Historikertag 2023: Mittelalterliche Geschichte

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Lisa Merkel, Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte, Universität Leipzig

Besprochene Sektionen:

Die argumentative Kraft (und Schwäche) der Faktizität im politischen Handeln des Nikolaus von Kues (1401-1464)

Familiäre Wahrheiten und prekäres Wissen. Medien- und wissenshistorische Zugänge zu den europäischen Familienbüchern des Spätmittelalters

Fragiles Lehnswesen – außer Lehen nichts gewesen? Das Lehnswesen zwischen historischer Realität, wissenschaftlichem Modell und Geschichtsunterricht

Abend der Landesgeschichte

In fünf Sektionen setzte sich der 54. Deutsche Historikertag mit dem Motto „Fragile Fakten“ mit Themen der mittelalterlichen Geschichte auseinander, von denen drei in diesem Bericht berücksichtigt werden. Hinzu kam der Abend der Landesgeschichte, der sich ebenfalls in Teilen der mittelalterlichen Geschichte widmete.

Den Auftakt machte die von PETRA SCHULTE (Trier) geleitete Sektion zum Thema „Die argumentative Kraft (und Schwäche) der Faktizität im politischen Handeln des Nikolaus von Kues (1401-1464)“. Die Referenten sind sämtlich als Cusanus Experten ausgewiesen und entweder an der Edition des umfangreichen Schriftenwechsels des Brixener Bischofs beteiligt oder im Trierer Cusanus-Institut tätig. Bei ihrem Forschungsüberblick legte Schulte den Fokus auf das 20. Jahrhundert und die wissenschaftliche Deutung des Nikolaus von Kues in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und in der (frühen) Bundesrepublik. Dem setze nun die neuere Forschung ein differenzierteres Bild entgegen, wodurch der Bischof als Akteur seiner Zeit verstanden wird, der sich mit seinem Umfeld auseinandersetzte und in seiner individuellen Person nicht widerspruchsfrei war. Es folgte die Definition von Information, Fakten und Wahrheit, was sich jedoch im spätmittelalterlichen Kontext des Nikolaus von Kues nicht so einfach darstellte, wie die nachfolgenden Vorträge verdeutlichten. Von großer Relevanz war noch im 15. Jahrhundert die Glaubwürdigkeit, zum einen der Person, die Informationen weitergab, zum anderen von der Information selbst. Dabei galt stets die ältere Auskunft als die bessere, wie dies auch in zahlreichen Rechtsfällen belegt ist. Zugleich gab es einen Disput um Wahrheit, der sowohl philosophischer als auch juristischer Natur war, wobei es vielleicht eher darum ging, wem man vertraute als darum, was tatsächlich richtig war. Zugleich wurde damit angesprochen, dass es die Begriffe von „Fakt“ und „Faktizität“ im späten Mittelalter noch nicht gab, sondern diese sich erst ab dem 18. Jahrhundert entwickelten. Im Fall von Nikolaus von Kues ging es also um die Frage, wie er vermeintliche Fakten herausarbeitete, mit diesen umging und wie er mit Unwissen (gezielt oder ungezielt) umging. Auf all diese Aspekte gingen die Vorträge der Sektion ein.

MARCO BRÖSCH (Trier) beschäftigte sich mit den Wallfahrten nach Wilsnack und Andechs. In beiden Fällen wurden Bluthostien verehrt und Nikolaus von Kues wurde um ein Gutachten in Bezug auf die Wallfahrten gebeten. Während er in Wilsnack das Wunder anzweifelte (wie dies auch bereits von anderen Zeitgenossen getan wurde), so führten in Andechs kirchenpolitische Hintergründe zu einem positiven Urteil des Bischofs. Um sich nicht selbst zu widersprechen begründete er seine Akzeptanz des Andechser Wunders damit, dass die Hostien konsekriert waren und die Pilger demzufolge den Leib Christi verehren würden. Im Gegensatz dazu seien die Wilsnacker Hostien nicht geweiht worden, weswegen dort stets eine geweihte Hostie hinzugelegt wurde. Der landesherrliche Einfluss im Andechser Fall führte also dazu, dass Nikolaus von Kues bestimmte Fakten außer Acht ließ und sein Gutachten den kirchenpolitischen Interessen unterordnete. Dass diese Diskussion nur auf einer theologischen Ebene geführt wurde, die die Volksfrömmigkeit nicht unmittelbar zu beeinflussen vermochte, wurde am Ende des Vortrags noch eigens betont.

Als Mitarbeiter der Acta Cusana in Berlin ist auch THOMAS WOELKI (Berlin) ein Experte auf dem Gebiet des Nikolaus von Kues. Anhand von drei Beispielen stellte er das bewusste Nicht-Wissen des Brixener Bischofs dar. Zunächst wurden Nonnen vorgestellt, deren Konvent durch Kues reformiert werden sollte. Die reformunwilligen Nonnen schützten – nachdem sie bereits zuvor zahlreiche andere Gründe gefunden hatten, die gegen eine Umsetzung der Reform sprach – als letzte Möglichkeit vor, dass sie das Reformpapier nicht verstünden, obwohl eine übersetzte und kommentierte Fassung bereits vorlag. Im zweiten Beispiel war es Kues selbst, der bewusst einen Brief nicht öffnete, um in der Gradner Fehde seine neutrale Position wahren zu können. Schließlich wurde ganz allgemein das Nicht-Wissen bei Kirchenstrafen angeführt, wenn also Priester trotz Interdikt die Messe feierten und ihre Unwissenheit als Ausrede nutzten, um der Exkommunikation zu entgehen. Hier könnten noch viele weitere Beispiele angeführt werden, allein das Repertorium Poenitentiariae Germanicum liefert unzählige solcher Berichte. Es handelte sich also um ein dezidiertes Nicht-Wissen, eine Art Verweigerung der Information, was jedoch nur möglich war, wenn den Akteuren bereits in irgendeiner Art und Weise bekannt war, welche Informationen sie verweigern mussten.

Als weitere Möglichkeit mit Wissen bzw. Nicht-Wissen und Informationen umzugehen, stellte JOHANNES HELMRATH (Berlin) den Umgang von Kues mit Gerüchten vor. Bei Reisen zu einer Verhandlungen im Jahr 1457 hatten die politischen Gegner vermutlich gezielt Gerüchte über Angriffe auf den Brixener Bischof gestreut, im vollen Bewusstsein, dass dieser die drohende Gefahr ernst nahm und unter großen Ängsten die Reisen absolvierte. Letztlich ist nichts passiert, sodass ereignishistorisch keine Fragen gestellt werden können. Viel interessanter ist der Umgang mit diesen Gerüchten im Nachgang. Kues erreichte durch detaillierte Berichte von angeblichen Überfällen sowie Zeugenberichten und – als kirchenhistorisch interessantester Punkt – mit Hilfe von Beichtbußprotokollen, dass die Gerüchte im Nachgang als tatsächliche Angriffe auf seine Person bewiesen wurden. Um sein Recht durchzusetzen, musste der Bischof Fakten schaffen, also eine Wahrheit herstellen, die ihm kraft seiner gesellschaftlichen Position geglaubt wurde. Die Aufhebung des Beichtgeheimnisses geschah mit päpstlicher Genehmigung und dem Argument, dass der Papst besser zu informieren sei.

Den Abschluss bildete PAULA PICO ESTRADA (Buenos Aires) zur Philosophie des Nikolaus von Kues in seinem 1458 verfassten Werk „De beryllo“. Sie beschäftigte sich mit dem Aufbrechen der Denkstrukturen, weg von einem binären Verständnis der Welt hin zu einem dreifältigen Verständnis, welches sich im Kontext des Glaubens an der Heiligen Dreifaltigkeit spiegelt. Auch hier hänge die Wahrheit an einer Institution und einem Menschen und sei daher grundsätzlich vom heutigen faktenbasierten Wahrheitsverständnis zu unterscheiden. Kues setzte dabei den Herrscher mit dem Intellekt gleich und erhob dadurch die Wahrheit auf die Ebene eines überindividuellen Erkenntnisprozesses.

Mit ihrem klar erkennbaren roten Faden und den zahlreichen, teils amüsanten Beispielen in den Vorträgen gelang es in der Sektion, Fragen nach Wahrheit und Fakt am Beispiel des Nikolaus von Kues sehr eindrücklich zu diskutieren. Seine Widersprüchlichkeit wurde gut vermittelt und in übergreifende Fragen eingebettet.

Familienbüchern und dem Wissen, das in ihnen überliefert wurde, widmete sich die Sektion „Familiäre Wahrheiten und prekäres Wissen. Medien- und wissenshistorische Zugänge zu den europäischen Familienbüchern des Spätmittelalters“. Insbesondere wurde die Frage aufgeworfen, was für die Familien aufzeichnenswert war und in manchen Fällen auch, warum bestimmte Informationen schriftlich festgehalten wurden. So reicht die Spannweite von simplen Geburts- und Todesdaten bis hin zu Berichten aus dem Familienleben, die erkennbar mit einer bestimmten Intention verfasst wurden.

Im Einführungsvortrag machte MARC VON DER HÖH (Rostock) die Bandbreite der Familienbücher auf. Während in einigen Fällen Randnotizen in Geschäftsbücher eingefügt wurden, waren es in anderen Familien regelrechte Auftragsarbeiten mit aufwendigen Zeichnungen – meist der Wappen – die zudem ein Repräsentationsbedürfnis erkennen ließen. Zugleich wurde damit deutlich, dass die Familienbücher erst im Spätmittelalter mit der Ausbreitung der Schriftlichkeit aufkamen. Zu fragen sei zudem nach Zusammenhängen zwischen den italienischen und süddeutschen Familienbüchern. Hierüber herrsche in der Forschung Uneinigkeit. Dass Familienbücher ausgeliehen wurden, ist jedoch durch Notizen und Anmerkungen in denselben leicht nachvollziehbar. In anderen Fällen verlangten die Familienbücher strenge Geheimhaltung, wurden jedoch trotzdem auch außerhalb der Familie herumgereicht. Für die aufwendig ausgestalteten Exemplare liegt der Repräsentationsgedanke nahe. Entsprechende Nachweise liegen für Familien vor, die anhand der Familienbücher ihren sozialen Aufstieg dokumentieren wollten, ebenso wie vom sozialen Abstieg bedrohte Familien ihren Status anhand dieser Bücher festhalten wollten.

Den Einstieg in die Frage nach der intendierten Statusrepräsentation der Familienbücher machte GREGOR ROHMANN (Frankfurt am Main) anhand von Augsburger Beispielen, wo mit Clemens Jäger ein Sonderfall vorliege. Er hatte sich in den Rat hochgearbeitet und nutzte seinen Zugang zur sozialen Oberschicht, um ab ca. 1540 Auftragswerke an sich zu ziehen. Von Familienvätern bekam er Aufträge, ein sogenanntes Ehrenbuch anzulegen und die Inhalte stimmte er, so lassen die Quellen es erkennen, mit den Auftraggebern ab. Wieviel Jäger bei der Ausgestaltung der Handschriften selbst entschied ist unklar; so ist beispielsweise bei den Buchmalereien nicht eindeutig belegbar, ob Jäger diese eigenständig in Auftrag gab. Im Vergleich der Augsburger Ehrenbücher mit Hinblick auf die Frage der Repräsentation wurde deutlich, dass dieser durchaus differenziert zu bewerten ist. So ist das Ehrenbuch der Fugger nicht aufwendiger als das anderer Ratsfamilien, wohingegen die Familie von Linck als soziale Aufsteiger ein besonders prächtiges Familienbuch anlegen ließen, um ihrem neuen Status Nachdruck zu verleihen. Die Position der Fugger hingegen brauchte keine repräsentative Untermalung. Daran schloss Rohmann die Frage an, inwieweit die Familienbücher genutzt wurden. Wurden sie innerhalb und/oder außerhalb der Familie gelesen? Wurden sie in den nachfolgenden Generationen weitergeführt? In manchen Familienbüchern findet sich die explizite Aufforderung des Familienvaters, dass das Buch weitergeführt werden soll, oft genug blieben die frei gelassenen Seiten jedoch leer. In Augsburg ließen sich zudem die Abhängigkeiten der Familienbücher nachweisen und damit Rückschlüsse auf den Austausch der Familienväter innerhalb eines Verwandtschaftsnetzes zu.

Unter dem Thema der „Fragilen Erinnerung“ näherte sich HANNA WICHMANN (Rostock) mit Florentiner Familienbüchern dem Thema. Als konkretes Fallbeispiel diente ihr das Familienbuch von Giovanni Morelli, welches er Ende des 14. Jahrhunderts begann. Direkt zu Beginn schrieb der Autor, dass er seine eigene Familie von anderen abgrenzen und die eigene Geschichte hervorheben wolle. In seiner Darstellung war die soziale und ökonomische Situation der Familie gefährdet, sodass er sich von anderen neu aufsteigenden Familien deutlich distanzierte. Für das Verfassen seines Manuskriptes recherchierte er seine Vorfahren und gab dieses Wissen an seine Nachfahren weiter, die er auch direkt ansprach. Als weitere und im Mittelalter übliche Verifizierungsstrategie gab Morelli Zeugen an, die bereits über 100 Jahre alt sein sollten. In den überlieferten Ereignissen werde schnell deutlich, dass eine familieninterne Sicht weitergegeben werden sollte, wenn es bspw. um den fragwürdigen Unfall eines Verwandten oder um die Rechtfertigung von Streitigkeiten innerhalb der erweiterten Verwandtschaft ging. Für den Schreiber ging es also auch darum, die eigene Unschuld an den Ereignissen zu dokumentieren und dies für seine Nachfahren glaubwürdig festzuhalten. Anders konnten – ähnlich wie bei Nikolaus von Kues auch – bei den Familienbüchern das gezielte Unwissen über ein Ereignis herbeigeführt werden, indem die Aufzeichnungen zerstört wurden. Dann sollten den Nachfahren Informationen vorenthalten werden, die der Familie Schaden konnten.

Mit dem inszenierten Wissen (wozu sicher auch das Löschen von Wissen gehört) setzte sich MARCO TOMASZEWSKI (Freiburg) anhand von Schweizer Beispielen auseinander. In seinem Vortrag ging es um die kommunikativen Praktiken in Familienbüchern. Während es genügend Beispiele gibt, wo eine schlichte Informationsweitergabe den Hintergrund bildete (wenn bspw. eher notizenhaft die Geburts- und Sterbedaten verzeichnet wurden), konnte in anderen Fällen eine generationenübergreifende Kommunikation stattfinden. Dies gelang, indem zum Beispiel der Familienbezug im Mannesstamm betont wurde und somit die Herkunft nachgewiesen war. Die bereits zuvor erwähnte Geheimhaltungsanordnung war nicht immer so strikt gemeint wie vermutet werden könnte. Vielmehr könnte es sich dabei um eine Strategie handeln, um Informationen interessanter erscheinen zu lassen. Auch dies war also eine Art der Kommunikation mit den Nachfahren. Der Zugang zum Familienbuch konnte, so der Referent, für die aktive Konstruktion von Familie genutzt werden: sowohl zur Abgrenzung (durch Verwehren des Zugangs) als auch bei Teilhabe durch Zugang zum Familienbuch. Damit erlaubt die Untersuchung von Familienbüchern die immer wieder neue ausgehandelte Vorstellung von Familie. Zum Abschluss ging der Referent auf die Familienbücher als städtisches Phänomen ein. Familienbücher dienten demnach dazu, eine Oberschicht abzugrenzen, da die finanziellen Mittel für die Herstellung eines hochwertigen Manuskripts vorhanden sein mussten. Ähnliche Mechanismen seien auch für dörfliche Gesellschaften überliefert, wenn auch mit deutlich dünnerer Quellenlage.

Im letzten Vortrag der Sektion wurde der Blick wieder auf Florenz gerichtet. LISA KABORYCHA (Prato) untersuchte das Phänomen, dass die Florentiner Oberschicht zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert zahlreiche Abschriften anfertigte und persönliche Notizen in sie einfügte. Dabei handelte es sich nicht immer um familieninterne Geschehnisse, sondern auch andere aktuelle Ereignisse wie Wetterphänome wurden verzeichnet. Wichtig war den Schreibern, dass diese Informationen verifiziert wurden, sodass glaubhafte Zeugen angeführt wurden. Dies lasse sich in der Überlieferung auch mit anderen Quellen gegenprüfen, wodurch deutlich werde, wie unterschiedlich die Ereignisse wahrgenommen wurden. Insgesamt sei somit eine Form der konstruierten Erinnerung nachzuweisen, wie sie auch in Familienbüchern vorkam. Der interessante Vortrag hatte allerdings nur bedingt Bezug zum Thema der Sektion.

Die vorgestellten Fallbeispiele waren spannend; allerdings blieben die Fragen und Erkenntnisse der Vorträge recht eng beieinander. Die Vorträge wirkten durch Wiederholungen auch teils redundant.

Die von OLIVER AUGE (Kiel) geleitete Sektion „Fragiles Lehnswesen – außer Lehen nichts gewesen? Das Lehnswesen zwischen historischer Realität, wissenschaftlichem Modell und Geschichtsunterricht“ griff ein lang etabliertes Thema der Forschung auf, das in den letzten Jahrzehnten (vor allem aber den vergangenen zehn Jahren) intensiv neu diskutiert und in seinen Grundannahmen hinterfragt wurde. Die scheinbar fest etablierte Lehnspyramide wurde dekonstruiert und es stellt sich nun die Frage, was das Lehnswesen eigentlich war und was die Quellen des Mittelalters dazu hergeben.

Nachdem Oliver Auge in seinem Einführungsvortrag die Forschungsgeschichte und die damit einhergehenden Probleme bei der Beschäftigung mit dem Lehnswesen skizzierte, nahm er die fünf wesentlichen Erkenntnisse der Sektion voraus. Dies beinhaltete erstens die Neu-Interpretation der Quellen, die in der Vergangenheit zu häufig auf das bisherige Verständnis des Lehnswesens hin betrachtet wurden. Zweitens sollte das Lehnswesen als dynamisch angesehen werden und die vor allem durch die Lehnspyramide suggerierten erstarrten Verhältnisse im Kontext der jeweiligen Zeit sowie Umstände verortet werden. Dies führe dazu, dass ein Lehnsherr und Lehnsnehmer wechseln konnten, ebenso wie es zu einem Vasallitätswechsel kommen konnte. In einem dritten Punkt nannte Auge die Leistungen des Lehnswesens, die für den Lehnsherrn neben einer finanziellen und militärischen auch eine repräsentative Komponente haben konnte, was wiederum machtpolitischen Interessen zuträglich sein konnte. Die Rechtsgelehrten bildeten den vierten Punkt in der Aufzählung. Als Beispiel führte Auge Friedrich Barbarossa an, der sich das Lehnswesen in Italien erklären ließ und es dann mit in den Nordalpinen Raum nahm. Daran anschließend kann also gefragt werden, ob das Lehnswesen eine Konstruktion der Rechtsgelehrten war. Den letzten Punkt bildeten schließlich die methodischen Zugriffsmöglichkeiten und die regionalen Beispiele. Damit wurde die Frage nach der konkreten Umsetzung des Lehnswesens in der Realität gestellt, die sich sicherlich nicht immer an die Vorstellungen der Rechtsgelehrten hielt.

SIMON GROTH (Bonn) setzte sich zunächst aus begriffsgeschichtlicher Perspektive mit dem Lehnswesen auseinander und stellte es dem Feudalismus gegenüber. Da eine entsprechende Begriffsgeschichte für das Lehnswesen bisher noch fehlt, musste auch der Vortrag offen enden. Im Laufe der Forschungsgeschichte wurden die Begriffe Lehnswesen und Feudalismus sowohl Synonym als auch Gegensätzlich verwendet, je nachdem in welcher Zeit die Forschenden lebten. Die Quellen behandelten die Wörter „feudo“ und „lehn“ recht ähnlich, allerdings würden die Begriffe von der Forschung unterschiedlich angewandt.

Um Forschungskontroversen ging es daran anschließend im Vortrag von THOMAS MARTIN BUCK (Freiburg). Er nutzte die Kontroverse um das Lehnswesen als Beispiel für Dynamik und Mechanismen von Forschungskontroversen. Die im Anschluss ausgeführten vier Axiome blieben recht allgemein. Im ersten Punkt ging es Buck um die Arbeit von Historiker:innen mit Modellen wie dem Lehnswesen. Dabei diskutierte er die Uneindeutigkeit von Modellen im Verhältnis zu ihrer Praktikabilität, wie sie sich in der Begriffsbildung ausdrücke. An zweiter Stelle strich Buch die Bedeutung von Quellen(interpretation) als Regulativ der Arbeit mit Modellen heraus. Den dritten Punkt bildete die Vermittlung des Abstrakten, beispielsweise in der Visualisierung der Lehnspyramide. Er betonte den Charakter von Modellen als Hilfsgerüste, nicht als Abbildung von Wirklichkeit. Als vierten Punkt diskutierte Buch Sprache: zum einen mögliche Verständnisprobleme der Quellensprache, zum anderen die Grenze, die moderne Begrifflichkeiten darstellten, durch die das Vergangene nie vollständig erfasst werden könnte. Mit diesen allgemeingültigen Erkenntnissen schloss der Vortrag.

In Stellvertretung und an letzter Stelle der Sektion, da die Zusammenfassung von Jürgen Dendorfer aus gesundheitlichen Gründen ausfallen musste, präsentierte FREDERIC ZANGEL (Kiel) das Lehnswesen am Beispiel Dänemark. Da in der Forschung bisher eine Existenz des Lehnswesens für Dänemark nicht angenommen wurde, bietet es sich als in dieser Hinsicht unbearbeitetes Feld an. Problematisch stellte sich hier vor allem die stark lückenhafte Überlieferung dar. Zugleich stellte Zangel die Frage, inwieweit das Fallbeispiel repräsentativ sei oder ob nicht vielleicht die Abweichung eher die Normalität darstellte. Anhand seiner bisherigen Forschung arbeite er fluide Graubereiche heraus (wie er es selbst nennt), da sich auch die Zeitgenossen die Frage stellten, was ein Lehen sei und wer Lehnsherr sein dürfe. Zugleich scheine jeder Vasall als Lehnsmann auf und jede Landnahme scheine eine Belehnung gewesen zu sein, auch wenn darunter nicht alle zum klassischen Lehnswesen zu zählen seien. Somit wurde mit diesem Vortrag die Schablone des Lehnswesens endgültig dekonstruiert.

Das Lehenswesen muss in Zukunft weiter diskutiert und sicherlich müssen weitere Quellen neu interpretiert werden – das verdeutlichte diese stark theoretisch ausgerichtete Sektion. Für Historiker:innen bedeutet dies letztlich einen Arbeitsauftrag, der in den kommenden Jahren noch zu erfüllen sein wird.

Unter den Veranstaltungen des Historikertages kann ohne weiteres der „Abend der Landesgeschichte“ besonders hervorgehoben werden. Dabei wurde das Sächsische Klosterbuch in einer vorläufigen digitalen Fassung präsentiert, während das gedruckte dreibändige Werk zur Leipziger Buchmesse 2024 vorliegen soll. Wenn es natürlich sehr bedauerlich war, dass ausgerechnet Enno Bünz aus gesundheitlichen Gründen nicht teilnehmen konnte, so leitete doch der wissenschaftliche Mitarbeiter des Lehrstuhls für Sächsische und Vergleichende Landesgeschichte in Leipzig, Alexander Sembdner, in gelungener Art und Weise durch den Abend. In einem Festvortrag erläuterte OLIVER AUGE sein – wie er es selbst nannte – Gedankenkonvolut zu der Bearbeitung von Klosterbüchern im Laufe der vergangenen Jahrzehnte. Er betonte den Wert der Klosterbücher, die mittlerweile stets reich bebildert sind und nicht nur für die Fachwelt einen Orientierungspunkt sowie Ansatz für weitere Forschung bilden, sondern auch für ein breiteres Publikum einen Zugang zur Klosterlandschaft bietet. Im Anschluss präsentierten ALEXANDER SEMBDNER (Leipzig) und SABINE ZINSMEYER (Leipzig) das Sächsische Klosterbuch, zunächst mit einem allgemeinen Teil über die sächsische Klosterlandschaft und dann mit dem konkreten Buch. Den Abschluss des Vortragsteils bildete ein kurzer Blick auf das immerhin 13 Jahre währende Projekt aus verlegerischer Sicht durch den Leiter des Universitätsverlages GERALD DIESENER (Leipzig). Man darf sich daher auf die gedruckte Variante des Sächsischen Klosterbuches freuen.

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