R. Brändle: Jahrmarkt, frühe Völkerschauen und Schaustellerei

Cover
Titel
«Wilde, die sich hier sehen lassen». Jahrmarkt, frühe Völkerschauen und Schaustellerei


Autor(en)
Brändle, Rea
Herausgeber
Bürgi, Andreas
Erschienen
Zürich 2023: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Béatrice Ziegler, Pädagogische Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz Bern

Die letzte Publikation von Rea Brändle über Jahrmärkte, frühe Völkerschauen und Schaustellerei ist ein besonderes Buch. Dass es 2023 erscheinen konnte, verdanken wir Andreas Bürgi, dem Lebensgefährten der 2019 verstorbenen Autorin. Das Manuskript war ein Fragment geblieben: Vier von acht geplanten Kapiteln lagen vor, ein fünftes war begonnen. Der Besonderheit des Buchs und seiner Entstehungsumstände folgend, soll in dieser Besprechung nicht nur dessen Inhalt, sondern auch Rea Brändles Pionierarbeit und ihre langjährige Beschäftigung mit den Völkerschauen Beachtung finden.

Das Buch einleitend würdigt Hilke Thode-Arora, die 1989 mit einer Publikation1 zu den Hagenbeck’schen Völkerschauen hervorgetreten war und mit der Rea Brändle jahrzehntelang in Kontakt stand, deren Forschungen (S. 7–10). Daran schließt sich eine Einleitung von Andreas Bürgi an, der in die Arbeitsweise und den Stand der Arbeiten von Rea Brändle einführt.2 Den Kapiteln vorangestellt ist ein „Konzept“ der geplanten Publikation vom August 2018. Im umfangreichen Anhang schließlich findet sich eine ausführliche Liste von Völkerschauen in Europa zwischen 1800 und den 1960er-Jahren, eine Liste der Völkerschauen im Zirkus (Zirkus Knie, Sarrasani, Zirkus Barnum & Bailey), ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie eine Liste der Publikationen von Rea Brändle zum Thema.

Die Autorin hatte mit einer ersten Publikation 1995 zur Thematik – „Wildfremd, hautnah“ über Zürcher Völkerschauen – ein viel beachtetes Werk zur postkolonialen Ausleuchtung der Geschichte der Schweiz verfasst. 2013 folgte eine erweiterte Fassung.3 2007 legte sie unter dem Titel „Nayo Bruce“ die Geschichte einer afrikanischen Familie in Europa im 20. Jahrhundert vor. Sie konnte dabei unter anderem zeigen, dass die Vorstellung, Personen außereuropäischer Kulturen seien in Europa in eine Passivität ihrem Schicksal gegenüber gezwungen worden und deshalb grundsätzlich nur als Opfer zu sehen, die Realität verkürzt. Als Schausteller selbstständig geworden, organisierte Nayo Bruce die Vermarktung von sich, seiner Familie und einer ganzen Truppe überall in Europa.4

Mit „Wilde, die sich hier sehen lassen“ machte Rea Brändle sich daran, mit Bezug beziehungsweise in Absetzung zu bisherigen, zu kurz greifenden Vorstellungen, die den Beginn der Völkerschauen im Wesentlichen mit Carl Hagenbeck und seiner ersten Schau 1874 ansetzen, wesentlich frühere derartige Spektakel nachzuweisen.5 Sie hatte im Verlauf ihrer Forschungen eine beträchtliche Zahl von Belegen für frühe Zurschaustellungen im europäischen Raum gefunden. Das begonnene Manuskript sollte sich denn auch vor allem diesen frühen Völkerschauen widmen und sie in ihren Charakteristiken darstellen. Damit erarbeitete sie Erkenntnisse, die zeigen, dass die Völkerschauen von Carl Hagenbeck auf viele Erfahrungen von früheren Schausteller:innen sowie etablierte Muster der „Beschaffung“ außereuropäischer Menschen und ihrer Präsentation zurückgreifen konnten. Aber nicht nur die Fortschreibung dieser Traditionslinien, sondern auch für die gewichtigen Veränderungen in den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts stellte sie fest: Mit Carl Hagenbeck hat eine Professionalisierung stattgefunden. Davor sei es um die „Befriedigung dumpfer Schaulust“ gegangen (S. 11). Danach aber sei der Anspruch erhoben worden, einem „wissenschaftlich oder doch zumindest pädagogisch motivierten Interesse“ Genüge zu tun (S. 11).

In vier Kapiteln (und einem begonnenen fünften) erzählt die Autorin Geschichten von Schausteller:innen und ihrem außereuropäischen Personal. Charakteristisch für die frühen Zurschaustellungen war, dass meist kleine Gruppen präsentiert wurden. Diese wurden in „typischen“ Inszenierungen gezeigt, indem sie Bräuche und Zusammen- beziehungsweise Familienleben meist pantomimisch darstellten oder ihre „Wildheit“ mit Kämpfen und dem Fressen lebendiger Tiere und rohen Fleisches unter Beweis zu stellen hatten. Rea Brändle kann auch belegen, dass mit vielen der zur Schau Gestellten ein Lohn vereinbart war – auch wenn Betrügereien ebenfalls oft vorkamen. Die Menschen wurden häufig im Verbund mit exotischen Tieren gezeigt – entweder als ein Ensemble, das die „fremde Lebenswelt“ mit Menschen und Tieren gemeinsam darstellen sollte, so etwa Rentiere mit einigen Sami, oder aber Menschen verschiedener Herkunft in Kombination mit Tieren aus allen Himmelsrichtungen, etwa tropischen Schlangen, tot oder lebendig. Es wurden zudem zusätzlich weitere „Kuriositäten“ dargeboten, so zum Beispiel kleinwüchsige Europäer:innen, Wachsfiguren, seltsame Gegenstände und vieles andere mehr. Ausstellungsorte waren vielfältig: Kuriositätenkabinette, Jahrmärkte, spezielle Säle, eigentlich dafür hergestellte Buden mit Kulissen und so weiter. Schausteller:innen gingen teilweise aus eigentlichen Familienbetrieben beziehungsweise -dynastien hervor, waren teilweise durch Heirat einander verbunden oder taten sich auch manchmal vorübergehend für ein derartiges Geschäft zusammen.

Auch wenn die Autorin die Traditionslinien und den Wandel im Übergang zu den großen und professionellen Völkerschauen kaum mehr explizit machen konnte, hat sie doch mit dichten Geschichten Grundlagen für diese Darstellung gelegt. Hinzu kommt, dass sie mit der nun publizierten Liste der Völkerschauen in Europa zwischen 1800 und den 1960er-Jahren mit über 3.500 Einträgen ein beeindruckendes Ergebnis ihrer jahrelangen detaillierten Recherchearbeit vorgelegt und zugleich ein überaus wertvolles Arbeitsinstrument für die weitere Forschung zu Völkerschauen zur Verfügung gestellt hat: Darin finden sich geordnet nach den Orten, wo die Zurschaustellung stattfand, Datum und Dauer, ausgestellte Menschengruppen und Titel der Vorführung, Anzahl der Personen, Tiere und Objekte, Organisation sowie die Quellen der Information. Außerdem wurde vermerkt, wenn es besondere Vorkommnisse gab wie Betrügereien und Gerichtstermine oder familiäre Anlässe (Taufen, Todesfälle). Gleiches gilt, wenn vorhanden, auch für die Zuschauerzahlen.6

Auch wenn Rea Brändle Fuß- beziehungsweise Endnoten aus stilistischen Gründen ablehnend gegenüberstand (S. 18), ist aufgrund der Liste sowie der weiteren Instrumente im Anhang meist nachvollziehbar, worauf sich die Autorin bei ihren Darstellungen stützt. Damit ist das Buch für Forschende ein Gewinn. Ihr Bemühen als forschende Journalistin zielte aber auch auf Texte ab, die für eine breitere Öffentlichkeit Geschichten erzählen. Wohltuend ist, dass sich Rea Brändle der vorschnellen moralischen Beurteilung ihres Untersuchungsgegenstandes enthält. Vielmehr gelingt es ihr, trotz nicht üppig vorhandener Quellen ausgewählte Personen und ihr Handeln in der Zeit zu situieren und für eine vielfältige Ausleuchtung offen zu präsentieren. Mit ihren Nachforschungen und Dokumentationen kann sie verdeutlichen, wie Fremdes, Besonderes und Kurioses, unter das die außereuropäischen Menschen eingeordnet wurden, bis in kleinste Städte gebracht wurde, womit sich ein dichtes Netz von (stereotypisiertem) Wissen über den Kontinent legte, das – so zeigt die heutige der postkolonialen Theorie verpflichtete Forschung – bis in die Gegenwart nachhallt.

Anmerkungen:
1 Hilke Thode-Arora, Für fünfzig Pfennig um die Welt. Die Hagenbeckschen Völkerschauen, Frankfurt am Main 1989.
2 Andreas Bürgi, Ein paar Dinge zurechtgerückt. Die Journalistin und Autorin Rea Brändle, in: Rea Brändle, „Wilde, die sich hier sehen lassen“. Jahrmarkt, frühe Völkerschauen und Schaustellerei, Zürich 2023, S. 11–21.
3 Rea Brändle, Wildfremd, hautnah. Völkerschauen und Schauplätze, Zürich 1880–1980. Bilder und Geschichten, Zürich 1995; dies., Wildfremd, hautnah. Zürcher Völkerschauen und ihre Schauplätze 1835–1964, Zürich 2013.
4 Rea Brändle, Nayo Bruce. Geschichte einer afrikanischen Familie in Europa, Zürich 2007.
5 Noch heute hält sich die Idee hartnäckig, die Hagenbeckschen Völkerschauen seien so etwas wie der eigentliche Beginn der regelmäßigen Zurschaustellungen von außereuropäischen Menschen gewesen. Vgl. dazu etwa Anne Dreesbach, Kolonialausstellungen, Völkerschauen und die Zurschaustellung des „Fremden“, in: Europäische Geschichte Online (EGO), 17.02.2012, https://www.ieg-ego.eu/de/threads/hintergruende/europaeische-begegnungen/anne-dreesbach-kolonialausstellungen-voelkerschauen-und-die-zurschaustellung-des-fremden (19.04.2024).
6 Einführend wurde erläutert, welche redaktionellen Eingriffe in die Einträge vorgenommen wurden (S. 131–132).

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension