M. Jungert u.a. (Hrsg.): Wissenschaftsreflexion

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Titel
Wissenschaftsreflexion. Interdisziplinäre Perspektiven zwischen Philosophie und Praxis


Herausgeber
Jungert, Michael; Frewer, Andreas; Mayr, Erasmus
Erschienen
Paderborn 2020: Brill / mentis
Anzahl Seiten
VIII, 451 S.
Preis
€ 96,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Beer, Institut für Hochschulforschung Halle-Wittenberg

„Was ist und zu welchem Zweck betreibt man Wissenschaftsreflexion?“: Diese „Schillernde“ Frage leitet den 16 Beiträge umfassenden Sammelband ein (S.3). Ja, was ist Wissenschaftsreflexion? Die Herausgeber bieten eine „Arbeitsdefinition“ (ebd.) an, die auf Abgrenzungen zur Wissenschaftstheorie und -philosophie rekurriert: Mit beiden verwandt, gehe Wissenschaftsreflexion in ihrer Interdisziplinarität und ihrem Anspruch, „Wissenschaften und ihr Verhältnis zu Gesellschaft und Öffentlichkeit in grundsätzlicher Weise – also nicht nur im Rahmen von bereits klar definierten und eng umrissenen Themenstellungen“ zu beforschen, über diese hinaus (S. 6).1

Wissenschaftsreflexion ist als interdisziplinäres Forschungsfeld und als Begegnungsraum angelegt. Zusätzlich soll sie Methodenpluralismus, historische und ethische Perspektiven sowie Praxisbezug stärken (S.7). Ein dickes Brett, und man fragt sich, ob das Bohren dieses Bretts nicht im Rahmen bestehender Disziplinen gelingen könnte, wo dieselben Anliegen ebenfalls präsent sind. Der Mehrwert eines neuen Begriffs (der konzeptionell zudem sehr offen umrissen wird) erschließt sich initial nicht. Auch, dass weitere Bezugsdisziplinen wie Wissens(chafts)soziologie, Wissens(chafts)forschung oder Science and Technology Studies (häufig auch verstanden als Science, Technology and Society) nicht diskutiert werden, macht stutzig.

An die programmatische Einleitung schließen sich drei Sektionen an: (1) Theorie der Wissenschaften, (2) Geschichte und Ethik der Wissenschaften sowie (3) Wissenschaft und Gesellschaft. 15 der 21 Beiträger:innen sind in der (Wissenschafts-)Philosophie angesiedelt, drei weitere sind (Wissenschafts-)Historiker:innen: Eine gewisse Unwucht ist eindeutig, lässt jedoch konzeptionelle Synergien erhoffen, die dem Konzept Kontur verleihen könnten. Dies geschieht leider nur bedingt: Lediglich vier Beiträge greifen den Begriff auf, einmal verstanden als Zusammenführung disziplinär verankerter Erklärungsansätze, ein andermal als nicht näher klassifizierter „Zweig“ der Wissenschaftsgeschichte, sodann als Verortung eines Forschungsgegenstands (ärztliches Handeln) zwischen Wissenschaft und Gesellschaft und schließlich als wissenschaftliche Reflexion praktizierender Ärzt:innen. Die Begriffsverwendung wirkt also etwas beliebig, zumal Beiträge nicht aufeinander bezogen werden.

So befassen sich mehrere Autor:innen explizit mit (fehlendem) Vertrauen in die Wissenschaft. Ein Beitrag zu postfaktischem Denken und ein weiterer zu strategischem Wissenschaftsskeptizismus streifen das Thema ebenfalls. Während eine Argumentation konstitutiv von einer Vertrauenskrise der Wissenschaft ausgeht, verneint ein anderer Autor diese eindeutig. Ein dritter Beitrag bietet mit dem Hinweis auf Unterschiede zwischen allgemeinem und gegenstandsbasiertem Wissenschaftsvertrauen Ansätze, diese Diskrepanzen zu diskutieren – solche Verbindungen muss die Leserin jedoch selbst herstellen. Auch die Rolle von Wissenschaftler:innen als Kommunikator:innen wird unterschiedlich bewertet: Ein Beitrag empfiehlt dies recht uneingeschränkt, ein anderer weist auf mögliche Gefährdungen von Hassbotschaften bis zu physischer Gewalt hin.

Die Gliederung in drei Sektionen überzeugt ebenfalls nicht vollständig: die Theorie-Sektion bietet zwar konzise Überblicke über die Themen Wahrheits- und Geltungsansprüche der Wissenschaften, Vertrauen(sbildung) und Scheitern in der Wissenschaft, liefert jedoch kein Angebot für ein theoretisches oder methodisches Konzept. Drei der fünf Beiträge hätten mit ihren Ausrichtungen auch in die Sektion Wissenschaft und Gesellschaft gepasst. Aus dieser wäre der Beitrag zur Funktion der Sozialwissenschaften in liberalen Demokratien im Theorie-Teil ebenso gut untergekommen. Zudem setzt sich diese Sektion fast durchgängig mit dem Themenkomplex Wissenschaftsskepsis, Glaubwürdigkeitskrise der Wissenschaft und Auswirkungen postfaktischen Denkens sowie Wissenschaftskommunikation auseinander. Hier hätte der Rezensent mehr Vielfalt erwartet. Von gesellschaftlichen Ansprüchen an Wissenschaften, über Einbezug (oder Ausschluss) marginalisierter Gruppen in die Wissenserzeugung (aktuell oder in historischer Perspektive), bis hin zu Aushandlungsprozessen und Begegnungsorten zwischen Wissenschaft und Gesellschaft (von Schule über Museum) böten sich mannigfaltige Erweiterungen an.

Diesen Monita gegenüber steht die Qualität der jeweiligen Beiträge: Alle bieten anregende Darstellungen wissenschaftsphilosophischer oder -geschichtlicher Themen.

Miguel Ohnesorge untersucht Geltungsansprüche (in) der Wissenschaft und plädiert für ein Modell des Aktiven Realismus, in dem Wahrheit in den epistemischen Aktivitäten wissenschaftlicher Arbeit situiert ist. Nina Jarich diskutiert den Umgang mit (Noch-)Nichtwissen aus linguistischer Perspektive, Jon Leefmann argumentiert anhand semantischer Unterschiede zwischen Vertrauen (setzt Beziehungsebene voraus) und dem unpersönlichen Sich-auf-etwas-Verlassen, dass die Zuschreibung von Expertentum bereits eine persönliche Dimension enthalte. Dementsprechend sei die Vertrauenswürdigkeit wissenschaftlicher Expert:innen daran abzulesen, ob sie Laien zu eigenständigem Denken motivierten. Rainer Bromme untersucht, wie Laien mit kontroversen wissenschaftlichen Deutungsangeboten umgehen. Wichtig sind bereits vorhandene persönliche Einstellungen („motivierte Informationsverarbeitung“), aber auch Zuschreibungen zur Expertise der Wissenschaftlerin, ihrer Integrität sowie ihrer Gemeinwohlorientierung. Sebastian Schuol skizziert etymologisch grundiert Dimensionen des Begriffsfeldes „Scheitern“, welches im Gegensatz zu Irrtum oder Fehler eine nicht revidierbare Zielverfehlung meint. Ob dies vorliegt, ist eine Zuschreibungsfrage, was die Möglichkeit des Abstreitens beinhaltet. Die Möglichkeit des Scheiterns in der Wissenschaft wächst, je mehr bisher unabgesicherte Wissensbestände involviert sind, so dass Wissenschaft ein „Ort abgesicherten Scheiterns“ sei.

Kärin Nickelsen und Caterina Schürch zeichnen die Entwicklungen inter- bzw. transdisziplinärer Forschung mit Fokus auf das Forschungsfeld der Biowissenschaften in den 1920er- bis 1940er-Jahren nach. Kooperation fand dabei in verschiedenen Formen statt: als Zusammenarbeit unterschiedlicher Disziplinen, als Mehrfachexpertise in einer Person oder als dezidiert interdependentes Forschungsprogramm. Gelingensbedingung sei eine „positive Dependenz“ der Beteiligten gewesen, das heißt die Erkenntnis, dass ein Forschungsziel nur mithilfe weiterer Disziplinen erreicht werden kann. Julia Böttcher untersucht Handlungsmuster naturforschender Ärzte im 17. und 18. Jahrhundert am Beispiel von Mitgliedern der heutigen Leopoldina. Diese konnten aufgrund ihrer multiplen gesellschaftlichen Rollen – Forschende, lokal praktizierende Ärzte und Honoratioren sowie Ärzte am Hof – Deutungsansprüche zu Themen wie Gesundheit und Hygiene, aber auch gesellschaftlicher Ordnung im Spannungsfeld zwischen Forschung und Politik aktiv mitgestalten.

Der Beitrag von Bernd Flessner kontrastiert „Möglichkeitsräume“ von Science Fiction mit wissenschaftlichen „Wahrscheinlichkeitsräumen“. Während Forschende in Prognosen technischer Entwicklungen häufig vom Ist-Zustand ausgehen, öffne SciFi den Möglichkeitsraum von Technologien. Zudem beeinflusst Literatur aktiv Wissenschaft: Forschende wurden und werden von Technikszenarien angetrieben, welche zuerst in der SciFi imaginiert worden sind.

Christoph Merdes verdeutlicht, dass in komplexen Systemen, und besonders in solchen, in denen interdependente Computerprogramme zur Variablenberechnung genutzt werden, der Nachvollzug der Ergebnisse häufig verunmöglicht wird. Dies wirft ethische Fragen auf, wobei Merdes' Lösungsansatz, nichtepistemische Werturteile an demokratisch legitimierte Politiker:innen zu delegieren, bei deren Rückgriff auf wissenschaftliche Beratung weiterführende Fragen aufwirft.

Martina Schmidthuber diskutiert eng an der Praxis Möglichkeiten eines autonomen Lebens von dementen Menschen und ihren (pflegenden) Angehörigen. Bis wann können Demente Entscheidungen übernehmen? Wie handeln bei Diskrepanzen zwischen einer Patientenverfügung und widersprechenden tagesaktuellen Äußerungen des dementen Menschen? Schmidthuber plädiert für eine interdisziplinäre Weitung des bisher häufig medizinischen Blicks auf die Krankheit (oder: das altersbedingte Phänomen?). Auch kulturelle Unterschiede, zum Beispiel zwischen einem Mitspracherecht, das individuell oder gesamtfamiliär verstanden wird, sollten stärker berücksichtigt werden.

Katrin Götz-Votteler und Simone Hespers skizzieren Gefahren des postfaktischen Denkens sowie von Verschwörungstheorien. Argumentative Logik und überprüfbare Fakten werden zugunsten einer emotionalen Kommunikation suspendiert und als (über-)mächtig empfundene Personen oder Institutionen bedroht. Die Autorinnen mahnen neben gesellschaftlicher Bildung eine verständliche Sprache im Sinne guter Wissenschaftskommunikation an. Ob dies die psychologischen Vorteile des Leugnens von wissenschaftlichem Wissen übertrumpft, erscheint jedoch diskutabel.

Alexander Christian widmet sich dem Demarkationsproblem Wissenschaft(en) vs. Pseudowissenschaften. Nach Darstellung der wissenschaftstheoretischen Debattenstränge spricht er sich für einen fallbasierten Multikriterienansatz aus – schlicht, weil Demarkationen kaum schlüssig für verschiedene Disziplinen und Pseudowissenschaften, die ihre Wirkmacht aus einer Mischung von Glaubenssystem, sozialer Praxis und Technologie gewinnen, zu ziehen seien.

Alexander Reutlinger diskutiert Infragestellungen wissenschaftlichen Wissens, um nichtepistemische Partikularinteressen von Organisationen zu wahren, ausgehend von evidenziellen Ansätzen (Behauptungen von Skeptiker:innen sind nur mangelhaft gerechtfertigt) und sozialerkenntnistheoretischen (Gegen-Wissen wird auf eine Weise produziert, welche die wissenschaftlichen Qualitätsnormen unterläuft). Martin Carrier argumentiert, dass Abhilfe für den Glaubwürdigkeitsverlust der Wissenschaften weder im Einfordern stärkerer Wissenschaftsfreiheit noch in einer „Gegenpolitisierung“ zu finden sei, sondern in einem stärkeren Pluralismus wissenschaftlicher Fragestellungen und Zugangsweisen. Der Beitrag von Martin Kusch zu den Funktionen der Sozialwissenschaften in liberalen Demokratien bietet einen Überblick über die Herausforderungen einer rational argumentierenden Wissenschaft in Debatten mit nicht ausschließlich rational agierenden Akteuren. Carsten Könnekers Beitrag referiert empirische Befunde zur Wissenschaftskommunikation in Sozialen Medien. Sieben Verzerrungen (biases), die auch in Offline-Kommunikation bestehen, würden durch algorithmische Präferenzierungen und damit verbundene soziale Dynamiken online negativ verstärkt. Dies sei nicht ausschließlich durch bessere Kommunikation zu lösen, sondern müsse politisch bearbeitet werden.

Der Parforceritt durch die verhandelten Themen zeigt, dass Wissenschaftsreflexion ausgezeichnet als Containerbegriff funktioniert, um unterschiedliche Themen der Wissenschaftsforschung zusammenzubringen – als mehr jedoch (bisher) nicht. Der vorliegende Sammelband schafft mit seinem breiten Themenspektrum also genau den Begegnungsraum, den eine vertiefende interdisziplinäre Debatte zur Wissenschaftsreflexion benötigt.

Anmerkung:
1 Konziser, doch ebenfalls ohne methodische oder konzeptionelle Festlegung, wird das Anliegen vom Kompetenzzentrum für interdisziplinäre Wissenschaftsreflexion (ZIWIS) der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg beschrieben, der ein Großteil der Beiträger:innen angehört: „Wissenschaftsreflexion erforscht die Voraussetzungen und Folgen von Wissenschaft in einem sehr breiten Sinne – in erkenntnisbezogener, ethischer, historischer und gesellschaftlicher Hinsicht. Dabei versteht sie sich als ein interdisziplinäres Forschungsfeld [...]. Ihr Ziel ist es, ein kritisch-reflexives Verständnis von Wissenschaft zu entwickeln, auf dessen Grundlage auch ein umfassender Dialog mit der Gesellschaft entstehen soll.“ https://www.fau.de/2023/06/news/wissenschaft/wissenschaftsreflexion-an-der-fau-ein-dynamisches-forschungsfeld/ (08.05.2024).

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