Interview mit Lothar Gall
zum Thema: "Neubeginn und Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft in den 1950/60er Jahren"

Lothar Gall, geboren am 03.12.1936 in Lötzen/Ostpreussen, studierte Geschichte, Romanistik und Germanistik in München, wo er 1960 bei Franz Schnabel über "Benjamin Constant" promovierte, und ging dann an das Mainzer Institut für Europäische Geschichte. Er arbeitete dann am Mainzer Institut für Europäische Geschichte, bevor er sich 1967 bei Theodor Schieder in Mittelalterlicher und Neuerer Geschichte über das Thema "Liberalismus als regierende Partei" habilitierte. Es folgten Professuren in Giessen und an der FU in Berlin. Gall war u.a. Gastprofessor in Oxford und von 1992 bis 1996 Vorsitzender des Verbandes der Historiker Deutschlands. Er ist Herausgeber der "Historischen Zeitschrift" sowie der Reihen "Grundriß der Geschichte" und "Enzyklopädie deutscher Geschichte".

Seit 1975 lehrt Lothar Gall an der Goethe-Universität in Frankfurt/Main.

Gall: "Aber das sehen Sie mir als Individuum nach, wenn ich die Rolle des Historikers und die des Staatsanwalts auch heute noch als die am stärksten auseinander liegenden ansehe."

Teil 1: Biographische Fragen

Herr Gall, beginnen wir mit einigen biographischen Fragen, mit Fragen zu Ihrer Herkunft. Wir würden gerne etwas über Ihren familiären Hintergrund erfahren. Welche Erfahrungen haben Sie aus der Zeit des Dritten Reiches geprägt und wie haben Sie das Kriegsende 1945 erlebt?

Ich bin Ende 1936 in Lötzen/Ostpreußen geboren, war also am Ende des Dritten Reiches acht Jahre alt. Insofern sind die Prägungen durch das Dritte Reich gering. Wir sind 1944 geflohen, auf etwas abenteuerliche Weise durch das Reich - Bochum, Stuttgart, München. In München bzw. dann im Bayerischen Wald endete meine Schulzeit zunächst, obwohl diese noch gar nicht so richtig begonnen hatte. Das Jahr der ersten Klasse in Lötzen konnte ich zu dreiviertel besuchen, die zweite und dritte Klasse nur sehr unregelmäßig, die vierte Klasse habe ich in Niederbayern, im Bayerischen Wald, beendet und bin dann nach dem Krieg auf ein Internat am Bodensee, Schloß Salem, gegangen. Ich bin dort neun Jahre geblieben, da mein Vater gefallen war. 1956 habe ich angefangen bei Franz Schnabel in München zu studieren. Ich habe dann auch 1960 bei ihm promoviert, und er hat uns immer sehr gedrängt, damit wir nicht auf der Straße säßen, falls er bald sterben sollte. Ich habe also nach acht Semestern promoviert und bin dann als Stipendiat ans Mainzer Institut für Europäische Geschichte gegangen.

Lassen Sie uns noch einmal in den Abläufen zeitlich etwas zurückgehen. Was waren für Sie die Gründe, Geschichte zu studieren? Waren für diese Entscheidungen Erfahrungen und Prägungen aus dem Elternhaus grundlegend? Waren es Lehrer in der Schule? Oder war das gar eine ganz "natürliche" Entscheidung?

Nein, es war keine "natürliche" Entscheidung. Ich sollte und wollte zuerst ganz in der Tradition meiner Familie Jura studieren und habe dann im ersten Semester als allgemeinbildende Vorlesung Schnabel gehört. Durch ihn bin ich auf die zunächst etwas abwegig erscheinende Idee gekommen, nicht Jura, sondern Geschichte zu studieren. Das ist die eigentliche Prägung. Sicher hatte ich in der Schule schon Interesse an Geschichte, jedoch nicht so, daß ich mir das für die berufliche Zukunft hätte vorstellen können. Schnabel las allgemeine Geschichte der Neuzeit - eine Sache, die heute wohl keiner mehr machen würde -, und das war für einen jungen Menschen damals schon sehr eindrucksvoll. Dadurch bin ich zum Geschichtsstudium gekommen, und es ging denn auch zügig voran. Im dritten Semester habe ich sein Seminar besucht, und er hat das Studium dann vorangetrieben, eher noch stärker als ich.

Er ist Mitte/Ende der 60er Jahre gestorben.

Ja, er ist Mitte der 60er Jahre gestorben, da war er 78 Jahre alt. D.h. als ich bei ihm studierte, war er schon hoch in den 60ern. Weil er im Dritten Reich aus der Universität entfernt worden war, hatte er vom bayerischen Kultusministerium die Erlaubnis, das Datum seiner Emeritierung selbst zu bestimmen. Daher hatte er also bis zu seinem 77. Lebensjahr gelehrt. Er hat sehr gern gelehrt, und der Abschied war wohl wirklich nur dem Alter geschuldet. Anderthalb Jahre später ist er dann gestorben, fast sprichwörtlich in den Sielen. Es waren diese Bedingungen, den Zeitverlust des Dritten Reiches nachzuholen, die ihn dahin brachten. Er war auch in München der einzige Historiker für Neuere Geschichte, mit einem riesigen Kolleg und einem ebenso großen Schülerkreis. Schnabel ist in dieser Zeit ganz in der akademischen Lehre aufgegangen, während er wissenschaftlich weniger produktiv war. Die wissenschaftliche Produktivität lag bei ihm in der Zeit der Weimarer Republik. Die Möglichkeit zu publizieren, war ihm durch Schreib- und Veröffentlichungsverbot während des Dritten Reiches genommen. Auf den Münchner Lehrstuhl berufen, hatte er sich dann ganz auf die Ausbildung und Förderung von Fachhistorikern konzentriert.

Wie würden Sie seinen Lehrstil beschreiben, was charakterisierte das Klima in den Seminaren, die Sie bei ihm belegten?

Nun, er war ja zuerst Studienrat, hatte sich dann 1922 in Karlsruhe habilitiert und ist gleich darauf dort berufen worden, hatte also die Aufgabe, Ingenieure an die Geschichte heranzuführen. So waren dann auch seine Vorlesungen angelegt, d.h. er versuchte einem interessierten Laienpublikum die Geschichte zu vermitteln. Das hat dann auch seine Lehre nach 1945 sehr stark geprägt. Er hatte kein spezialisiertes Fachpublikum vor Augen, sondern betrachtete die Historie eher als ein Bildungsfach. Natürlich wußte er sich auf die neue Situation einzustellen, doch war die Perspektive auf die Geschichte eine andere als bei seinen Universitätskollegen.

War es dies, was Sie besonders faszinierte, oder gab es auch zeitgeschichtliche Gründe für Ihre Motivation, Geschichte zu studieren? Das Institut für Zeitgeschichte in München befand sich ja in unmittelbarer Nähe. Bot dies auch für Sie einen Studienanreiz oder war das Studium doch sehr auf die Lehre Schnabels konzentriert?

Das sind nun zwei Fragen. Erst einmal war und blieb Franz Schnabel der "Hauptlehrer". Dagegen hat mich die Zeitgeschichte an sich damals nicht sehr beschäftigt, und dies ist seitdem auch weitgehend so geblieben. Mein Schwerpunkt ist das 18. und 19. Jahrhundert. Schnabel selber hatte die Vorstellung, Geschichte bedürfe der Distanz von 30 bis 40 Jahren. Das vertrat er eher unbefangen, nicht etwa im Hinblick darauf, seine eigenen Erfahrungen und ja gar nicht vorhandenen Verwicklungen im Dritten Reich auszublenden. Aber er empfand die unmittelbare Nähe des Historikers zu seiner eigenen Zeit als ein Erkenntnishindernis. Das hat er auch so vermittelt, und unter seinen Schüler war dann auch eigentlich kein Zeithistoriker. Hermann Mau, der erste Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, war ein Schüler von ihm, aber die meisten seiner Schüler beschäftigten sich mit Themen der Frühen Neuzeit und des 18. und 19. Jahrhunderts. Hier gab es mit der Zeitgeschichte kaum eine Berührung.

Ein Vorgang, der auf mich großen Eindruck gemacht hatte, stand im Zusammenhang mit dem Ungarnaufstand von 1956. Da rief ein junger, aufgeregter Mann in der Lehrveranstaltung: "Wie können Sie hier über das 15. Jahrhundert lehren, während in Ungarn jetzt solche Dinge geschehen?" In dem Saal mit zweitausend Hörern war eine große Spannung, was Schnabel darauf antworten würde. Er sagte nur: "Wissen Sie, ich bin hier angestellt, um Geschichte und zu diesem Thema zu lesen und nicht, um vom Katheder herunter zu politisieren." Und das fanden wir alle eigentlich richtig. Wir hatten nicht das Gefühl, er wäre hier ausgewichen, gar vor dem Hintergrund seiner eigenen Biographie, die zudem ja keinen Grund dazu gegeben hätte. Aber die Rolle des "politischen Professors" im engeren Sinne war für die damalige Generation eher problematisch, jedenfalls in München.

Sie sind dann nach dem Studium nach Mainz gewechselt.

Ich hatte in München promoviert und baute die Dissertation, sie ist 1963 erschienen, als Stipendiat an diesem Mainzer Institut für Europäische Geschichte aus - durch Schnabel dorthin vermittelt. Ich habe Schnabel dann öfter besucht. Bei einer solchen Gelegenheit zeigte er mir das Programm "so einer Organisation", der Deutschen Forschungsgemeinschaft - er erklärte mir dann auch, was das denn sei -, die Stipendien anbot, auch für Habilitanden. Er fragte mich, ob ich daran interessiert sei, was ich natürlich bejahte. Er schrieb dafür ein Gutachten, und ich bekam ein Stipendium von 1962 bis 1965. Während dieser Zeit schrieb ich mein Buch über "Baden in der liberalen Ära". Die Anlage dieses Buches ging auf Schnabels Bild von Bismarck zurück. Er war ein Bismarckkritiker und empfand diese Zeit als eine Schwelle zu einer fatalen Entwicklung. Diese Sicht war natürlich geprägt durch seine politischen Anschauungen katholisch-liberaler Herkunft aus Süddeutschland, eine grundsätzliche Gegnerschaft. Schnabel regte nun an, am Beispiel Badens die Frage zu verfolgen, wie die Geschichte verlaufen wäre, wenn nicht Bismarck, sondern das liberale Bürgertum sich in Deutschland durchgesetzt hätte. Ich empfand das als eine sehr spannende Frage, zumal ich mich schon mit Benjamin Constant und dem deutschen Vormärz beschäftigt hatte. Damit war diese Arbeit zum einen eine Fortsetzung dieser Themen, aber auch eine zentrale Frage der deutschen Entwicklung.

1964 kam die Zäsur seiner Emeritierung und der Lehrstuhl in München sollte neu besetzt werden. Es gab eine Berufungsliste mit Schieder, Conze und Erdmann. Schnabel wollte Schieder, der ja Bayer war, als seinen Nachfolger. Ob er von den Dingen, die heute soviel Aufregung verursachen, etwas wußte, weiß ich nicht. Er bildete sich jedoch seine ganz spezifischen Urteile, die nicht ganz den Urteilen der Nachgeborenen entsprechen.

In welche Richtung gingen denn diese Urteile?

Nun ja, er hat manche Kollegen, wie etwa Willy Andreas, sehr skeptisch, sehr kritisch gesehen, zumal sich das auf einer Generationsebene befand, die er sehr genau kannte. Er hatte den Opportunismus der damals im Amt Befindlichen schon klar gesehen. Man hatte ihn damals auch sehr schlecht behandelt. Sein großer Konkurrent Gerhard Ritter und er liebten sich nicht so, weil sie auch ganz unterschiedlich waren, aber Ritter hat ja auch nach dem Krieg keine Hand für Schnabel gerührt. Schieder dagegen schätzte Schnabel sehr, gar keine Frage.

Schieder hat schließlich den Ruf nach München abgelehnt, Conze und Erdmann auch. Schnabel hatte jedoch mit Schieder vor der Ablehnung gesprochen, dann auch einen Brief geschrieben, in dem er ihn bat, ob dieser nicht etwas für mich tun könne. Schieder antwortete, er könne dies ja auch von Köln aus machen, also mich weiter betreuen bzw. übernehmen. Ich habe daraufhin einen Vortrag in seinem Oberseminar in Köln gehalten, bin im Mai 1965 zu ihm nach Köln gewechselt und habe mich Anfang 1967 habilitiert, um danach nach Karlsruhe und Gießen zu gehen. Die Zeit also, die ich bei Schieder selbst war, war relativ kurz, knapp zwei Jahre. Allerdings muß ich sagen, daß der heutige Vorwurf, Wolfgang J. Mommsen, mein damaliger Kollege in Köln, und ich hätten Schieder nicht nach seiner Vergangenheit gefragt, etwas weltfremd ist. So wie es damals war, und vielleicht ist es sogar heute noch so, erlaubten es die hierarchischen Abstufungen nicht, zu fragen: "Sagen Sie, Herr Schieder, was haben Sie eigentlich vor 1945 gemacht?" Nicht, daß sich die Frage nicht stellte, aber es gab dazu nicht die Gelegenheit. Man stand zu ihm als Professor nicht in dem Verhältnis, diese Fragen zu erörtern. Man kam nicht einmal durch das Vorfeld. Es ist nicht die Frage, warum wir uns nicht trauten, sondern es war ein Thema, das sich zur Erörterung nicht anbot, zumal man von dem Hintergrund damals nichts wußte. Sicher war bekannt, daß er als junger Mann in Königsberg war; ebenso konnte man sich denken - was ich auch in meinem Nachruf von 1984 über ihn geschrieben habe -, daß er kein Gegner des Regimes war, denn man konnte kein Professor werden, wenn man Regimekritiker war. Aber alles das, was Götz Aly nun aus den Akten herausgezogen hat, war uns ganz unbekannt.

Sie kamen vorhin auf die Bismarckforschung zu sprechen. Hans Rothfels hatte für diese ja eine sehr große Rolle gespielt. Ist dadurch nicht der "Königsberger Kreis" (in dessen Mitte Rothfels eine zentrale Figur war) als Thema in Gesprächen und Diskussionen, etwa auch mit Schnabel, aufgetreten?

Nein, das eben nicht. In diesem Punkt waren Schieder und Schnabel ganz unterschiedlich. Nur, auch diese Fragen sind angesichts der Art von Schieder nicht so direkt besprochen worden. Schieder war, als ich ihn kennen lernte, eine sehr, sehr distanzierte Persönlichkeit. Nicht, daß er sich abriegelte, aber er hatte eine sehr starke Sperre, mit Leuten direkt zu sprechen, selbst mit Kollegen. Daher dachten Wolfgang Mommsen, Wehler und ich, daß Schieders Haltung zum Dritten Reich seiner abwägenden, immer sehr distanzierten Art, sich den Dingen zu nähern, entsprochen haben müsse. Er hatte eine das klare Bekenntnis zu politischen Anschauungen scheuende Haltung, wobei man dazu sagen muß, daß wir, die wir ihn erst nach 1945 und seit den 50er Jahren - ich erst seit Mitte der 60er - kannten, diese Haltung als eine beständige Einstellung vor Augen hatten, während er selber diese erst nach 1945 besonders akzentuiert haben mochte. Jedenfalls hatte er eine Art von detachierter, analytischer Haltung - das sehen Sie auch in seinen Aufsätzen -, die das unmittelbare Werturteil scheuten. Die Ebene, auf der er dies erläuterte, war immer von der unmittelbaren Gegenwart abgehoben. So, dachten wir, sei er auch im Dritten Reich gewesen. Und so war es ja dann auch im weiteren Verlauf, daß er nämlich schon von seiner Mentalität her nicht zu diesen Protagonisten der NS-Zeit zählte. Es war für uns schwer vorstellbar, daß Verbindungen zwischen ihm und den "Rabauken" der NS-Zeit bestanden.

Blickt man nun auf die heutige Debatte, die sehr laut ist und in welcher der Vorwurf erhoben wird, daß diese NS-Vergangenheit nicht gesehen worden ist, so geht es hierbei um Historiker, die mittlerweile tot sind, und um uns, die wir gut etabliert sind. Hier muß ich sagen, daß die Debatte in den 60er und 70er Jahren etwas anders verlaufen ist. Wehler, Mommsen und ich waren noch junge Leute, und bei vielen Dingen hat man sich dann gesagt, die NS-Vergangenheit wird wohl so gewesen sein, aber nun lassen wir das mal auf sich beruhen. Das war nicht Feigheit, sondern eine Lebenshaltung in der Distanz zur älteren Generation.

In der Mitte der 60er Jahre erschienen dann die ersten Versuche von Historikern, die NS-Vergangenheit deutscher Historiker aufzuarbeiten, vor allem die Bücher von Helmut Heiber oder Karl Ferdinand Werner. Hat man diese Bücher damals einfach nur zur Kenntnis genommen und die Ergebnisse dann auf sich beruhen lassen? Oder hat man es im Kollegenkreis diskutiert und die Thematik sogar problematisiert?

Das muß man vom eigenen Fach her sehen. Ich habe das Heibersche Buch zum Beispiel nur ganz aus der Entfernung wahrgenommen. Es hat mich wissenschaftlich weniger interessiert. Das Thema lag außerhalb der Interessen, die ich selber verfolgte. Es war dann auch, um das hinzuzufügen, eine Frage des Stils. Mich haben Fragen zur Geschichte geführt, die sich weniger damit beschäftigten, was X tat oder was Y im Dritten Reich machte. Das war für uns, die wir persönlich auch nichts damit zu tun hatten, eine Art Geschichte, von der wir sagten, daß dies so gewesen sein mochte, daß es aber nicht von zentraler Bedeutung war. Aber das sehen Sie mir als Individuum nach, wenn ich die Rolle des Historikers und die des Staatsanwalts auch heute noch als die am stärksten auseinander liegenden ansehe. Es ist ja auch in der heutigen Debatte nicht die zentrale Frage, wie die damalige herrschende deutsche Geschichtswissenschaft zum Dritten Reich stand - eine Frage, die ich übrigens überaus spannend finde -, sondern es ist die Frage, wie die damals noch jungen Historiker, die überlebt hatten, zum Dritten Reich standen. Es ist die Frage, wie die "Dons" der ganz jungen Bundesrepublik im Dritten Reich agiert haben. Daß diese aber im Dritten Reich in der Lage der Abhängigen waren, die dann in der frühen Bundesrepublik ihre eigenen Schüler hatten, das gerät dabei aus dem Blickwinkel. Die Debatte suggeriert eine merkwürdige Gleichmäßigkeit, und die Frage, wer im Dritten Reich unter den Historikern führend gewesen ist, wer sich dem Dritten Reich näherte oder ferner stand, tritt dabei in den Hintergrund zurück. So spielen führende Köpfe der damaligen Zeit, die aber im Krieg starben und daher in der frühen Bundesrepublik keine Rolle mehr spielen konnten, auch heute in der Debatte keine Rolle mehr.

Auf diesen Komplex werden wir noch einmal in dem Teil der standardisierten Fragen zurückkommen. Worüber wir noch gerne etwas erfahren würden, ist das Phänomen längerer Traditionslinien. Machen wir vielleicht einen kleinen Zeitsprung. 1975 wurden Sie Mitherausgeber der Historischen Zeitschrift. Diese Zeitschrift weist ja auch auf Kontinuitäts- und Bruchlinien hin, mit ihren Herausgebern Heinrich von Sybel und Friedrich Meinecke. Auf Meinecke folgte nach Konflikten Karl Alexander von Müller, der die HZ im Dritten Reich auf einen stromlinienförmigen Kurs brachte. Inwieweit hatten Sie Einblicke in diese institutionellen Aspekte der heutigen Debatte? Beachtet man zudem, daß Karl Alexander von Müller noch bis 1964 die Nachkriegszeit erlebte und Schieders Betreuer bei dessen Promotion 1933 gewesen war.

Aber für Karl Alexander von Müller war 1945 eine Zäsur. Danach war die wissenschaftliche Karriere beendet. Müller gilt als ein Beispiel der regierenden Köpfe während des Dritten Reichs, die Meinecke als Herausgeber herausgedrängt hatten. Das endete 1945. Und dann begann die Herausgeberschaft von Ludwig Dehio, das war also eine wirkliche Zäsur. Wir hatten, vielleicht fälschlicherweise, die Idee, daß in diesen Dingen 1945 eine sehr massive Zäsur stattfand. Das gilt auch für die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München. Heinrich Ritter von Srbik war Präsident bis 1945, und danach begann der Neuanfang. Daß dort noch eine Kontinuität herrschte, kann man schlecht sagen, es war jedenfalls eine sehr gebrochene Kontinuität. Denn die Kontinuität riß mit dem Ende des Dritten Reiches in weiten Teilen ab. Und nun sagt man, daß durch Freyer, Conze, Schieder und Erdmann doch eine stärkere Kontinuität bestanden habe. Jedenfalls aber wurde Schnabel 1951 neuer Präsident der Historischen Kommission, das war ein deutliches Zeichen, daß nun eine Person an die Spitze kam, die zuvor zu den Gegnern des Regimes gehört hatte. Das verstärkte natürlich das Bild der Diskontinuität in den Institutionen.

Wenn Sie sagen, mit Sybel und Meinecke gebe es eine Linie, so ist es eine gebrochene Linie, voller Umwege. Und wenn Sie nach meiner eigenen Rolle dabei fragen, so habe ich als junger Mann den Rezensionsteil gemacht. Zuerst waren ja Schieder und Theodor Schieffer, ein Mann mit entschiedenen Meinungen, aber auch ein Gegner des Dritten Reiches, die Herausgeber. Schieder war zuständig für den Aufsatzteil, Schieffer hatte den Rezensionsteil betreut. Als es zu Differenzen zwischen den beiden kam, schied Schieffer aus und ich übernahm den Rezensionsteil, den ich schon für eine Phase mit ihm gemacht hatte. Das waren allerdings Entscheidungen, die zwar nicht ad hoc, aber doch eher auf die Gegenwart bezogen gefällt wurden. Dabei hatte man weniger auf gewisse Traditionslinien geachtet, so etwa "Schnabels Linie", die sich jetzt in die HZ fortsetzte. Das wäre in dieser Weise zu sehr in Zusammenhängen gedacht, die sich so nicht ergaben. Ich habe meine eigene Tätigkeit nicht in eine ganz bestimmte Richtung gehend gesehen. Nun kann man auf der anderen Seite nicht bestreiten, daß die Historische Zeitschrift eher ein "Mainstream"-Organ ist. So wurde in den siebziger Jahren "Geschichte und Gesellschaft" herausgebracht, ich weiß nicht, ob als eine Gegengründung zur Historischen Zeitschrift, aber als Gründung, die die Sozialgeschichte stärker präsentieren wollte. Aber das ist ein Teil der bundesrepublikanischen Geschichtswissenschaft, die weder hier in der "Historischen Zeitschrift" noch dort in "Geschichte und Gesellschaft" mit dem Dritten Reich zusammenhängt.

Wie oder vielmehr wo würden Sie sich im Spektrum der deutschen Geschichtswissenschaft seit der Wende der 60er Jahre hin zur Sozialgeschichte positionieren? Immerhin sind zwei der bekanntesten Schüler von Theodor Schieder, nämlich Hans-Ulrich Wehler und Sie, jeweils Herausgeber der beiden genannten Zeitschriften. Wie haben Sie diesen Aufbruch der 60er Jahre, die Entstehung der Bielefelder Schule erlebt? Gab es etwa innerhalb des Historikerkreises um Schieder Diskussionen um diese neuen Ausrichtungen?

Das ist eine sehr schwierige Frage. Zuerst einmal - das ist allgemein bekannt - hatte Schieder nach 1945 viele Schlüsse gezogen. Der eine führte dazu, daß die Liberalität sehr weitläufig war, d.h. daß er unter seinen Schülern alle möglichen Charaktere, auch Leute, die heute keiner mehr kennt, versammelt hatte, die nebeneinander wirkten. Er hatte ihnen allen einen Raum gegeben, stärker als das bis dahin überhaupt in der Geschichtswissenschaft üblich gewesen war. Das gehört zu den Merkwürdigkeiten dieses Umbruchs, daß Schieder, wohl selbst mit dem Gefühl, während des Dritten Reiches in dieses verwickelt gewesen zu sein, dafür sorgte, daß alle seine Schüler das breite Feld ihrer Interessen pflegen und dabei sich seiner Fürsorge - nicht Zustimmung, denn er hatte ja eine eigene, sehr klare Position - sicher sein konnten. Aber es war eine Sache, ob er etwas wissenschaftlich in Richtung und Fragestellung gut fand, oder ob er etwas interessant fand, was zudem lege artis war und das er unterstützte. Das traf z.B. auf Wehler zu, der eine kämpferische Natur war und sich ja (auch in seinen Fußnoten ablesbar) reihum "viel Feind, viel Ehr" gemacht hat. Das schien für Schieder in Ordnung zu sein. Dann glaubte Wehler, der Gegenstand seiner Habilitationsschrift sei bereits von einem anderen vorweggenommen worden, was wohl zu individuellen Krisen geführt hat, wobei Schieder ihm immer die Stange gehalten hat.

Das ist das, was ich in der ganzen Debatte etwas schwierig finde. In der Zeit, in der wir fast täglich mit Schieder zusammen waren, als Assistenten - ich bei Schieder, Wehler bei Angermann -, da hatte er uns immer im wissenschaftlichen wie auch in den menschlichen Bezügen eine starke Grundloyalität entgegengebracht. Der Diskurs vermittelt immer nur einen Teil der Dinge, aber die gelebte Welt der 60er Jahre war so, daß er eine Art väterliche Rolle in diesem Wissenschaftssystem gespielt hat. So konnte man sagen, daß die Schieder-Schüler zwar sehr unterschiedlich waren, sie haben aber alle einen gemeinsamen Protektor gehabt, und ich würde sagen, dies nicht nur als wissenschaftlicher Fachmann, sondern auch in menschlicher Hinsicht. Im Vergleich zu heute war das Verhältnis wohl in vielen Bereichen viel distanzierter, aber im engeren Schülerkreis stand man sich sehr viel näher. Man fühlte sich als Schüler dieses Mannes, war auch stolz auf ihn. Das ist ein gelebtes Beziehungsgeflecht, das mit uns, die wir es erlebt haben, wieder versinken wird. Kurzum, er hat die Ausweitung der Geschichte in alle möglichen Bereiche außerordentlich stark gefördert und, ohne im Kern mit dem Neuaufbruch zu sympathisieren, ihn doch erst möglich gemacht. Das ist etwas, womit man immer rechnen muß: Wenn das Neue sich einen Durchbruch verschaffen will, so muß es sich zuerst bis zu einem bestimmten Grad der Unterstützung der jeweils dominierenden Kräfte versichern. Und dafür hat Schieder gesorgt.

Würden Sie sagen, daß er Sie methodisch am stärksten geprägt hat?

Mit der Prägung ist das so eine Frage. Da bin ich wohl von Schnabel viel stärker bestimmt worden, etwa in den Themen, der Fragestellung oder der Methodenwahl. In dieser Hinsicht war ich zwar unter den Schieder-Schülern thematisch und methodisch kein Fremdkörper, aber doch sehr weit entfernt. Ich habe jetzt auch in der Debatte immer gesagt, daß ich Schieders Assistent war und ihm natürlich viel verdanke, und da, wo sich seine Themen mit denen Schnabels berührten, da ergänzten sie sich auch. Aber im engeren Sinne eines geistigen Schülers von Schieder würde ich mich immer nur begrenzt sehen. Ich bin dort ganz als Teil seiner Schüler aufgenommen worden, zwar nicht in der Wolle gefärbt wie Wolfgang Mommsen, aber voll akzeptiert. Man hatte nicht die gleichen Meinungen und Interessen, aber das ging dort dann trotzdem gut zusammen.

Ein prominenter Schüler Schieders wird in der heutigen Debatte schmerzlich vermißt: Thomas Nipperdey. Welche Rolle spielte er in dieser Zeit?

Nipperdey ist eine Figur, die irgendwo dazwischen lag. Er hatte bei Bahr in Köln Philosophie studiert, Schieder hat ihn dann an sich gezogen, gefördert. Nipperdey ist dann 1964 oder 1965 nach Karlsruhe gegangen. Er stand den liberalen, vielleicht mit Vorbehalt konservativen Kreisen von Historikern nahe, "konservativ" mit Vorbehalt, da in dem heutigen Wissenschaftsbetrieb wir uns alle politisch im Bereich von Mitte-Links befinden. Im Unterschied etwa zu Frankreich ist ja das politisch rechte Spektrum seit dem Zweiten Weltkrieg diskreditiert, selbst wenn Wehler in den 70er Jahren von den Neokonservativen sprach. Da sind wir doch alle Teil einer allgemeinen Entwicklung.

Mir kommt dabei die Frage der Abkömmlinge, die Sie zuvor gestellt hatten, in den Sinn, mit mir meinetwegen, Wolfgang J. Mommsen und Wehler, damit haben Sie die drei Hauptrichtungen. Dabei kann man sagen, daß Wehler und ich uns zwar nicht aus dem Wege gegangen sind, aber Wehler und ich haben persönlich und wissenschaftlich eher weniger miteinander zu tun.

Zumindest rezensieren Sie sich gegenseitig doch recht freundlich.

Was heißt freundlich? Ich denke doch fair. Und jedenfalls nicht in diesem Stil der dramatischen "Schlage-tot-Mentalität". Die Sozialgeschichte, die Historische Sozialwissenschaft war ja eine Strömung, die ihre eigenen Ausdrucksformen gefunden hatte. Ich dagegen, da bin ich nun ganz Partei, sehe das Feld der Historie eher weitläufiger; in der Tradition Schieders sozusagen akzeptiere ich dieses und jenes, während bei manchen Bielefeldern - den Nachfolgern Wehlers, bei Wehler selbst weniger - die Tendenz zu bemerken ist, nur diese eine Richtung von Geschichtswissenschaft zu dulden, also die Forschung stärker schulmäßig zu organisieren. Das Phänomen, daß Wehler - wie etwa Schieder - Leute fördern würde, die seinen grundlegenden Ansichten widersprechen, wird man wohl dort nicht vorfinden. Insofern ist das schon ein Generationensprung von Schieder zu Wehler. Die weitläufige Liberalität, die in den 50er und 60er Jahren herrschte, die hat sich dann wieder etwas verengt. Es waren zeitweise gar Heersäulen, die sagten: "Der gehört zu uns, der gehört zum anderen Lager." Ich habe mich immer bemüht, und das auch in der Historischen Zeitschrift, dieses Lagerdenken zurückzudrängen. In der Historischen Zeitschrift haben Vertreter aller Richtungen Raum gefunden, das wurde auch schon zu Zeiten Schieders so gemacht, der die Meinungen in manchen Aufsätzen schrecklich, aber die Machart überzeugend fand und dann auch zur Diskussion stellte. Dadurch blieb die HZ auch in den stürmischen Jahren der Auseinandersetzung, in den 70er Jahren, immer noch ein vermittelndes Organ, mehr denn als ein Parteirichter, was wohl mehr auf Geschichte und Gesellschaft zutraf. Aber das ist ein Bereich, in dem ich immer werte.

Welches waren dabei die Themen, an die die Debatten immer wieder anschlossen?

Ich glaube, die großen Fragen waren die, die den Zugang zur Geschichte betrafen, wie etwa die Frage nach den Kräften der Geschichte, welches sind die wichtigen Bereiche, so wie Wehler sie formulierte, mit "sozialer Ungleichheit", Wirtschaft und Gesellschaft. Sind die allgemeinen strukturellen Voraussetzungen das Entscheidende oder sind es die kontingenten Faktoren? Aber das waren mehr grundsätzliche Fragen. Dabei sehen Sie, und das ist ganz interessant, daß bei den Schieder-Schülern kaum einer darunter ist, der Zeithistoriker ist. Zwar nähert sich Wehler jetzt mit seiner Gesellschaftsgeschichte dieser Zeit, aber er ist ein Mann des 19. Jahrhunderts. Mommsen ist es ebenso, mit seinen Gegenständen Max Weber und Imperialismus. Aber dieses Phänomen der wenigen Zeithistoriker geht sowohl auf die Schüler als auch auf den Lehrer zurück. Schieder hat sich nicht mit der Zeitgeschichte beschäftigt, er hatte damit Berührungsängste eigentümlicher Art und hat deshalb dafür auch keine Schüler angezogen. Er hat dieses Gebiet gemieden, allerdings aus anderen Gründen als Schnabel, der ja auch nicht über die NS-Zeit gelesen hat. Somit sind die Fragen, die heute ins Zentrum rücken, dort methodisch und sachlich außen vor geblieben. Das ist aber auch ein spezifischer Fall, es gilt zum Beispiel für Erdmann überhaupt nicht.

Und Conze beschäftigte sich ja auch stark mit zeitgeschichtlichen Themen - schrieb über Jacob Kaiser und Weimar -, nicht nur mit der Geschichte der "technisch-industriellen Welt".

Aber nicht mit dem Dritten Reich. Er hatte Schüler, die sich dann auch mit diesem Abschnitt beschäftigen konnten, wie etwa Hans Mommsen. Aber das Verhältnis Schieder-Rothfels ist hier natürlich sehr spannend. Rothfels scheint durch seine jüdische Herkunft und seine Emigration von den Vorwürfen ganz weit weg, aber er war es natürlich nicht, denn der Einfluß von Rothfels auf Schieder war in der Königsberger Zeit doch sehr stark. Rothfels hatte in manchen Dingen mit dem Dritten Reich Berührungspunkte. Der NS-Studentenbund hatte sich vor seiner drohenden Entlassung 1934 sehr für Rothfels eingesetzt, indem er darum bat, bei ihm doch eine Ausnahme zu machen, da Rothfels ja ein ganz nationaler Mann sei. Aber das waren eben jene merkwürdigen Zusammenhänge, die nach dem Krieg glatt gestrichen wurden. Schieder und auch Conze waren dann eben Schüler von Rothfels. Wie soll man diese beiden nun einschätzen?

Ich bin nun nicht so nahe dran, daß ich die massiven Angriffe von Götz Aly genau beurteilen könnte, aber ich übernehme sie auch nicht ungeprüft. Ich sehe bei Schieder die Distanz doch größer und die Eigeninitiative geringer, als es Aly tut. Natürlich klingen die Vokabeln in unseren Ohren furchtbar. Es ist aber etwas anderes, ob man hier die Frage der mittel-/osteuropäischen Probleme in den Vordergrund stellt oder diese Äußerungen allein im Licht der Erfahrung von Auschwitz sieht. Dazwischen liegt meines Erachtens eine Welt.

Teil 2: Standardisierte Fragen

1. Wie werten Sie die Rolle der deutschen Historiker im Nationalsozialismus? Handelt es sich vorwiegend um Mitläufer, oder kann man angesichts der neuesten Forschungsergebnisse sogar von Vordenkern oder Mittätern im Sinne einer aktiven Politikberatung sprechen?

Zuerst einmal kann man die deutschen Historiker nicht als eine Einheit sehen. Das waren sie damals nicht, und das sind sie auch heute nicht. Insofern kann man das immer nur von Fall zu Fall und im jeweiligen Zusammenhang beurteilen. Ich würde nicht sagen, daß sie die Vorbereiter oder gar die Sturmtruppe des Nationalsozialismus waren. Sicher gab es viel Opportunismus in den unterschiedlichsten Bereichen. Es ist in gewisser Weise ein Thema, das die Wissenschaft beschäftigen muß, aber ich würde immer davor warnen, dies zu pauschalisieren. Es gibt bei der Fülle der Institutionen und bei der Fülle der Historiker so unterschiedliche Antworten, auch nach ihrer jeweiligen Vorgeschichte, ihrer Nähe oder Ferne zu bestimmten Richtungen der Weimarer Republik, so daß ein begründetes und den gesamten Kontext berücksichtigendes Urteil überhaupt noch nicht möglich ist. Wir befinden uns sozusagen noch in der Phase der 'staatsanwaltlichen' Ermittlungen mit gewissen Pauschalisierungen, die da auch nicht unvermeidlich sind.

2. Kann man intellektuelle "Entgleisungen" wie im Falle Conze und Schieder durch ein vorbildliches Wissenschaftlerdasein in der Bundesrepublik kompensieren?

In der Frage steckt schon das Urteil, daß der Fall Conze und Schieder so liegt. Ich würde die Frage zunächst einmal, was Schieder betrifft, sehr viel offener behandeln. Natürlich gibt es Formulierungen in den Schriftstücken, die uns vorliegen, die besonders grell klingen, aber man müßte einmal genau sehen, wie sich das in den jeweiligen Kontext einordnet.

Ich würde auch die biographische Frage mit dem Schema "Da ist Schuld, und die muß durch Leistungen wiedergutgemacht werden" nicht so stellen, so geht es in der Geschichte ja nicht zu - etwa wenn man fragt, ob Bismarck dann und wann seine Schuld gebüßt hat. Ich finde das eine unhistorische Frage.

3. Stichwort "braune Wurzeln" der Sozialgeschichte: Wie würden Sie den tatsächlichen innovativen Gehalt der Volksgeschichte einschätzen?

Das war nun für jene, die sich der damals neuen Richtung zuwandten, ein innovativer Ansatz. Den Begriff der "braunen Wurzeln" halte ich aber für ganz abwegig, weil es immer auf die Mentalität desjenigen ankommt, der mit den neuen Methoden und der Fragestellung umgeht, und da es eben eine Mentalitätsfrage ist und ich gerade dieser Richtung nicht angehöre, so daß ich das relativ unbetroffen einschätzen kann, glaube ich nicht, daß es eine bestimmte Kontamination des Denkens durch bestimmte Methoden oder Zugänge gibt. Es war damals gegenüber den diplomatie- oder politikgeschichtlichen Ansätzen eine neue Form der Geschichtswissenschaft, auf die sich ein Teil der jüngeren Generation gestürzt hat, weil sie darin methodisch wie sachlich etwas Neues sah. Daß dieses in einem engen Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus stand, ist wohl wahr, aber das sollte man nicht überstrapazieren. Für die nachfolgende Sozialgeschichte bestanden dann ganz andere Verhältnisse, sie ist aus der "École des Annales" genauso gewachsen wie aus anderen Wurzeln, und von der "École des Annales" wird nun niemand behaupten - schon wegen der Herkunft ihrer führenden Mitglieder -, daß sie braune Wurzeln gehabt hätte. Dieser Begriff ist, von Ihnen so freilich nicht verwendet, eine denunziatorische Formel, die uns gar nicht weiterhilft.

4. War die personelle Kontinuität in der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 spürbar?

Ich hatte das ja schon zuvor einmal erläutert. Die personelle Kontinuität ist weitgehend abgerissen. Nach 1945 gibt es dort eine viel stärkere Zäsur als in anderen Bereichen. Die Personen die etwa während und durch das Dritte Reich Karriere gemacht hatten, sind nach dem Krieg nicht mehr da oder nur ganz wenige. Es gibt nun diese drei, vier Historiker, die in den Kriegsjahren auf Lehrstühle kamen - was immer ein Zeichen dafür ist, daß sie dem Regime nicht feindlich gegenübergestanden haben - und deren Karriere dann eigentlich nach 1945 begann. Sie hat man herausgegriffen und dies als Zeichen für Kontinuität genommen. Ich würde aber die Kontinuität ansonsten nicht so stark sehen. Wenn man sich zudem die Personen ansieht, die die Schüler jener Historiker waren, die vom NS-Regime berufen oder gefördert worden sind, so läßt sich feststellen, daß die Kontinuität hier deutlich abgerissen ist. Wir haben in den 50er oder 60er Jahren keine jüngere Historiker-Generation, die irgendwelche neonazistischen Tendenzen aufweist. Da sehe ich den Bruch doch sehr massiv. Eigentlich bleibt die Behauptung von der Kontinuität sehr abstrakt. Für den konkreten Fall hat aber noch niemand behauptet, daß gerade auch die Schüler von Erdmann, Conze oder Schieder den gleichen Geist nur in andere Tüten gefüllt hätten. Sei das Eberhard Jäckel als Schüler von Erdmann, Hans Mommsen als Schüler von Werner Conze oder Wehler als Schüler von Schieder, so markieren sie doch alle einen Neuanfang.

5. Warum gab es eine lange Zeit des Beschweigens bzw. der gegenseitigen Rücksichtnahme unter den Historikern, die auch 1968 überdauerte?

Sicher ist das ein Problem, dieses Schweigen festzustellen und sich zu fragen, warum es dieses gab. Aber ich sehe dieses Beschweigen nicht so klar, weil ich das immer wieder am Fall meines Lehrers Franz Schnabel konkretisiere, der wirklich zu den Opfern des Dritten Reiches gehörte, dennoch Schieder als seinen Nachfolger in München haben wollte, dabei hatte Schnabel ja keinen Lethe-Trank genommen. Sie waren keine Feinde, die über die Vergangenheit hinweg Frieden geschlossen hatten, sondern es war in diesem Fall die Kluft zwischen beiden nicht so groß. Offensichtlich hatte man die Verfehlungen im Dritten Reich bei den Zeitgenossen als nicht so desavouierend angesehen, wie das heute der Fall ist. Denn in der heutigen Debatte sind diese drei Figuren (Erdmann, Conze, Schieder) Vordenker und Wortführer des Nationalsozialismus, was ich bei zweien sehr bezweifeln würde. Insofern finde ich das Beschweigen hier so nicht wieder, weil ich ja dann selber auch aus der eigenen Erfahrung heraus sagen müßte, daß ich im falschen Boot gesessen habe, im falschen Fach war oder mit den falschen Diskussionen angefangen habe. Mein persönlicher Eindruck, wie auch der von Wehler und Mommsen, spricht doch für eine absolute, nicht nur äußerliche Distanzierung zum Dritten Reich und spricht dafür, daß hier ein Neuanfang gemacht worden ist, wenngleich wir diesen Neuanfang auf je unterschiedliche Art repräsentieren. Und wenn wir alle aus so einer Art Verschweige-Gemeinschaft aufgestiegen wären, wären wir alle doch sehr gebrochen - und wir empfinden alle nicht so sehr, daß wir nun gebrochene Persönlichkeiten wären.

6. Inwiefern kann oder soll die Geschichtswissenschaft generell Einfluß auf politische Entwicklungen nehmen? In welcher Form wurden Erfahrungen der Geschichtswissenschaft im Dritten Reich in der Bundesrepublik verarbeitet?

Zur ersten Frage würde ich sagen, daß die Distanz zwischen der Geschichtswissenschaft und der Politik sehr groß sein muß, weil es zwei verschiedene Bereiche sind. Der Handelnde hat, so sagt man, "kein Gewissen". Nicht auf das Dritte Reich bezogen, sondern allgemein, weil er handeln muß, während der Historiker diese Handlungen reflektiert und insofern kein politischer Wissenschaftler im engeren Sinne der Politikberatung oder gar der Besserwisserei ist. Ich glaube freilich, daß nach 1945 die Neigung zum politischen Professor im unmittelbaren Sinne noch geringer geworden ist, d.h. nach 1945 war es die Tendenz der im Amt Befindlichen, sich sehr distanziert gegenüber der Politik zu verhalten. Dies nicht etwa, weil ihnen die gegenwärtige Politik im Vergleich zur vergangenen weniger gut gefiel, sondern weil man die Erfahrungen hatte, daß das Sich-Einlassen auf das Regime hochproblematische Folgen hatte. Der Ausweg war dann eben die Vergrößerung der Distanz. Inwieweit das de facto ging und inwieweit das gemäß den einzelnen Neigungen variierte, mag dahingestellt bleiben. Als methodischer Grundsatz wurde jedoch die Distanz von dortiger Seite her gefördert. Blickt man auf die 50er und 60er Jahre, dann war das wohl weniger ein Beschweigen, als daß man vielmehr glaubte, vom Rathaus gekommen und nun etwas schlauer geworden zu sein.

7. Wie erklären Sie sich die derzeitige Resonanz des Themas? Warum weckt die Auseinandersetzung um die Historiker im Nationalsozialismus derartige Emotionen wie auf dem Historikertag in Frankfurt?

Johannes Groß hat einmal gesagt: "Der Widerstand gegen Hitler wächst von Tag zu Tag." Das meint, in ironischer Formulierung, daß die Ablehnung Hitlers und seines Regimes und die öffentliche Bekundung dieser Ablehnung in dem Maße wachsen, in dem die Zahl der Lebenden, die in dieses Regime in irgendeiner Weise verstrickt waren, gegen Null geht. Nun fragen die später Geborenen die früher Geborenen, warum sie die Verstrickten nicht zu ihren Lebzeiten energisch befragt und so ihre Ablehnung dokumentiert hätten. Anders gewendet: Es geht gar nicht so sehr um die Historiker im Nationalsozialismus, sondern um Historiker in der Bundesrepublik, die in das Naziregime in irgendeiner Weise verstrickt waren und in der Bundesrepublik zu Ansehen und Einfluß gelangten, ohne von ihren Schülern und der Öffentlichkeit nach der Art und dem Grad ihrer Verstrickung gefragt worden zu sein. Hinter den Toten erscheinen also die heute Lebenden und werden mit dem Vorwurf konfrontiert, einerseits Duckmäuser gewesen zu sein und andererseits vielleicht auch inhaltlich manches aufgenommen und weitergeführt zu haben - Stichwort "braune Wurzeln der Sozialgeschichte. Das bietet natürlich Stoff zu Emotionen und emotionale Reaktionen, die dann freilich in ganz andere Bereiche als die vordergründig behandelten führen.

8. Birgt die Debatte für Sie den Kern eines ernsthaften Streit in der Historikerzunft?

Das ist schwer zu sagen, weil die Debatte noch unmittelbar in Gang ist, aber ich glaube es eigentlich nicht. Es geht ja, wie gesagt, nicht im engeren Sinn um wissenschaftlich strittige Fragen; Verteidiger der betreffenden Haltungen und Positionen gibt es nicht. Insofern erinnert das Ganze an den sogenannten Historikerstreit der 80er Jahre, der, mit großer öffentlicher Aufmerksamkeit und im wesentlichen in den Zeitungen geführt, seltsam substanzlos war beziehungsweise seine Substanz aus anderen als wissenschaftlichen Streitfragen zog, da es ja keine Revisionisten bezüglich der allgemeinen Einstellung und Haltung zum Dritten Reich gab. Demgemäß ist er, im Kern ein Medienereignis, längst versunken.

Herr Gall, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Ort des Interviews: Historisches Institut, Frankfurt / Main
Datum: 16.06.1999, ca. 15.30 bis 17.00 Uhr
Interviewer/in: Hacke, Schäfer, Steinbach-Reimann


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