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Die Tragoedie der Sozial- und Zeitgeschichte: Wer in die braunen Fussstapfen seiner Vorgaenger tritt, hinterlaesst keine eigenen Spuren.

Von Michael Fahlbusch, Basel

Die Ihnen heute praesentierten Ergebnisse werfen grundsaetzlich neue Fragen in der Wissenschaftsgeschichte auf: Ingo Haar geht bereits in seinem vor zwei Jahren veroeffentlichten Aufsatz ueber die rechtsradikale Koenigsberger Gildenschaft den verschiedenen politischen Gruppierungen innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft zwischen 1929 und 1934 nach. Dabei arbeitet er scharf die politischen Differenzen zwischen den jungkonservativen Protagonisten der "Volksgeschichte" und den nationalliberalen Historikern heraus. Haar zeigt, wie das Theorem vom "deutschen Volksboden" durch eine neue Generation, naemlich von Hans Rothfels und dem Kreis seiner Koenigsberger Schueler um Erich Maschke, Theodor Schieder und Werner Conze aufgegriffen wurde, um eine neue aussenpolitische Staatsdoktrin zu entwickeln. Das neue "Reich" sollte nicht nur die ehemaligen preussischen Ostgebiete in Westpolen und die alten Staatsgebiete Oesterreich-Ungarns einbinden, sondern alle Gebiete, in denen Deutsche jemals ein Haus oder eine Siedlung errichtet hatten. Die in ihren militanten Maennerbuenden (Gildenschaften) zusammengeschlossenen Jungakademiker suchten in enger Kooperation mit ihrem Mentor Hans Rothfels nach Wegen, um die Meinecke-Schule politisch zu denunzieren. Nachdem ihr "Gildenbruder" Theodor Oberlaender, der spaeter unter Konrad Adenauer Vertriebenenminister werden sollte, Anschluss an den Nationalsozialismus fand, rueckte diese Gruppe unter seiner Schirmherrschaft als Funktionstraeger in den Elitekreislauf der preussischen Geschichtswissenschaft ein. Sie bildeten den personellen Grundstock fuer die beruechtigte Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft.

In seiner nunmehr fuer den Druck vorbereiteten Dissertation ueber "Die deutschen Historiker und der "Volkstumskampf" im Osten" geht Haar weiter: Wie keiner seiner Vorgaenger schaerft er unsere Einsicht in diese mit ueber 150 Personen in 78 Instituten organisierten und mit 400 Forschungsprojekten groesste regionale Forschungsgemeinschaft. Ihre servilen Funktionstraeger werden als Akteure in ihrem politischen und wissenschaftlichen Kontext praesentiert: Der NS-Karrierist Theodor Schieder, Leiter einer regionalen Planungsstelle in Ostpreussen, entpuppte sich dabei als Antisemit. Seine Grundlagenplanungen, die er im Rahmen des "Nahplans" des RKFDV zusammenstellte, waren bevoelkerungspolitischer Natur. Denn laengst war klar, dass die SS diesen Raum von Grund auf neubeplant: Die Zerstoerung historisch und kulturell gewachsener Strukturen, Ueberpropfen eines neuen politischen Verwaltungsapparates, der eine unmissverstaendliche inhumane Zielsetzung kannte. Haars Verdienst ist gerade hierin zu sehen, uns diesen Zusammenhang zwischen der bevoelkerungspolitischen Grundlagenplanung, die der weiteren strategischen und ausfuehrenden Planung vorausging, detailliert aufzuzeigen.

Das Zusammenspiel zwischen der ministeriellen und der SS-Buerokratie sowie den bei Haar untersuchten Volksforschern schlaegt sich in den Deportationen, Umsiedlungen und Massenmorden an Polen, Juden und anderen ethnischen Minderheiten durch Himmlers Einsatzgruppen nieder. Sie sind keinesfalls Zufallsereignisse oder von einer kleinen Bande von Schergen der SS zu verantworten. Voraussetzung dafuer war eine gezielte wissenschaftlich technische Vorbereitung durch Karten, Plaene, Statistiken und Diagramme, um eine 'Erfolgskontrolle' der ethnischen Flurbereinigung ueberhaupt erst zu ermoeglichen. Dennoch erscheint mir die Frage notwendig, wie Haar sich zur Polykratiethese und der "Vordenker"-These stellt, die in Deutschland immer noch gleich zu einer akademischen Ausschlussklausel wird. M.E. handelt es sich bis auf wenige Ausnahmen bei den Volkstumsforschern um Tathelfer und Erfuellungsgehilfen der SS.

Mathias Beer greift in seiner Institutions- und Personengeschichte ein Grossforschungsprojekt aus der Gruendungsphase der BRD ueber ein damals wie heute hochaktuelles Thema auf:(1) Diejenigen, welche sich als ehemalige "Volksdeutsche" verstanden und nunmehr als sogenannte "Heimatvertriebene" seit ueber 50 Jahren in Deutschland leben, stellen immer noch Regressansprueche an die neuen Nachfolgestaaten des nach dem "Fall der Mauer" 1989 beschleunigt zerfallenden Ostblocks. Prekaer ist die Frage der nun gestellten historischen Rechtsansprueche auf die alte "Heimat" insofern, als durchaus unterschiedliche Auffassungen ueber die Stellung jener "Opfer" vergangener deutscher Grossmachtsphantasien existieren, die bis in unsere Gegenwart hineinwirken. Es handelt sich zum einen um jene Opfer deutscher Vergangenheit, welchen noch heute nur zum Teil mit oeffentlichen Druck der Status als Verfolgte des NS-Regimes zuerkannt wird. Ich denke u.a. an die Zwangsarbeiter verschiedener Grosskonzerne, denen erst nach jahrelangem Rechtsstreit eine minimale Abfindung zukam bzw. den Sinti und Roma, welchen nach 50 Jahren der Status einer dem Genozid preisgegebenen Minderheit nur unwillig zuerkannt wird. Erst unter Androhung internationaler Sanktionen gegen deutsche Konzerne wird ihnen eine Rente ausgezahlt.

Moralisch sanktioniert wird diese Position, zwischen "Opfern" des NS-Regimes und "Opfern" der Vertreibungen aus den osteuropaeischen Gebieten zu differenzieren, nicht nur von Historikern. Aus der Feder des Historikers Ernst Nolte klingt dies 1986 noch so durch: "Gerade diejenigen, die am meisten und mit dem negativsten Akzent von 'Interessen' sprechen, lassen die Frage nicht zu, ob beim Nichtvergehen der Vergangenheit auch Interessen im Spiel waren oder sind, etwa die Interessen einer neuen Generation im uralten Kampf gegen die 'Vaeter' oder auch die Interessen der Verfolgten und ihrer Nachfahren an einem permanenten Status des Herausgehoben- und Privilegiertseins."(2) Der Zynismus' Noltes mag vielleicht nicht jedem sofort ins Auge springen. Doch fehlt hier die Einsicht, wie aus politischem oder sozialem Verfolgtwerden ein "Privilegiertsein" entstehen soll. Dies ist das Geheimnis Noltes.

Noltes Arroganz uebersah dabei geflissentlich eine in Deutschland gemeinhin uebliche Praxis historische Ansprueche festzuschreiben: Diese wird bis in unsere Tage gespeist durch das "Jus sanguinis", dem aus dem Abstammungsprinzip hergeleiteten Recht auf die deutsche Staatsbuergerschaft. Und hier besteht auch ein Erklaerungsmotiv, warum in Deutschland mit zweierlei Massstaeben gemessen wird: Auf der einen Seite wird ein Teil der durch die Folgen des Naziregimes Betroffenen in ihrem Rechtsstatus durch Art. 116 GG und durch  1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG noch bis in die Folgegenerationen anerkannt, naemlich die Vertriebenen und Deutschstaemmigen, denen Ex- Bundeskanzler Helmut Kohl 1988 bescheinigt, dass sie als Deutsche mehr als alle anderen Deutschen "zu leiden haetten und heute noch leiden" wuerden.(3) Wie der Spiegel im Maerz 1998 mitteilte, liegen zur Zeit gegen ueber 1.000 russische Spaetaussiedler Verfahren wegen Beteiligung an Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor. Auch hier holen uns wieder die Schatten der Vergangenheit ein. Der Sonderstatus dieser "besonderen" Gruppe der Bevoelkerung ist damit durch ihr zugewiesene Eigenschaften definiert. Die tatsaechlich Verfolgten des NS-Regimes bleiben dagegen weiterhin auf den Goodwill der Herrschenden angewiesen. Vor diesem aktuellen Hintergrund wirkt die Arbeit Beers geradezu bahnbrechend aufklaererisch. Sie zeigt die Zielsetzung, die Handlungsmethoden und die selbstauferlegten Zwaenge der Akteure. Der Hoehepunkt des beruflichen Wirkens der um die Jahrhundertwende Geborenen faellt in die Zeit ihrer zweiten Karriere. Denn alle wichtigen Arbeiten der Nachkriegsgeschichte ueber die sogenannten Fluechtlinge und Volksdeutschen stammten aus der Hand jener Generation von Archivaren, Geographen und Historikern, die sich waehrend der NS-Zeit in zahlreichen Denkschriften und Publikationen ueber die Eindeutschung, die Ausgrenzung und die Vernichtung von Bevoelkerungsgruppen geaeussert hatten. Die rechtzeitig zum Historikertag 1953 veroeffentlichte und nicht unumstrittene mehrbaendige "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa" stellte ein erstes Mal die "Deutschen" als Opfer wissenschaftlich dar, obgleich selbst Theodor Schieder zu der Einsicht gelangt war, dass "das ganze Spektakel [...] ja nichts weiter als der Versuch [ist], die Volksgruppen aus dem allgemeinem Gericht ueber die NS-Politik auszunehmen, unter das wir als sogenannte Binnendeutsche uns ja ohne weiteres stellen."(4) In dieser Dokumentation wurde neben der Aufarbeitung von Augenzeugenberichten gefluechteter Deutscher haeufig auf die ethnographischen Werke von Wilhelm Winkler und auf das Handwoerterbuch des Grenz- und Auslandsdeutschtums zurueckgegriffen. Es war wohl auch kein Zufall, wenn das Bundesministerium fuer Vertriebene, Fluechtlinge und Kriegsbeschaedigte, dessen Minister Theodor Oberlaender 1953 geworden war, die Finanzierung dieses Grossforschungsprojekts sicherstellte. Die beteiligten Wissenschaftler rekrutierten sich wiederum aus der Nord- und Ostdeutschen sowie der Suedostdeutschen Forschungsgemeinschaft. Man wird in ihren Studien vergeblich ueber das Schicksal der juedischen Bevoelkerung deutscher Abstammung etwas erfahren. Auch das macht aus heutiger Sicht 'Sinn'. Allein die Forschungsergebnisse in der "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa" spiegeln eine politische Propagandaschlacht konservativer und revisionistischer Kraefte wider, um bei kuenftigen Friedensverhandlungen das noetige Ruestzeug fuer territoriale und finanzielle Ansprueche seitens Deutschlands zur Verfuegung zu stellen. Aber damit noch nicht genug: die Nichtveroeffentlichung der 1000seitigen Studie ueber die Ethnopolitik von 1963, eine Kooperationsarbeit zwischen dem Herder-Institut in Marburg und dem Institut fuer Zeitgeschichte in Muenchen, die ein erstes Kondensat ueber die NS-Volkstumspolitik beinhaltete, spricht fuer sich. In Marburg versammelten sich die ehemaligen Ostforscher in trauter Einheit neu, in Muenchen schwang Hans Rothfels das Zepter. Die Argumente, diese Ergebnisse der demokratischen Oeffentlichkeit vorzuenthalten, die Aufklaerung der NS- Geschichte zu hintertreiben, der Verdunkelung von deutschen Verbrechen und deren Beteiligten Vorschub zu leisten sind skandaltraechtig: Man befuerchtete, einen "Entschuldigungszettel" fuer die Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa den Alliierten zu liefern, da die Vorgeschichte der deutschen Vertreibungen, die NS-Volkstumspolitik unter der Aufsicht von jenen bearbeitet werden sollte, die die NS-Volkstumpolitiker beraten haben. Dies kaeme gar dem "politischen Selbstmord" der auftraggebenden Behoerde gleich.(5)

Die Reaktion der Sozialgeschichte

Die Beantwortung der Frage Hans-Ulrich Wehlers nach der "Bewertung der Lebensleistung ehemaliger NS-Historiker, deren Lehrtaetigkeit in der Bundesrepublik doppelt solange gewaehrt habe wie waehrend des NS-Regimes" weist nicht nur den Jargon des Beschwichtigens auf. Diese rhetorische Entgleisung ist um so zynischer, als Wehler immerhin auf dem Zenit seiner international anerkannten Karriere gegen die sogenannte Entsorgung der deutschen Vergangenheit durch Ernst Nolte antrat. Offenbar soll die "Lernbereitschaft als auch reflexive Lernfaehigkeit" von Wehlers Lehrer davon ablenken, dass dieser nicht gerade besonders humanistisch bestallt gewesen ist.(6) Die Kritik und die Festigkeit der moralischen Urteilskraft versagen hier endgueltig, wo die Konstruktion eigener Traditionen ueberprueft werden muesste. Welche Gruende moegen Wehler nur zu solch schaedigender, irreversibler Arithmetik verleitet haben? Die ethische Verfehlung eines Antisemiten im Dritten Reich gegen die Bewaehrung im Lehrbetrieb einer demokratischen Lebenswelt aufzurechnen, scheint nunmehr der Koenigsweg kuenftiger sozialhistorischer Forschungen zu sein.

Offenbar soll nun ueber den Umweg einer biographischen Wende das nachgeholt werden, was in den letzten Jahren nur allzu deutlich verdraengt worden ist. Die Aufarbeitung der Biographie Schieders, wie sie juengst von Juergen Kocka gefordert wurde, sieht sich nur dem Verdacht ausgesetzt, durch den Schaden nicht klueger geworden zu sein. Ein Forschungsprogramm zur Erstellung von Wissenschaftlerbiographien wuerde unter diesen Voraussetzungen lediglich den bislang weitverbreiteten Ukas fortschreiben, die "Zunft" durch sich selbst spiegeln zu lassen. Warum soll der bisherige Weg einer wissenschaftsgeschichtlichen Aufarbeitung des Feldes aber nun verlassen werden? Juergen Kocka, der inzwischen die Wende zur Biographie fuer sich als Entdeckung reklamiert, bleibt mit dieser Aufforderung hinter dem bislang erarbeiteten Forschungsstand zurueck. Hier beweisen namhafte Sozialhistoriker wiederholt ihre Unfaehigkeit, mit der Vergangenheit umzugehen. Es hat sich doch gezeigt, dass die Biographie als wissenschaftliches Medium obsolet geworden ist, um eine Person als Einheit darzustellen. Ich darf Sie hier nur daran erinnern, das Winfried Schulze zu recht auf die "disparaten Lebensabschnitte" einer Person wie bei der juengst bekanntgewordenen biographischen Verfaelschung Schneider/Schwertes aufmerksam gemacht hat: "Diese Zerissenheit der Existenz laesst geradezu an der Leistungsfaehigkeit der Biographie zweifeln, die ja immer die Einheit der Person voraussetzt."(7) Die Biographie taugt allenfalls dazu, dissoziative Phaenomene der Persoenlichkeitsstruktur aufzuzeigen; dann waere sie aber ein Fall fuer die Psychohistorie und die Psychoanalyse.

Zur Kritik der Sozial- und Zeitgeschichte

Die apologetische Historisierung der Sozialgeschichte mittels Biographien entwickelt sich zur Schadensbegrenzung des Erinnerns. Die neuere Wissenschaftsgeschichte integriert jedoch laengst fruchtbar Personen- und Institutionengeschichte, Netzwerkanalyse und eine Mentalitaetsgeschichte von Funktionseliten. Es stellt sich aber die Frage, ob man der alten Generation, die ihre zweifelhaften Pfruende in Sicherheit bringen will, ihren Spielraum in der Wissenschaftspolitik noch belaesst. Denn diese Generation blendet neue erkenntnisleitende Verfahren der kritischen Historiker aus, die sich von den bisherigen ideengeschichtlichen und ideologiekritischen Studien ueber die Wissenschaft im Dritten Reich deutlich unterscheiden und einen Paradigmawechsel in der Wissenschaftsgeschichte geradezu herausfordern. Im folgenden will ich mich auf vier Gesichtspunkte konzentrieren, naemlich die Rolle von Forschungsprogrammen neu zu ueberdenken, die Systemanalyse von wissenschaftlichen Netzwerken voranzutreiben, die politische Beratung anhand der Wechselwirkung von Wissenschaft und Politik aufzuzeigen und schliesslich die verschwiegenen Ergebnisse der Zeitgeschichte der 60er Jahre zu bearbeiten:

1. Forschungsprogramme:

Seit den siebziger Jahren herrscht die idealtypische Vorstellung von den Stufen wissenschaftlicher Revolutionen vor. Anhand immanenter Entwicklungen einzelner Faecher werden Disziplingeschichte und Paedagogik zu einem heuristischen Buendnis, das bar jedweder Quellenkritik als die neue Heilslehre der Disziplingeschichte angenommen wurde. Die Erkenntnis, derzufolge machtpolitische Interessen gesellschaftlich einflussreicher Wissenschaftler die Entscheidung ueber den Erfolg eines Forschungsprogramms sichern, entfiel dagegen im oeffentlichen Diskurs. Die bisherigen historiographischen Arbeiten begnuegten sich stattdessen mit der schoenen Beschreibung einer disziplinaeren Entwicklung. Sie versaeumten dabei zu beruecksichtigen, dass die Disziplinierung der Wissenschaft in der Universitaet am Ende einer langen Praxis der Entwicklung eines Forschungsprogramms steht: Wissenschaftsgeschichte sollte die Entwicklung von Denkmustern von ihren Kernen bis hin zur Professionalisierung in Hochschule und Forschung beinhalten. Die Rekonstruktion eines Forschungsprogramms erfordert einen faecheruebergreifenden Ueberblick. Forschung ist nicht nur auf Hochschulen zu beschraenken. Ihre Rekonstruktion muss zwangslaeufig den ausseruniversitaeren Entstehungsbedingungen Rechnung tragen. Die Universitaeten bilden schliesslich die sozialen Rekrutierungsstaetten von Wissenschaftsschulen. Eine disziplinaere Rekonstruktion einer Wissenschaft muss zwangslaeufig scheitern, weil sie die Interdisziplinaritaet des Wissenschaftssystems ausblendet, welches bereits waehrend der Weimarer Republik ausgepraegt war und sich im NS zu einer ersten Hochbluete der "angewandten Wissenschaft" entwickelte.

2. Systemanalysen von wissenschaftlichen Netzwerken:

Wissenschaft ist per se, weil sie gesellschaftliches Basiswissen bereitstellt und an der Diskussion um ethische Normen beteiligt ist, ein gesellschaftspolitisches Medium par excellence. Das Institut des Lebenszeitbeamten stellt hierin nur die Sicherheit dar, langfristig geschulte Buerokraten zu liefern, die jede Buerokratie zu ihrem Ueberleben benoetigt. Max Webers Begriff der "Rationalitaet" erscheint mir sinnvoll, um den Kontext zu untersuchen, inwiefern ein in den zentralen Buerokratien angesiedelter Beraterstab dem zweckrationalen Handeln der Verwaltungen dient. Zu klaeren ist auch, inwieweit Wissenschaftler als politische Berater einen wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung der NS-Herrschaft durch die neue Form wissenschaftlich institutionalisierten Denkens geliefert haben. Entscheidend ist hier der Sachverhalt, dass ein Netzwerk von Wissenschaftlern einen Beraterstab bildete, der die Ministerialverwaltung und Parteistellen systematisch mit Informationen belieferte. Angesichts der Tatsache, dass wesentliche Elemente der Weberschen Buerokratietheorie in die Ueberlegungen zum Aufbau der deutschen Besatzungsverwaltungen als Aufsichts- und Fuehrungsverwaltungen einflossen, ist die Rationalitaet der Buerokratie von Bedeutung fuer die Umsetzung der Volkstumsforschung und -politik im Dritten Reich. So wuenschte sich z.B. der Generalgouverneur Restpolens, Hans Frank, 1941 eine "zusammenfassende wissenschaftliche Erforschung des buerokratischen Phaenomens", waehrend der fuehrende Technokrat der SS, Werner Best, die theoretischen Grundbegriffe der "deutschen Grossraum-Verwaltung" praegte, die implizit auch den Aspekt der Vernichtung enthielten.(8) Aufgrund der Analyse der zentralen Verantwortlichkeiten lassen sich die Zusammenhaenge aufzeigen, in denen die Volksforschung betrieben wurde. Unter der Topologie der polykratischen Machtstruktur des NS-Regimes existierte eine rationale buerokratische Struktur, die eine effiziente Umsetzung der politischen Entscheidungsprozesse gewaehrleistete. Hierzu waren die Funktionseliten, denen auch Jungkonservative der Weimarer Republik angehoerten, wichtige Erfuellungsgehilfen, die wiederum am Aufbau der Buerokratie in der BRD beteiligt waren.

3. Wechselwirkung von Wissenschaft und Politik:

Politische Beratung ist beileibe kein Element, welches der Wissenschaft als externes Verfahren zuzuordnen waere. Offensichtlich kann die neueste Forschung beweisen, dass es im NS eine feste organisatorische Wissenschaftsstruktur gegeben hat und der NS keineswegs ein unwissenschaftliches System war, wie es seit der ersten Ueberlieferung durch Zeitzeugen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges dargestellt wurde. Die Diskussion ueber die Rolle von Think Tanks in Europa deutet dieses Defizit an. Erst juengst stand in der Neuen Zuercher Zeitung zu lesen, man koenne die Think Tanks in Europa an einer Hand abzaehlen. Die politische Beratung in Deutschland habe sich erst in den letzten 30 Jahren entwickelt.(9) Diese Diskussion wird einige neue Impulse aufnehmen muessen, weil politische Beratung durch Think Tanks natuerlich keine Erfindung der vergangenen 30-40 Jahre und schon gar nicht Merkmal einer modernen Demokratie ist. Gerade die Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften stellten die Klammer dar, um ein Netzwerk von 'braunen Wissenschaftlern' als politische Beratung zu etablieren, das wissenschaftliche Beihilfe zum Holocaust leistete.

4. Schiefe Wahrnehmung der Zeitgeschichte:

Genau dieser Gesichtspunkt wurde aber selbst in der Zeitgeschichtsforschung ausgeblendet. Warum? Das Fehlen elementarer Studien ueber die eigentlichen Machtzentren stellt sich dabei als bis heute bestehendes Desiderat heraus, wie Ulrich Herbert in seiner Biographie ueber den Verwaltungsexperten der SS, Werner Best, hervorhob: "Weder ueber die Vorstellungen der SS- und der RSHA- Fuehrung zur Rassen-, Volkstums- und Bevoelkerungspolitik noch ueber die hier vertretenen aussenpolitischen und 'grossgermanischen' Zielsetzungen, noch ueber die Geschichte des RSHA oder auch des Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes der SS gibt es solide Untersuchungen; [_]"(10) Diesen Feststellungen kann ich mich ohne Einschraenkung anschliessen. Eine der wichtigsten Erkenntnisse, die in der derzeitigen Diskussion noch gar nicht wahrgenommen wird, ist die Tatsache, das Bekanntes nach 40 Jahren neu ausgegraben wurde. War der erste Ort der Entsorgung der deutschen Vergangenheit, so stellt sich heute die Frage, das Institut fuer Zeitgeschichte in Muenchen? Welche Rolle spielte die Zeitgeschichtsforschung in der fruehen Nachkriegszeit? Die Ergebnisse Mathias Beers, der sich eindruecklich mit dem Grossforschungsprojekt der ersten Stunde der Bundesrepublik Deutschland der "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa" befasst, an dem praktisch alle Historiker und Archivare von Rang und Namen beteiligt waren, bestaetigen, dass unter der Aegide der jungen deutschen Zeitgeschichte die von den Alliierten seit den 50er Jahren restitutierten NS-Akten zur Besatzungspolitik und Nationalitaeten- und Volkstumspolitik ausgewertet worden sind. Eine Veroeffentlichung fand jedoch nicht statt. Litten die Sozial- und Zeithistoriker der Nachkriegsgeschichte nicht unter dem Problem, ihre objektive wissenschaftliche Urteilskraft einzubuessen, wenn sie sich der NS-Volkstumspolitik naehern sollten? Die Bearbeitung und Verhinderung der Ergebnisse dieser Grossforschung zeigt aber noch mehr Zusammenhaenge auf: Es ging um Verschleierung, Vorenthaltung wissenschaftlicher Ergebnisse zum Schutz eigennuetziger Interessen, Forschungspolitik im Interesse der Vertriebenen und einer auf Einschuechterung, Revisionismus zielenden Ostpolitik und Zensurmassnahmen. Diese Zensur der Vergangenheitspolitik ist der Preis fuer die Westintegration der BRD.

Fazit

Wir stehen vor dem Faktum, dass die von ihrer Profession her dazu berufenen namhaften Historiker 40 Jahre lang ihren Beitrag dazu geleistet haben, Material zur Aufklaerung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorsaetzlich mehreren Generationen in Deutschland vorenthalten und gefaelscht zu haben. Wichtige Spuren der Vergangenheit wurden verwischt. Die kuenftige historiographische Forschung wird der heiklen Frage nachgehen muessen, wie es moeglich war, dass die Volkstumsforschung sich aus einer dezidiert annexionistischen Forschung und einem Instrumentarium fuer die Vernichtungspolitik zu einem international angesehenen Forschungszweig der ethnographischen Forschung entwickeln konnte, ohne dass Einwaende gegen ihre scientific community vorgebracht wurden. Es ist an der Zeit zu handeln, um das ramponierte Ansehen der deutschen Wissenschaft nur einigermassen wieder herzustellen.

Zu fordern ist erstens ein Handbuch ueber die an der Volkstumsforschung im Dritten Reich beteiligten Institutionen. Es bedarf zweitens wohl ueberhaupt keiner weiteren Diskussion, dass die Gruendungs- und Wirkungsgeschichte des Instituts fuer Zeitgeschichte in Muenchen unter Hans Rothfels' Direktorium neu geschrieben werden muss, genauso wie das Netzwerk der neuetablierten Ostforschungsinstitute.

Zu der Frage, warum die Forschung ueber die Volkstumspolitik des Dritten Reiches ein Torso geblieben ist, kann ich kaum ein Projekt empfehlen; dies ist ein Bereich, der noch eine ganze Generation von politischen und historischen Untersuchungskommissionen beschaeftigen wird. Und ich hoffe nur, dass es getan wird, ohne dass ein weiteres Mal Verdunklung betrieben wird. Oder in die Worte von Michael Pinto-Duschinsky gefasst: Es ist zu hoffen, dass das kollektive Bewusstsein nicht nur von jenen mit den groessten Finanzmitteln oder jenen mit den groessten Interessen an einer Geschichte geschrieben wird.

Anmerkungen:

(1) Mathias Beer, Das Bundesministerium fuer Vertriebene, Fluechtlinge und Kriegsgeschaedigte. Integration, Politik und Verwaltung in den beiden ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik.

(2) Ernst Nolte, Vergangenheit, die nicht vergehen will, in: FAZ, 6.6. 1986.

(3) Bundespresseamt, "Aussiedler sind Deutsche", Bonn im April 1989.

(4) Bundesarchiv Koblenz NL 1188/41 T. Schieder/H. Booms v. 21.5. 1957, zitiert in M. Beer, Das Grossforschungsprojekt "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa" im Spannungsfeld von Politik und Zeitgeschichte, in: VZG 46/1998/2, S. 376.

(5) Mathias Beer, Die Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. Hintergruende - Entstehung - Ergebnis - Wirkung, in: GWU 50/1999/2, S. 111 f.

(6) Hans-Ulrich Wehler, In den braunen Fussstapfen der kaempfenden Wissenschaften, in: FAZ v. 4.1.1999.

(7) Winfried Schulze, Vergangenheit und Gegenwart der Historiker, in: GWU 50/1999/2, S. 72.

(8) Zitiert nach Carsten Klingemann, Soziologie im Dritten Reich. Baden-Baden 1996, S. 175 und Werner Best, Grundfragen der Grossraum-Verwaltung. In: Festgabe fuer Heinrich Himmler (2) 1941, S. 33-60.

(9) Wolfgang H. Reinicke, Die politische Beratung in Deutschland, in: Neue Zuercher Zeitung v. 30./31.1. 1999, S. 86.

(10) Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien ueber Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903-1989, Bonn 1996, S. 15.

[Beim diesem Beitrag handelt es sich um den Kommentar, den Michael Fahlbusch am 5. Maerz 1999 auf dem Kolloquium "Historiker und Nationalsozialismus" der Heinrich Boell-Stiftung im Panel 2 zu den Vortraegen von Ingo Haar und Mathias Beer vortrug. Das Panel stand unter der Ueberschrift "Von der Bevoelkerungswissenschaft und Bevoelkerungsverschiebung zur Vertreibung und Vernichtung".

In der Tagespresse war die Resonanz auf das Kolloquium im Vorfeld wie im Nachgang zwiespaeltig, kontrovers, teilweise polemisch und unfair. Die Kritik machte sich u.a. an der politischen Grundtendenz der Veranstaltung, den Leitfragen der Panels, der Zusammensetzung der Referenten (Absagen angekuendigter Teilnehmer) und der als unprofessionell empfundenen Organisation wie Moderation der Sektionen fest. Teilweise ist dies sicher auf die mitschwingenden Emotionen zurueckzufuehren, denn im Hintergrund der Debatte steht auch ein handfester Generationenkonflikt. Dies schlaegt sich u.a. in der argumentativen Zuspitzung und in den wissenschaftspolitischen Forderungen einzelner Referenten nieder, vor allem aber sind Art, Tenor und Stil der Publikumsreaktionen davon gepraegt. Dies war schon so waehrend der Sektion des letztjaehrigen Frankfurter Historikertages zu diesem Thema wie auch jetzt beim 'Relaunch' der Boell-Stiftung in der Humboldt-Universitaet in Berlin.

Auch der Kommentar Michael Fahlbuschs weist eine fuer 'normale' historische Debatten eher ungewoehnliche Schaerfe und Zuspitzung auf. Voraussichtlich wird eine gekuerzte Fassung demnaechst in der Frankfurter Rundschau zu lesen sein. R. Hohls]


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From:"M. Fahlbusch" <fifa@swissonline.ch>
Subject: Artikel: "Die Tragoedie der Sozial- und Zeitgeschichte..."
Date: 10.3.99