gelegenheiten boten. Ich habe diesen Einfluß aufgenommen und in meiner Schule, dem Goethe-Gymnasium in Essen-Bredeney, eine Arbeitsgemeinschaft gegründet, einen Ost-West-Arbeitskreis, von Schülern selbst gestaltet, die sich mit diesen Themen beschäftigten.

Die erwähnten Schülerlehrgänge wurden von einem studentischen Studienkreis für politische Bildung getragen, an dem auch Ekkehart Krippendorf und Urs Müller-Plankenberg, Hartmut Eggert, hier in der Germanistik in Berlin, Hermann Giesecke, ein Pädagoge, teilnahmen. Dort habe ich auch später noch mitgearbeitet, als ich schon im Studium war. Dieser Kreis hat in den frühen 60er Jahren langsam enge Beziehungen zum diskutierenden SDS entwickelt, wobei sich die einzelnen Teilnehmer in unterschiedlicher Weise auch stark in der Studentenbewegung engagiert haben.

Zunächst widmete ich mich aber dem Studium der Germanistik, Geschichte und Politikwissenschaft. Nach Stationen in Marburg und Wien kam ich 1962 nach Berlin, wo ich unbedingt hinwollte. Dort bin ich sehr früh in enge Verbindung mit Gerhard A. Ritter gekommen, damals ein junger Geschichtsprofessor, aber nicht im Fachbereich Geschichte, sondern am Otto-Suhr-Institut, in der Politikwissenschaft. In diesem Kreis bin ich im Grunde stark geprägt worden, durch mehrere Seminare. Geschichte des Antisemitismus und der Antisemitenparteien war zum Beispiel ein Thema, die innere Geschichte des Ersten Weltkrieges, Geschichte der Arbeiterbewegung, Geschichte des Parlamentarismus, Sozialgeschichte - das waren Themen, mit denen ich zusammenkam. Dies hat mich dann so absorbiert, daß ich nach einer Weile Geschichte als mein erstes Fach gewählt habe.

Ich war 1964/65 ein ganzes Jahr in den USA, im mittleren Studium - mein erster langer Auslandsaufenthalt. Ich habe an der University of North Carolina, in Chapel Hill, den Master in Political Science machen können und bin sehr positiv und eindrücklich von diesem Amerikaaufenthalt geprägt worden. Seitdem ist Amerika das erste Ausland für mich, was die Beschäftigung als Historiker und auch sonst angeht.

Als ich zurückkam, begann hier allmählich die Studentenbewegung. Ich war bereits in der Promotion, habe mich engagiert und an Demonstrationen teilgenommen, habe aber nicht in der ersten Reihe aktiv mitgemacht. Diese Studentenbewegung hat uns einerseits politisch interessiert und politisiert, andererseits hat sie aber auch intellektuell und für die eigene akademische Arbeit motiviert. Das ging Hand in Hand.

Wie war die Atmosphäre hier in Berlin an der FU? Welche Professoren oder Lehrenden im Fachbereich Politische Wissenschaft oder Geschichte haben Sie neben Gerhard A. Ritter besonders geprägt?

Neben Gerhard A. Ritter ist vor allem Ernst Fraenkel zu nennen, der Politikwissenschaftler, dessen demokratietheoretische und demokratiehistorische Vorlesungen mich außerordentlich beeindruckt haben. Seine Vorstellung von einer pluralistischen, antiautoritären, an westlichen Modellen orientierten Tradition hat großen Eindruck auf mich gemacht. Daneben Richard Löwenthal, den ich viel gehört habe, gerade was Außenpolitik, das Ost-West-Verhältnis und die Geschichte des Sozialismus angeht. Drittens habe ich beim Germanisten Emmrich studiert und bin dort bis zum Oberseminar über die Geschichte moderner Romane gekommen. Schließlich habe ich Helmut Gollwitzer und Dieter Henrich gehört. Der erste Aufsatz, den ich geschrieben habe, nämlich ein Vergleich der Methodologie von Karl Marx und Max Weber, ist hervorgegangen aus einem Seminarreferat, das ich in einem Haupt- oder Oberseminar bei Dieter Henrich hier an der FU gehalten habe.

Das war mein erster Zugang zu Max Weber, während ich den Zugang zu Karl Marx im Grunde schon ein bißchen aus den erwähnten außerschulischen Lehrgängen und dem Studienkreis für politische Bildung hatte. Bei Hans-Joachim Lieber, dem Philosophen, der damals auch hier lehrte, und in vielen studentischen Zirkeln wurde das dann noch vertieft. Auch bei Otto Stammer, dem Soziologen, und Wolfram Fischer, dem Wirtschafts- und Sozialhistoriker, habe ich studiert.

Dann war die Entscheidung für Berlin - sicherlich auch im Kontrast zu Marburg - sehr bewußt getroffen. Hier waren die Professoren jünger, offener, vielleicht war auch alles etwas moderner. Ritter ist ja nur 10-11 Jahre älter als Sie, was damals sicherlich noch ein seltener Fall war. Das Studentenleben in Marburg war vorher vermutlich ganz anders.

Völlig anders. Das war eine Entscheidung aus Interesse an Politik. Berlin war damals ein Brennpunkt des Ost-West-Konflikts einerseits, der Ort, wo Zeitgeschichte stattzufinden schien. Zum anderen war hier die Freie Universität. Das war eine moderne neue Universität, die demokratischere Strukturen hatte als alles andere, was es in der Bundesrepublik gab - mit jungen Professoren und einem großen Interesse an den öffentlichen Dingen. Das alles motivierte mich dazu, nach Berlin zu gehen.

Haben sich die ersten großen historischen Debatten in den 60er Jahren - ob das nun die Fischer-Kontroverse war, die Auschwitz-Prozesse oder die Räte-Debatte - schon in Studium und Lehre niedergeschlagen?

Die Fischer-Kontroverse habe ich nicht intensiv mitverfolgt. Da begann ich gerade zu studieren. Das Interesse am Nationalsozialismus und an der Frage, warum es in Deutschland zu diesem Zivilisationsbruch gekommen ist, das war eigentlich schon seit den 50er Jahren ein zentrales Motiv. Schon damals in dem diskutierenden, kritischen, engagierten Studienkreis für politische Bildung war es für meine Altersgruppe eine der Grundfragen, warum es in Deutschland, nicht aber in den westlichen Demokratien, mit denen man sich in anderer Hinsicht gern vergleicht, also England, die USA, in gewisser Hinsicht auch Frankreich, auf jeden Fall Skandinavien, zu dieser Pervertierung des politischen Systems in Gestalt des Faschismus gekommen ist. Und darauf antworteten einige der Veranstaltungen, die ich nun mitbekam, insbesondere bei Fraenkel. Die Frage nach den deutschen Besonderheiten war aber auch zentral bei Gerhard A. Ritter, bei seinen deutsch-britischen Parlamentarismusvergleichen zum Beispiel. Bei all dem ging es um das Problem des "deutschen Sonderwegs". Dann ging es sehr bald um die Frage: Parlamentarische Demokratie oder Rätedemokratie? Das war eine der großen Debatten um 1965/66/67. Eberhard Kolb und Reinhard Rürup hatten historisch darüber gearbeitet: die Räte in der Revolution von 1918/19. Akut wurde das durch Leute wie Bernd Rabehl und Johannes Agnoli, einen linken Politikwissenschaftler, der stark von Carl Schmitt beeinflußt war. Sie traten für eine direktere Form der Demokratie ein und verhielten sich kritisch gegenüber der "bürgerlichen" parlamentarischen Demokratie. Da habe ich intensiv mit Ritter zusammen einen Artikel über die Räte in der deutschen Geschichte vorbereitet. Aus diesem Anlaß habe ich diese Problematik sehr intensiv durchdacht und mich eindeutig von der Überlegenheit repräsentativer Demokratie überzeugt. Bei aller Sympathie für vieles in der Studentenbewegung der 68er Zeit fand ich eigentlich doch schon damals die Grundsätze der Verfassung der Bundesrepublik sehr akzeptabel - auch auf dem Hintergrund der deutschen Geschichte, und das bis heute. Manchmal hat, glaube ich, dieses Interesse, dieses erschrockene Interesse an der deutschen Katastrophen- und Verbrechensgeschichte, die Historiker, die sich damit befaßten, auch dazu motiviert, das neue Deutschland in der Bundesrepublik als eine große Errungenschaft zu sehen, nicht sofort, aber allmählich in den späten 60er Jahren, in den frühen 70er Jahren eindeutig. Und ich habe sehr früh einen Artikel geschrieben, veröffentlicht in dem Band von Carola Stern und Heinrich August Winkler "Wendepunkte deutscher Geschichte", in dem ich 1945 behandelt habe. Das war für mich ein Schlüsselaufsatz, an dem ich lange gearbeitet und in dem ich letztlich die Restaurationsthese abgelehnt habe und die großen neuen Möglichkeiten nach 1949 - Möglichkeiten zunächst nur, Wirklichkeiten erst allmählich - herausgestrichen habe. Das waren prägende intellektuelle Debatten.

Übrigens konnte dieses Eintreten für den liberalen Verfassungs- und Rechtsstaat auf parlamentarischer Grundlage einhergehen mit Kapitalismuskritik. Eine Position, die unsereiner damals hielt, besagte: Diese Verfassung ja, aber es ist sehr viel mehr soziale Demokratie möglich und notwendig, vielleicht auch ein Stück Sozialismus im Ökonomischen. Aber diese grundsätzliche Zustimmung zu einer liberalen Verfassung auf der einen Seite und die eher an radikaleren Positionen orientierte Forderung nach Reformen im ökonomischen und sozialen Bereich auf der anderen Seite gingen damals bei mir Hand in Hand. Das führte zur Sozialgeschichte. Meine ersten Arbeiten waren sozial- und wirtschaftsgeschichtlich, meine Dissertation beschäftigte sich mit Industriebürokratie, mit Herrschaft und Arbeit im Industriebetrieb.

Wie ging es nach Ihrer Promotion bei Ritter beruflich weiter?

Bei Gerhard A. Ritter habe ich promoviert und dann auch habilitiert. Er ging 1966 oder 1967 von Berlin nach Münster und lud mich ein, dort zunächst eine, wie es damals hieß, Verwalterstelle - ich war noch nicht promoviert - und dann eine Assistentenstelle anzunehmen. Ich bin bzw. wir sind damals außerordentlich ungern aus Berlin in die Provinz gegangen. Hier war gerade die Studenten- und Assistentenbewegung in vollem Gang, dort hatte sie noch gar nicht begonnen und entstand erst allmählich. Ich habe dann in Münster doch noch etwas mitgemacht und war der erste Assistentenvertreter im Senat der Westfälischen Wilhelms-Universität - wahrscheinlich 1968 oder 1970. Ich habe noch in Berlin promoviert im Jahr 1968, bin dann wieder ein Jahr nach Amerika, 1969/70, und habe danach 1972 in Münster habilitiert über Angestellte in Amerika und Deutschland im Vergleich.

War die Entscheidung für den Wissenschaftsbetrieb für Sie überhaupt von Anfang an klar, die Entscheidung für eine Promotion und Habilitation nach dem Studium?

Ich habe begonnen mit der Vorstellung, daß ich entweder als Studienrat in der Schule sein oder als Journalist arbeiten würde. Ich habe zwischendurch Praktika bei Zeitungen gemacht, bei Lokalzeitungen in Essen und in Bottrop - daraus hätte etwas werden können. In der Wissenschaft zu bleiben, das plante man damals nur selten, das erschien zu schwierig . Als sich dann diese Möglichkeit durch Gerhard A. Ritter anbot, habe ich sie sehr gern wahrgenommen.

Gab es dann gleich eine Selbstverortung? Sozialgeschichte kam auf, und es rückte ja gerade eine jüngere Generation Mitte der 60er Jahre nach. Wie hat man sich in der Tradition der westdeutschen oder deutschen Historiographie gesehen? Wie war das Verhältnis zu den Älteren - auch wenn Sie es am eigenen Leibe nicht so erfahren haben, weil Sie ja mit Gerhard A. Ritter einen neben sich oder über sich hatten, der eher zu Ihrer Generation gehörte?

Sozialgeschichte wurde in der zweiten Hälfte der 60er Jahre zu einem Zauberwort. Das war die Inkorporierung aller fortschrittlichen, wünschenswerten Tendenzen in der eigenen Disziplin. Sozialgeschichte versprach eine bestimmte Form von Traditionskritik, die uns damals sehr ansprach - zu Recht. Sie versprach neue Verknüpfungen interdisziplinärer Art zu den systematischen Nachbarwissenschaften. Sie versprach Revision des Geschichtsbildes in kritischer Absicht. Man wollte nach den sozialen Voraussetzungen und Folgen von Politik und Ideen fragen. Im Grunde versprach diese neue Richtung Sozialgeschichte eine ideologiekritische Fragestellung. Wir waren irgendwann fest davon überzeugt - und ich bin es auch jetzt -, daß, um dieses Habermas-Zitat zu benutzen, die Geschichte nicht in dem aufgeht, was die Menschen wechselseitig intendieren, und daß es besonders darauf ankommt, die Prozesse und Strukturen zu begreifen, die nicht in den Motiven, Vorstellungen und Erfahrungen der Zeitgenossen präsent waren, aber wichtig waren als Bedingungen und Folgen von Erfahrungen und Handlungen. Diese grundsätzliche, etwas ideologiekritische Grundhaltung hat uns damals sehr fasziniert - uns, also meine Jahrgangsgruppe, eine Gruppe von Leuten wie Hans-Jürgen Puhle, Hartmut Kaelble, Karin Hausen, Wilhelm Bleek, die wir damals hier studierten, meistens im Umkreis von Ritter. Und die Person, die uns außerhalb der unmittelbaren Lehrergruppe besonders beeinflußt hat, war Jürgen Habermas von Anfang an, der schon Mitte der 60er Jahre durch sein Buch über "Strukturwandel der Öffentlichkeit", dann durch seine methodologische Auseinandersetzung mit Hans Albert und dann drittens durch sein Auftreten in der Studentenbewegung sehr viel Aufmerksamkeit fand. Seine Schriften - über die Logik der Sozialwissenschaften usw. - hat man gelesen, auch seine Technokratiekritik kannten wir. Großen Einfluß hat Hans Rosenberg auf mich ausgeübt. Hans Rosenberg, Emigrant, Exilant, Flüchtling der 30er Jahre, war ja sehr früh nach 1949 als Gastprofessor an die FU zurückgekommen, hatte damals enge Verbindungen zu Gerhard A. Ritter aufgebaut, und Ritter hat mich mit seinen Schriften bekannt gemacht. Hans Rosenberg, den ich 1965 in Berkeley besuchte, hat Hans-Ulrich Wehler auf mich aufmerksam gemacht. Wehler hatte Hans Rosenberg bei einem USA-Aufenthalt kennengelernt. So ist nicht nur Rosenberg sehr früh in meinen Gesichtskreis gekommen, sondern auch Hans-Ulrich Wehler, und beide habe ich als Student gelesen. Ganz wichtig finde ich weiterhin die Einleitung von Hans-Ulrich Wehler zu dem von ihm herausgegebenen Band mit den Aufsätzen Eckart Kehrs "Der Primat der Innenpolitik", 1965 erschienen. In dieser Einleitung entwickelte Wehler Grundzüge des zukünftigen Programms einer Historischen Sozialwissenschaft, vielleicht noch ohne Nennung des Begriffs. Kurze Zeit später dann, in einer Festschrift, die Gerhard Ritter für Hans Rosenberg zu dessen 65. Geburtstag herausgab, gab es auch von Wehler einen Aufsatz über Theorieprobleme.

Das war der intellektuelle Umkreis, der mich sehr stark auf eine bestimmte Richtung Sozialgeschichte hinlenkte: Sozialgeschichte Berliner Art. Natürlich auch das "Fischer Lexikon Geschichte", das damals Hans Rothfels und Waldemar Besson herausgegeben haben; da war Hans Mommsens Artikel drin, und man las auch Wolfgang Mommsens "Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus". Wehler gab die Gelbe Reihe bei Kiepenheuer&Witsch heraus, die Neue Wissenschaftliche Bibliothek, u.a. den Band über Sozialgeschichte, dann auch Werner Conze. Conzes Artikel über Strukturgeschichte und Sozialgeschichte stellten einen Einfluß unter vielen anderen dar, aber dominanter war hier in Berlin die Orientierung an Rosenberg und damit an einer angloamerikanischen Weiterentwicklung bestimmter deutscher Traditionen, zu denen auf jeden Fall Weber, teilweise Marx, aber auch Otto Hintze dazugehörten. Auf Hintze bin ich wohl über Felix Gilbert gestoßen, der mich später nach Princeton einlud. Ich nenne noch Dietrich Gerhardt, den Hintze-Kenner, und Alfred Vagts mit seinen Studien über Imperialismus - alles aus Deutschland ausgewanderte, in den USA lehrende und nun auf Deutschland einwirkende Gelehrte, die für mich wichtig wurden. Meine Dissertation war dann sehr stark an Max Weber orientiert, eine Form historischer Sozialwissenschaft, wenn man so will.

Fachübergreifend betrachtet war das zunächst einmal eine noch nicht fest etablierte Außenseiterposition. Wie wurden Konflikte mit der älteren Generation, die jetzt in der Diskussion steht, mit Conze, Schieder und auch Rothfels als Inhaber mächtiger Positionen, ausgetragen? Wurden da Konfliktlinien deutlich?

Wir fühlten uns als eine oppositionelle Minderheitsströmung, kritisch gegenüber den Hauptlinien der eigenen Fachtradition, kritisch gegenüber Elementen der eigenen Gesellschaftsordnung und auch kritisch gegenüber der noch bestehenden Ordinarienuniversität. Es war Spannung da, es gab Konflikte, die Sozialgeschichte galt als radikal, als links, als revisionistisch. Doch sie interessierte auch als eine Neuigkeit, als eine neue Strömung. Ich würde den Konflikt zwischen mir und den Älteren nicht überbetonen.

Mit Conze und Schieder hatte ich bis zur Promotion wenig zu tun. Ich kannte Conze von einigen Artikeln her, wie ich schon sagte. Erst über Reinhart Koselleck habe ich ihn persönlich kennengelernt. Koselleck traf ich zum ersten Mal auf einer Tagung in Saarbrücken 1966 und 1967, wo er, damals wohl noch Privatdozent in Heidelberg oder gerade Professor für Politikwissenschaft in Bochum geworden, sein großes Werk "Geschichtliche Grundbegriffe" organisierte (zusammen mit Conze und Brunner). Koselleck lud mich ein, den Artikel "Angestellte" in Band 1 des Werkes "Geschichtliche Grundbegriffe" zu schreiben, als er hörte, daß ich über Industriebürokratie und Angestellte arbeitete. Über Koselleck bin ich dann irgendwann nach meiner Dissertation mit Conze zusammengetroffen, ich glaube, zuerst auf dem Historikertag in Freiburg 1968 oder 1969 und dann wieder in Heidelberg. Diese Richtung, die Conze und Koselleck mit der Begriffs- und Strukturgeschichte vertraten, war aus meiner damaligen Sicht eine etwas andere Richtung, aber zwischen dem, was unsereiner vorhatte, und dem, was Koselleck und Conze betrieben, bestand nicht unbedingt ein Gegensatz. Kosellecks Preußenbuch habe ich sehr früh für die VSWG rezensiert - als frischgebackener Assistent. Das Buch hat mir sehr imponiert, und das galt dann auch für Conzes Programm einer Strukturgeschichte des Industriezeitalters. Dennoch: Conzes Arbeiten waren für meine Ausbildung nicht zentral, weder während der Promotion noch während der Habilitation; vielmehr entwickelte sich später so etwas wie eine ungleich-kollegiale Beziehung zwischen mir als dem Jüngeren und Conze, dem Älteren und Etablierten. 1973 oder 1974 (nach meiner ersten Professur in Bielefeld) wurde ich dann Mitglied im Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte, den Conze gegründet hatte und dem zu diesem Zeitpunkt - außer Reinhart Koselleck - Leute angehörten wie Hans-Ulrich Wehler, Wolfram Fischer, Wolfgang Köllmann, Rudolf Braun, bald dann auch Dietrich Geyer, also sozialhistorisch orientierte Historiker außerordentlich unterschiedlicher Orientierung. Der Arbeitskreis war am Anfang seiner Existenz, in den 50er Jahren, noch homogener in seiner Orientierung an einer frühen Strukturgeschichte gewesen, die damals auch viele Verbindungen zur Volksgeschichte gehabt hat. Anfang der 70er Jahre besaß er diese Prägung kaum noch.

Noch ein wichtiger Abschnitt in Ihrer Biographie waren sicher die 70er und 80er Jahre in Bielefeld?

Ich bin seit 1973 Professor für Geschichte, besonders Sozialgeschichte, in Bielefeld gewesen, von 1973 bis 1988, also 15 Jahre, und dies war natürlich die aktivste Zeit, der mittlere Lebensabschnitt. Und es war, auch in der Rückschau, eine sehr aufregende, anregende und produktive Zeit. Es war der Versuch, eine neue Variante von Geschichtswissenschaft unter sozialgeschichtlichem Vorzeichen zu entwickeln: Gesellschaftsgeschichte, Historische Sozialwissenschaft. Die Traditionslinien, die für mich damals wichtig waren und weiterhin wichtig sind, habe ich schon genannt: Traditionslinien, die in den Marxismus zurückführten, besonders in der Form, die durch die Frankfurter Schule weitergegeben worden ist. Andererseits sind es Traditionslinien, die sehr stark zu Max Weber und seiner angloamerikanischen Weiterentwicklung führten, und schließlich Traditionslinien, in denen Emigranten wie Hans Rosenberg und Felix Gilbert, auch Francis Carstens in London eine große Rolle spielten. Diese Traditionen standen in ausgeprägtester Distanz zur "Volksgeschichte" der 30er und 40er Jahre, die derzeit diskutiert wird.

Sie schreiben in einer Würdigung von Conze 1986, daß kein einzelner die Sozialgeschichte der Bundesrepublik stärker geprägt hätte als er. Dann ist es aber vielleicht für Sie doch eher die institutionelle Prägung gewesen als wirklich der intellektuelle Einfluß, oder wie würden Sie das heute sehen?

Nun, er hat ja doch eine ganze Reihe von Schülern gehabt. Zu denen rechne ich u.a. Wolfgang Schieder, Hans Mommsen, Dieter Groh, Ulrich Engelhardt, damals Heilwig Schomerus, Volker Henschel und so weiter. Conze war zum anderen durch seine Schriften und institutionell durch den Arbeitskreis sehr wichtig. Drittens war er Vorsitzender des Historikerverbandes, und insofern ist in seiner Person Sozialgeschichte gewissermaßen voll anerkannt worden. Mittlerweile würde ich sagen, daß die Einflüsse, die über Gerhard A. Ritter gekommen sind, mindestens so wichtig für die Sozialgeschichte in der Bundesrepublik geworden sind.

Wenn wir einmal den Bogen zur jetzigen Debatte schlagen - Sie betonen auch schon in Ihrem Artikel damals die engere Bindung Conzes zu Schieder, Brunner, Jantke und Freyer -, hat man sich damals angesehen, was diese vier, fünf Leute in Königsberg und anderswo früher gemacht haben? Spielte das eine Rolle? Gab es da Skepsis?

Nein. Ich hatte keinen direkten Anlaß, mich mit der wissenschaftlichen und sonstigen Biographie von Schieder und Conze zu beschäftigen. Mir war seit den frühen 70ern ein antisemitisches Zitat von Conze bekannt, das in den 60er Jahren irgendwann in der Heidelberger Studentenbewegung ausgegraben und damals publik gemacht worden war. Darüber hinaus war mir diese braune Tradition der Sozialgeschichte nicht bewußt. Ich habe erst in der ersten Hälfte der 80er Jahre allmählich Interesse an der Geschichte der Disziplin gefunden und dann Mitte der 80er Jahre Willi Oberkrome angeregt, seine Dissertation zur Volksgeschichte zu schreiben. Das war relativ früh. Parallel dazu erschien das Buch von Winfried Schulze über die Geschichtswissenschaft nach 1945. Dort gab es ein Kapitel über den Heidelberger Arbeitskreis. Die Arbeit von Willi Oberkrome hat sehr lange gedauert. Sie war aber ganz eindeutig als wissenschaftshistorische Arbeit geplant und sollte nicht in den Archiven nach der realen politischen Aktivität dieser Autoren suchen, sondern Volksgeschichte als Strömung rekonstruieren und am Ende ein wenig nach Kontinuitäten fragen, die möglicherweise über die Zeit nach 1945 hinausweisen würden. Insofern war das ein anderer Typus von Arbeit, ich glaube, ein sehr wichtiger Versuch, im Vergleich zu der Art von Forschung, wie sie jetzt von Peter Schöttler, Götz Aly, Ingo Haar, Michael Fahlbusch und anderen betrieben wird, die ja leider gar nicht mehr nach den Paradigmen, Methoden und Theorien dieser braunen Historiker fragen, sondern sich auf ihre politischen Einlassungen und ihre biographische Schuld konzentrieren. Ich denke, daß es darauf ankäme, beides zusammenzuführen - was noch aussteht oder bisher nur in Ansätzen geleistet worden ist.

Teil 2: Standardisierte Fragen

1. Wie werten Sie die Rolle der deutschen Historiker im Nationalsozialismus? Handelt es sich vorwiegend um Mitläufer, oder kann man angesichts der neuesten Forschungsergebnisse sogar von Vordenkern oder Mittätern im Sinne einer aktiven Politikberatung sprechen?

Die jüngere Forschung hat deutlich gemacht, daß es sich damals bei einer ganzen Reihe von insbesondere jüngeren Historikern nicht nur um Mitläufer handelte, sondern um Historiker, die ein starkes nationalsozialistisches Engagement gezeigt haben und für die nationalsozialistische Sache gearbeitet haben - für eine Sache, die letztlich verbrecherisch war und in verbrecherischen Konsequenzen endete. Bei der Bearbeitung von Plänen zur ethnischen Neuordnung der von deutschen Truppen zu besetzenden oder schon besetzten Teile Europas haben sich eben auch Historiker hervorgetan ,und zwar nicht, soweit ich weiß, die Vernichtung von Juden und anderen, wohl aber deren Vertreibung vorgedacht. Das gilt nur für einen kleinen Teil der damaligen Historikerschaft und in unterschiedlichem Ausmaß. Man muß bei jedem einzelnen Fall genau hinsehen. Für viele Historiker, die damals arbeiteten, gilt das nicht. Sie haben ihre spezialisierte Geschichtswissenschaft in ganz anderen Bereichen weitergetrieben. Und es gilt nun sehr, von Fall zu Fall zu differenzieren, aber durch die jüngsten Forschungen und Debatten ist uns in den Blick geraten, was wir vorher, zumindest die meisten von uns, jedenfalls ich, nicht so klar gesehen haben: Es war mehr als Mitläufertum, es war bei Leuten wie Aubin und Brunner, Schieder und in gewissem Maße auch Conze, um nur einige Beispiele zu nennen, Historiker-Engagement für den Nationalsozialismus.

2. Kann man intellektuelle "Entgleisungen" wie im Falle Conze und Schieder durch ein vorbildliches Wissenschaftlerdasein in der Bundesrepublik kompensieren?

Ich weiß nicht, ob wir als Historiker dieses Urteil fällen müssen. Ich bin überzeugt, daß die interessante, produktive, auch sehr nützliche Arbeit von Historikern wie Conze und Schieder nach 1949/1950 mit motiviert war durch die Erfahrung des eigenen Versagens vor 1945. Sie verarbeiteten nun, was sie vor 1945 erlebt hatten. Ich denke, daß es Versuche waren, aus Vergangenem zu lernen, und ich bin der Meinung, daß dies typisch war für einen Teil der Gründergeneration der Bundesrepublik. Auf der anderen Seite bin ich der Meinung, daß wir auch Brüche im Leben von Menschen diagnostizieren können - im Privat- wie im Berufsleben. Die würde ich auch stehen lassen. Ich weiß nicht, ob ich unbedingt eine Bilanz ziehen muß, die darüber Auskunft gibt, ob der zweite Teil des Lebens den ersten Teil kompensiert hat oder nicht. Wenn man eine Biographie dieser Menschen schriebe, wenn man die dafür nötigen Quellen hätte, dann müßte man das neu durchdenken.

3. Stichwort "braune Wurzeln" der Sozialgeschichte: Wie würden Sie den tatsächlichen innovativen Gehalt der Volksgeschichte einschätzen?

Nun, das ist noch in der Debatte. Man liest jeden Artikel, jedes Buch, das darüber erscheint, mit großem Interesse. Und je mehr man erfährt, desto mehr wird sich das eigene Bild präzisieren und ändern. Mit diesem Vorbehalt aber scheint mir, daß sich bei einigen, besonders interessanten Exponenten dieser Richtung "Volksgeschichte", insbesondere bei Werner Conze, die völkische, ideologische Orientierung paarte mit gewissen Innovationen in methodischer Hinsicht. Zu diesen Innovationen rechne ich die Fähigkeit, die herkömmliche Politik- und Ideengeschichte zu erweitern in Richtung historischer Gegenstandsbereiche, die wir damals zur "Volksgeschichte", heute zur Sozialgeschichte zählen. Zu den Innovationen rechne ich auch die Fähigkeit, mit Nachbarwissenschaften, z.B. mit Demographen und Soziologen, allerdings nur Soziologen besonderer Art wie Hans Freyer, also Vertretern einer "deutschen" Soziologie, nicht etwa mit Marx oder Weber, zu kooperieren. Zu den Innovationen rechne ich auch gewisse Neigungen zu statistischen oder kartographischen Arbeiten. Im übrigen aber blieb diese Volksgeschichte so stark gefangen in ihren ideologischen Prämissen, daß sie von daher auch große Blindstellen entwickelt hat und ihrer Innovationsfähigkeit große Schranken auferlegt hat. Die Einsicht in die Dynamik sozialer Klassen, die Einsicht in soziale Konflikte - das war ihr versperrt, und die völkisch-nationalistische Orientierung führte zu vielen Fehlbeurteilungen. Sicher sind die meisten Volkshistoriker, die ich namentlich gar nicht kenne, weit weniger innovativ gewesen als Werner Conze oder Theodor Schieder.

4. War die personelle Kontinuität in der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 spürbar?

Diese Kontinuität in der Geschichtswissenschaft war vermutlich nicht größer als die Kontinuität in vielen anderen Lebensbereichen der Bundesrepublik und in anderen Teilen der Führungsgruppen. Was wir jetzt an der Geschichtswissenschaft diskutieren, steht, so meine ich, exemplarisch für die Frage nach Kontinuität und verpaßtem Neuanfang in der frühen Bundesrepublik überhaupt. Wir entdecken mehr und mehr von dieser Kontinuität. Einige sind nicht mehr zum Zuge gekommen, wie z.B. Wilhelm Mommsen. Viele Emigranten sind nicht zurückgekommen. Entweder, weil sie nicht richtig eingeladen wurden, oder weil sie großes Mißtrauen hatten gegenüber diesem Deutschland und nicht kommen wollten. Und dann gibt es eben doch sehr viel Kontinuität bei Personen, die sich vorher ein ganzes Stück im Nationalsozialismus engagiert hatten, nun unter neuen Bedingungen neue Strategien einschlugen, weil sie sich anpaßten oder/und weil sie gelernt und Konsequenzen gezogen hatten. Karl-Dietrich Erdmann ist da zu nennen, der keine zentrale Rolle als Historiker gespielt hat vor 1945, ganz im Gegenteil, er hat sogar als Lehrer den Schuldienst aufgegeben, weil er zu seiner Frau hielt, die nicht voll als "Arierin" anerkannt wurde. Er hat dann aber an einem Schulbuch mitgearbeitet und dort sehr national eingefärbte Partien geschrieben, soviel man weiß. Ihn habe ich kennengelernt als jemanden, der sehr stark über die politische Rolle der Historiker reflektierte und diese Tradition der Geschichtswissenschaft aufgearbeitet sehen wollte, ohne allerdings seine eigene, persönliche Rolle öffentlich darzustellen. Es gab also Kontinuität, aber es gab auch Versuche, diese Kontinuität jedenfalls individuell, privat zu verarbeiten. Es gab leider viel zu wenig Bereitschaft, sich mit dieser Kontinuität öffentlich auseinanderzusetzen. Das, denke ich, muß man jetzt auch in der Rückschau vielen, wie Schieder und Conze, vorhalten, daß sie auch auf einer fortgeschrittenen Stufe ihrer Karriere, wo sie sich nicht mehr in große Gefahr begeben hätten, ihre Vergangenheit nicht öffentlich reflektiert haben.

5. Warum gab es eine lange Zeit des Beschweigens bzw. der gegenseitigen Rücksichtnahme unter den Historikern, die auch 1968 überdauerte?

Dieses gegenseitige Schonen und Beschweigen war Teil der Alltagspraxis in der frühen Bundesrepublik überhaupt. Einerseits hat man sich von den obersten politischen Funktionären des Nationalsozialismus rasch getrennt, auch unter dem Druck der Besatzungsmächte. Zweitens hat man einen klaren Strich gegenüber der nationalsozialistischen Ideologie gezogen - einigermaßen jedenfalls. Drittens aber hat man darauf verzichtet, Vergangenheitsaufarbeitung im individuellen Fall zu leisten, und hat sich geschont. Warum das so war? Nun, es waren sehr viele involviert. Es hätte die Mehrheit mit sich selbst kritisch umgehen müssen. Das ist schwer. (Nach 1989 war das anders, als die Mehrheit der Westdeutschen mit einer gewissermaßen aus Ostdeutschland hinzukommenden Minderheit umging.) Unter den Historikern dürften sicher auch kollegiale Beziehungen eine Rolle gespielt haben, auch Seilschaften. Seit den 60er Jahren ist dann viel über Geschichtswissenschaft und Nationalsozialismus publiziert worden, wenngleich gegenüber einzelnen Personen doch meist mit Zurückhaltung. Vielen von uns schien es wichtiger, die Methoden, Theorien und Paradigmen der Geschichtswissenschaft auf ihre Nähe zum Nationalsozialismus und auf ihre mangelnde Resistenz gegen nationalsozialistische Instrumentalisierung zu untersuchen, als die Biographie einzelner Kollegen zu durchleuchten. Das ist nie angenehm.

Warum kommen diese Publikationen erst jetzt? Erstens sind heute jene Rücksichtnahmen vorbei. Die Leute, um die es geht, leben nicht mehr. Wer jetzt über sie schreibt, ist nicht mehr Kollege. Zweitens interessieren sich heute Historiker sehr viel mehr für die handlungsgeschichtliche Seite, als wir das taten mit unserem Interesse an Struktur- und Prozeßgeschichte. Auch im Falle der Goldhagen-Debatte hat sich gezeigt, daß Altbekanntes durch Goldhagen in neuem Licht erscheinen konnte, indem er die Handlungen, Haltungen und Perzeptionen einzelner "normaler" Deutscher, die dort mordeten und andere Verbrechen begingen, in den Vordergrund stellte. Diese handlungsgeschichtliche Wende ist in vielen Bereichen bei der jüngeren Generation zu beobachten, innerhalb und außerhalb der Geschichtswissenschaft. Und drittens befinden wir uns ohnehin in einer Phase, in der diese Vergangenheit in einem Maße vergegenwärtigt wird, wie das vor zehn, zwanzig oder dreißig Jahren noch nicht der Fall war. Das sehen Sie an den Debatten über "Schindlers Liste", über Goldhagens Buch, über die Wehrmachtsausstellung, über das Berliner Mahnmal oder über die Walser-Rede. Die nationalsozialistische Phase unserer Geschichte hat heute - wenngleich selektiv - eine solche Präsenz im kulturellen Gedächtnis, in den Medien, in der öffentlichen Diskussion, wie das noch vor einigen Jahren undenkbar war. Mit dieser allgemeinen Verstärkung des Interesses am Nationalsozialismus sehe ich das Interesse an der nationalsozialistischen Phase der wissenschaftlichen und persönlichen Biographie mancher Historiker eng verknüpft.

6. Inwiefern kann oder soll die Geschichtswissenschaft generell Einfluß auf politische Entwicklungen nehmen? In welcher Form wurden Erfahrungen der Geschichtswissenschaft im Dritten Reich in der Bundesrepublik verarbeitet?

Die Geschichtswissenschaft sollte meines Erachtens ihre öffentlichen Funktionen ernst nehmen. Wir sind ein Fach, das nicht nur für sich selber schreibt und forscht, sondern vom Gegenstand und von den Aufgaben her zur Aufklärung und zum Selbstverständnis der eigenen Gesellschaft und Kultur beitragen sollte. Dies ist allerdings von Historikern in einer Weise zu tun, die nicht die Grundsätze ihrer Wissenschaft verletzt. Kein Zweifel, die Erinnerung an die deutsche Verbrechensgeschichte zwischen 1933 und 1945 hat für Historiker verschiedener Jahrgänge seit langem eine große Rolle gespielt, von der Altersgruppe Karl Dietrich Brachers angefangen über meine Generation bis zu Jüngeren. Sie mögen nicht in den Biographien von Kollegen und Lehrern gewühlt haben, aber z.B. in der Debatte über den deutschen Sonderweg, im sogenannten "Historikerstreit" und in vielen Forschungsarbeiten haben Historiker sich grundsätzlich mit der Erfahrung des NS auseinandergesetzt. Generell kann man sich die relativ erfolgreiche Geschichte der Bundesrepublik nur dadurch einigermaßen erklären, daß man sich klarmacht, wie sehr sie aus ihrer Vorgeschichte bis 1945 gelernt hat.

7. Wie erklären Sie sich die derzeitige Resonanz des Themas? Warum weckt die Auseinandersetzung um die Historiker im Nationalsozialismus derartige Emotionen wie auf dem Historikertag in Frankfurt?

Über die allgemeinen Gründe habe ich eben gesprochen. Warum das so viel Emotionen weckt? Nun, es geht natürlich um eine schreckliche Geschichte, an der Historiker beteiligt waren, und als Historiker bedrückt einen das. Zum anderen muß man sehen, daß in dieser Debatte über die Rolle der deutscher Historiker im Nationalsozialismus auch andere Probleme und Konflikte verhandelt werden. Es geht um das Verhältnis der Historikergenerationen zueinander, es geht um das Verhältnis von Richtungen und Schulen zueinander, es geht um die Besetzung von sichtbaren Positionen in der Öffentlichkeit im Kampf um die knappe Ressource öffentliche Aufmerksamkeit. Es geht also auch um Selbstdefinitionen beruflicher und wissenschaftlicher Art, um Rechnungen, die beglichen werden. So erklären sich einige Schärfen.

8. Birgt die Debatte für Sie den Kern eines ernsthaften Streit in der Historikerzunft?

Sie birgt für mich neue Motive zur Beschäftigung mit Grundfragen unserer Profession. Wir sollten neu über das Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Politik nachdenken. Wir sollten darüber nachdenken, was es heißt bzw. nicht heißen kann, aus der Geschichte zu lernen. Denn es scheint mir doch ein sehr erklärungsbedürftiges und im Grunde aufregendes Phänomen zu sein, daß Historiker wie Werner Conze sich einerseits ein ganzes Stück weit in die völkisch-nationalsozialistische Ideologie, Weltanschauung und Politik eingelassen haben und andererseits - gleichzeitig und später erst recht - zu produktiven Historikern geworden sind. Ist die Geschichtswissenschaft, diese Profession, dieses Fach denn unter allen politischen Regimen zu betreiben, oder ist es nicht vielmehr so, daß bestimmte politische Vorgaben und Erwartungen - in modernen Diktaturen etwa - Geschichtswissenschaft auch beschädigen? Darüber nachzudenken ist für ein Fach sehr wichtig, das sich häufig dadurch in der Öffentlichkeit Unterstützung zu sichern versucht, daß es sagt: Wir sind ein Fach, welches der Aufklärung, der demokratischen-politischen Kultur, der Vernunft zu helfen geeignet ist. Solche Grundfragen der Geschichtswissenschaft und die Stellung der Historiker in Gesellschaft, Kultur und Politik zu diskutieren und damit über uns selbst als Historiker zu lernen, darin sehe ich ein wichtiges Ergebnis der letzten Debatte. Den großen Streit zwischen Historikern darüber sehe ich dagegen nicht. Ich bedauere ein wenig, daß sich so wenige Kollegen in der Sache geäußert haben, und freue mich um so mehr über Ihre Initiative.

Wie sehen Sie Ihre Rolle in der Debatte? Auf der einen Seite mußten Sie diese Attacken ertragen, sozusagen als Apologet von Schieder, Conze und deren Generationsgenossen zu gelten, auf der anderen Seite waren Sie maßgeblich daran beteiligt, daß 1997 hier an der Freien Universität bei einer Tagung das Thema schon diskutiert wurde. An anderer Stelle haben Sie es schon angesprochen, daß natürlich auch andere Grabenkämpfe oder Auseinandersetzungen diese Debatte prägen, wie z.B. auch maßgebliche Angriffe gegen die Bielefelder Schule.

Meine Situation in der Frankfurter Diskussion habe ich nicht gerade genossen. Die Zeit war kurz, ich mußte vom Text abweichen und improvisieren. Ich kannte auch die Texte von Aly und Schöttler vorher nicht und habe deswegen kurz und frei sprechend zu reagieren versucht, was bei einer so schwierigen Materie auch zu Sätzen führt, die man eigentlich genauer formulieren möchte.

Dann war natürlich die Inszenierung so angelegt, daß zunächst die ganze Kritik am Engagement der Historiker im Nationalsozialismus vorgetragen wurde. Und irgendwie war wohl die Erwartung da, daß jetzt am Ende jemand in der Diskussion auftreten würde, der eine verteidigende Gegenposition vertrat. Von daher sind vielleicht auch manche meiner Einlassungen in dieser Weise interpretiert worden, obwohl sie nicht so gemeint waren.

Drittens hatte ich eine Erfahrung, die ich gern weiter überlege. Es war eine Situation, in der ein riesengroßer Saal im Grunde auch darauf wartete, daß die Redner ihre Betroffenheit bekunden, Trauer darstellen und persönliche Bekenntnisse ablegen würden. Diesem Bedürfnis gegenüber ist man als Historiker, der glaubt, auf einem Historikertag zu sprechen und sich mit seinen Vorrednern kritisch-sachlich auseinandersetzen will, relativ hilflos. Ich glaube, daß die Diskursart, wie sie innerhalb der historischen Wissenschaft praktiziert wird und praktiziert werden soll, nur sehr begrenzt jene Bedürfnisse nach Betroffenheitsformulierung, emotionaler Identifikation und bekenntnishafter Abstoßung von der eigenen Vergangenheit erfüllt. Aber im ganzen denke ich, daß diese Veranstaltung den Historikern sehr gut getan hat. Und ich bin auch froh darüber, daß ein Band über diese Debatte erscheinen wird und jeder dann im einzelnen nachlesen kann - wenn er sich wirklich dafür interessiert -, was die einzelnen gesagt haben. Es spielten sicherlich auch andere unterschwellige Animositäten, Rechnungen, Attacken eine Rolle, aber dem jetzt im einzelnen nachzuspüren, ist schwierig und nicht der Platz.

In der Tat hatte auf Götz Alys und meine Initiative hin schon 1997 in der von mir und Hannes Siegrist geleiteten Arbeitsstelle für Vergleichende Gesellschaftsgeschichte an der FU eine Debatte über diese Probleme öffentlich stattgefunden. Daraus war für mich der Anlaß entstanden, dem Historikerverband vorzuschlagen, auf dem nächsten Historikertag in Frankfurt eine solche Sektion zu etablieren. Daraus ergab sich dann wohl auch die Einladung an mich, dort als Kommentator aufzutreten.

Wir möchten gerne noch etwas anderes von Ihnen wissen: Sie waren in den Jahren 1989/90ff. ja auch maßgeblich daran beteiligt, die Geschichtswissenschaften der DDR zu evaluieren. Wenn Sie das jetzt vergleichen - auch Sie waren ja damit in einer Rolle des Bewerters -, haben Sie sich bei Ihren Maßstäben auch an Wertungen, die nach 1945 eine Rolle spielten, orientiert?

Historiker, die früher in der DDR gearbeitet haben, werden sich bisweilen gesagt haben: Die Generation der Schieder und Conze und Brunner und Aubin hat nach 1945 eine zweite Chance bekommen, die Generation der Engelberg und Schmidt nach 1990 nicht. Sie mögen das mit einer gewissen Bitterkeit sehen, die ich gut verstehe. Rückblickend wünsche ich mir, daß nach 1945 weniger Kontinuität und mehr Austausch in den Führungspositionen der Wissenschaft, besonders der Geschichtswissenschaft, eingetreten wäre. Umgekehrt habe ich den Eindruck, daß der sogenannte Elitenaustausch in bezug auf die Geschichtswissenschaft und andere Geisteswissenschaften in den neuen Bundesländern, der ehemaligen DDR, radikaler ausgefallen ist, als notwendig gewesen wäre.

Wieweit hat die Besinnung auf die Erfahrung vor und nach 1945 bei unserem Verhalten nach 1989 eine Rolle gespielt, besonders soweit es um die Evaluation der DDR-Geschichtswissenschaft und um die Vorschläge zu ihrer Neuorganisation ging? Ja, ich habe eigentlich immer kritisiert, daß nach 1945/49 nicht genug Ehrlichkeit beim Umgang mit der deutschen Vergangenheit vor 1945 geherrscht hat. Um mit dieser Position konsistent zu bleiben, habe ich auch immer zu denen gehört, die nach 1989 sagten: Wir müssen jetzt genau hinsehen, wir müssen öffentlich über die Rolle der Historiker vor 1989 diskutieren, hier darf nichts unter den Teppich gekehrt werden. Insofern war die Erinnerung an die allzu unvollkommene Vergangenheitsverarbeitung nach 1945/49 in der Bundesrepublik mit ein Motiv für das Plädoyer für eine gründlichere Vergangenheitsverarbeitung nach 1989/90. Doch war mir immer sehr bewußt, welch großer Unterschied zwischen dieser ersten und der zweiten deutschen Diktatur bestand. Der hochgradig verbrecherische Charakter der ersten hatte meines Erachtens keine äquivalente Entsprechung in der zweiten. Die sozialistische Tradition in der DDR hatte auch ihre produktiven Seiten, in einem viel höheren Maße, als ich das der völkisch-nationalsozialistischen Tradition zubilligen würde. Auch hat die DDR fast vierzig Jahre gedauert, das nationalsozialistische Deutschland gerade 13. Von daher war die Lebenssituation der Personen sehr unterschiedlich zu beurteilen. Und schließlich war auch die DDR eine Form der Absetzung vom nationalsozialistischen Deutschland. Die Verfolgungen, die manche Kommunisten und Sozialisten - darunter auch Historiker - in der Zeit des Nationalsozialismus zu erdulden hatten, fielen meines Erachtens sehr ins Gewicht, wenn es jetzt um Beurteilung ging - ein riesengroßes Thema.

Herr Kocka, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Ort des Interviews: Koserstr. 20 (FU-Berlin)
Datum: 15.06.99, 16-17.30 Uhr
Interviewer/in: Hacke, Steinbach-Reimann


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