Das 28. Bohemisten-Treffen: Forum für Tschechien- und Slowakei-Forschung

Das 28. Bohemisten-Treffen: Forum für Tschechien- und Slowakei-Forschung

Organisatoren
Collegium Carolinum, Forschungsinstitut für die Geschichte Tschechiens und der Slowakei
PLZ
80539
Ort
München
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
01.03.2024 -
Von
Magdalena Mihaljević, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Alle Jahre wieder: Das diesjährige, nunmehr 28. Bohemisten-Treffen des Collegium Carolinums (CC) fand am 1. März 2024 in München statt. Das Forum für Tschechien- und Slowakei- Forschung bietet Interessierten die Möglichkeit, eigene Projekte in kurzer Form bekannt zu machen, sich über laufende und neue Arbeitsvorhaben zu informieren und sich gegenseitig auszutauschen.

Seine Begrüßung eröffnete MARTIN SCHULZE WESSEL (München), Vorsitzender des CC, mit einem kurzen Gedenken an die Opfer des Anschlags an der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität Prag am 21. Dezember 2023. Anschließend hob er die entschiedene Unterstützung für die Ukraine durch die Tschechische Republik positiv hervor. Zudem betonte er die wachsende Bedeutung der Slowakei im Forschungsprogramm des Instituts. Zukünftig wird hier ein stärkerer Fokus auf die (transnationale) Geschichte der Slowakei gesetzt. Zu den Gästen der Kurztagung zählte auch der Generalkonsul der Slowakischen Republik JOZEF KORČEK (München). Er verglich in seinem Grußwort die Geschichte metaphorisch mit einer alten Karte, die einem heutigen Reisenden den Weg weist, und er dankte dem CC für seine Arbeit. Die dritte Begrüßung kam von PAVLA ŠIMKOVÁ (München), der Organisatorin des diesjährigen Bohemisten-Treffens.

Das erste Panel „Der Adel erfindet sich neu“ eröffnete FILIP BINDER (Prag) mit einem Vortrag über sein neues Projekt „Adelige Bauherren in den böhmischen Ländern 1800-1918“, das sich in Teilen auf seine Doktorarbeit stützt. Der Historiker interessiert sich für die Gestaltung und den Umbau adeliger Residenzen in der Zeit zwischen 1835 und 1870 und möchte die Intentionen der Adeligen anhand von Egodokumenten der Bauherren rekonstruieren. Ihre Inspiration gewannen die Bauherren auf Reisen ins Ausland. Insbesondere England hatte es ihnen angetan, sodass sogar von „Anglomanie“ die Rede war. Als Beispiele für seine Untersuchung hat Binder unter anderem den Umbau des Schlosses Frauenberg/ Hluboká nad Vltavou, des Schlosses Eisgrub/ Lednice und die Gestaltung des Schlosses Bürgles/ Hrádek u Nechanic gewählt. Trotz gewisser Trends, so Binder, sei jeder dieser Bauten einzigartig. Im weiteren Vorhaben wolle er Adelssitze betrachten, die in ein Museum umgewandelt wurden, zum Beispiel Friedland/ Frýdlant, und dabei das adelige Sammeln berücksichtigen.

Hier knüpfte JANA LUKOVÁ (Bratislava) mit ihrem Bericht über „das Phänomen des adeligen Sammelns in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ auf dem Gebiet Ungarns an. Die Kunsthistorikerin machte zu Beginn deutlich, dass eine Sammlung sowohl den Prozess als auch das Resultat des Sammelns bezeichnet. Als Hauptquelle für ihre Arbeit dient ihr die Sammlung von Laurentius Čsaplovičs des Jeszenova, die heute im Museum in Dolný Kubín zu finden ist. Eine Schenkungsurkunde hält fest, dass sich Čsaplovičs zum „lebenslangen Sammeln“ verpflichtete. Eine weitere Quelle für die Untersuchung bildet die Bibliothek Apponiana, gegründet von Graf Anton Georg Apponyi. Luková kritisierte, dass sich die Forschung bisher wenig für die Entstehungsgeschichte und den Inhalt der Sammlungen interessiert habe. Diese Lücke wolle sie mithilfe eines biografischen Ansatzes schließen, der es ihr ermögliche, sowohl die Motivation der Sammler als auch die sozialen Zusammenhänge zu ergründen, in denen ihre Sammlungen entstanden.

In der nachfolgenden Diskussion wurde nach den Auswahlkriterien gefragt, die für den Bau eines Schlosses entscheidend waren. Binder zufolge war das eine malerische Gegend, zum Beispiel mit einem Hügel und dem Raum zur Bepflanzung. Aspekte wie der Denkmalschutz und die Idee, nachhaltig für nachfolgende Generationen zu bauen, fanden erst später Eingang in die Überlegungen der Bauherren. Die Fragen an Luková betrafen einerseits die Sammlungsstrategien ihrer Protagonisten – zumindest Čsaplovičs hatte keine, sondern sammelte alles, was er erwerben konnte – und die Botschaft, die mit den Sammlungen, die sie untersucht, verbunden waren. Luková zufolge sollten sie zur Stärkung patriotischer und nationaler Gedanken beitragen.

STEFFEN HÖHNE (Weimar) stellte in der zweiten Sektion „Kurzvorstellung von Einrichtungen und Editionsprojekten“ ein Projekt zur Digitalisierung des Max-Brod-Nachlasses vor. Dieser umfasst Max Brods Tagebücher von 1909 bis 1968, Brods und Franz Kafkas Manuskripte und Fotos. Die Geschichte dieses Bestands ist konfliktreich, Höhne skizziert den Nachlassstreit: Max Brod wurde 1924 von Kafkas Erben zum Verwalter seines literarischen Nachlasses bestimmt und floh 1939 nach Palästina, wo er 1947 Teile davon aus finanziellen Gründen Ilse Ester Hoffe schenkte, die er 1961 zur Testamentsvollstreckerin, Nachlassverwalterin und Alleinerbin einsetzte. Nach dem Tod von Hoffe im Jahr 2007 wurde der Nachlass zum jüdischen Kulturgut ernannt und gerichtlich bestätigt. Mittlerweile befindet er sich in der Israelischen Nationalbibliothek in Jerusalem, wo er derzeit zur Digitalisierung vorbereitet wird. Auf Nachfrage erklärte Höhne, dass die Tagebücher bereits in der israelischen Datenbank zu finden sind.

FLORIAN RUTTNER (Prag) präsentierte die neusten Projekte der Außenstelle des CC in Prag, wie die Konferenz „175 Years Congress of the Slavs (1848-2023)“ im Juni 2023, die „Prager Vorträge“ im Frühling und Sommer 2024 und zukünftige Veranstaltungen, die auf der Website des CC angekündigt werden. Der Politikwissenschaftler hob die Aufgaben der Außenstelle hervor, nämlich Forschungsprojekte in Zusammenarbeit mit tschechischen Partnern anzustoßen und zu unterstützen sowie Ergebnisse der deutschen Forschung in der Tschechischen Republik vorzustellen.

Es folgte der Bohemisten-Treffen-Klassiker: die Kurzvorstellung der vorliegenden Exposés, die auch auf der Website des CC online einsehbar sind.1 Hier waren alle Epochen und Fächer vertreten. Unter den neuen spannenden Projekten waren – wenig überraschend im Jahr 2024 – eine ganze Reihe zu Franz Kafka.

In Panel vier „Zwischen Welten: Grenzen einschreiben, Grenzen überschreiten“ gab DAMIAN DOMKE (Heidelberg) Einblick in sein Dissertationsprojekt „Agent des Calvinismus: Amandus Polanus von Polansdorf (1561-1610) als Vermittler der reformierten Lehre in die Länder der böhmischen Krone“. Amandus Polanus, 1561 im kurz zuvor reformierten Troppau/ Opava geboren, studierte Theologie in Tübingen, Basel und Genf, wobei die beiden letztgenannten Städte zu jener Zeit einem starken Rekatholisierungsdruck ausgesetzt waren. Domkes Arbeit zielt darauf ab, die Rolle von Polanus als Gelehrten und Politiker zu ergründen, der sich zwischen dem calvinistischen Westen und dem protestantischen Osten und damit zwischen zwei Welten bewegte. Der Calvinist war im Kontakt mit den Mährischen Brüdern, er wirkte als Praeceptor für Johannes Dionysius von Zierotin, mit dem er auch gemeinsame Reisen unternahm, und unterstützte den Aufstand der Protestanten gegen die Rekatholisierung in Troppau 1602/03. In seinem Vortrag machte Domke auf die Probleme aufmerksam, die mit dem Mangel an Quelle verbunden sind; insbesondere zu Polanus’ Auffassung über den protestantischen Osten gebe es wenig Material.

Auch LENA-MARIE FRANKE (Regensburg) präsentierte ihr Dissertationsvorhaben. Bei Franke geht es um „Berichte von Theresienstadt-Überlebenden im Kontext der frühen Shoah-Literatur“, die sie daraufhin befragt, ob sie „konkurrierende oder ergänzende Erzählungen“ liefern. Sie geht dabei von drei frühen dokumentarischen Berichten aus: Anna Auředníčkovás „Tři léta v Terezíně“ (Drei Jahre in Theresienstadt, 1945), Mirko Tůmas „Ghetto našich dnů“ (Ein Ghetto unserer Tage, 1946) und Richard Feders „Židovská tragédie: Dějství poslední“ (Jüdische Tragödie: Letzter Akt, 1947) und untersucht an deren Beispiel, wie die Shoah in der unmittelbaren Nachkriegszeit erzählt wurde, wie diese Erzählungen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft rezipiert wurden und welchen Beitrag sie zur Entwicklung eines Masternarrativs leisteten. Anhand kurzer Textpassagen illustrierte Franke die divergierenden Haltungen der drei Schreibenden zur tschechischen Nation, zu Nicht-Tschechen und zum Zionismus. Sie zeigte aber auch übereinstimmende Motive auf wie den Transport nach „Osten“ oder die Zählappelle im Konzentrationslager.

ZUZANA AUGUSTOVÁ (Prag) schilderte im Anschluss die mit dem in Prag und Ústí nad Labem angesiedelten Forschungsprojekt „(Un)Vereintes Europa? Grenzen und Grenzüberschreitungen in der deutschen und österreichischen Literatur nach 2000 und ihre Rezeption in der Tschechischen Republik“ verbundenen Aktivitäten.

Die letzte Sektion war überschrieben mit „Landschaften im Wandel“. Hier berichtete MAGDALENA BARAMOVÁ (Prag) über ihr Projekt „Czech borderlands after expulsion: Two South Bohemian landscapes with a contrasting development”, in dem sie zwei tschechische Ortschaften in Langzeitperspektive untersucht, die nach 1945 praktisch menschenleer waren: Kvilda/ Aussergefild im Böhmerwald und Cetiny/ Zettwing an der Grenze zu Österreich. Sie illustrierte anhand von Karten und Fotografien, wie unterschiedlich sich beide Orte entwickelten. Kvilda büßte nach 1945 seine einstige Bedeutung als Standort der Holzverarbeitungsindustrie ein und verlor viele Einwohner und Betriebe. Nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ entwickelte sich der Ort allmählich zum Touristen- Hotspot, seit 1991 gehört er zum Šumava/ Böhmerwald Nationalpark. Cetiny, wo die Menschen Viehzucht betrieben, ist heute unbewohnt.

Den letzten Vortrag „Environmental history of the High Tatras” zwischen 1918 und 1970 hielt MICHAL ĎURČO (Bratislava). Sein Projekt, das noch ganz am Anfang steht, befasst sich mit der Erschließung der Hohen Tatra durch den Menschen bis in die vom Klimawandel bestimmte Gegenwart. Die Kooperation mit und Beratung von Politik ist dabei ausdrücklich vorgesehen, sagte Durčo auf Nachfrage.

Zum Abschluss des Tages dankte die Organisatorin Pavla Šimková allen Referierenden, Teilnehmenden, ihren Kollegen und Kolleginnen und hob die geografische, zeitliche und disziplinäre Vielfalt des diesjährigen Bohemisten-Treffens hervor. Die zahlreichen Nachfragen in den lebhaften Diskussionen, die sich bei einem inoffiziellen Ausklang in einem typisch bayerischen Bräuhaus fortsetzten, beweisen das große Potenzial der vorgestellten Projekte. Es bleibt mit Spannung zu erwarten, was das 29. Bohemisten-Treffen zu bieten haben wird.

Konferenzübersicht:

Martin Schulze Wessel (München) / Jozef Korček (München) / Pavla Šimková (München): Begrüßung

Teil 1: Der Adel erfindet sich neu
Moderation: Marion Dotter

Filip Binder (Prag): Adelige Bauherren in den böhmischen Ländern, 1800-1918

Jana Luková (Bratislava): Das Phänomen des adeligen Sammelns in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Eine kulturgeschichtliche Analyse der Anfänge der Museumsaktivitäten auf dem Gebiet Ungarns

Teil 2a: Kurzvorstellung von Einrichtungen und Editionsprojekten
Moderation: Martina Niedhammer

Steffen Höhne (Weimar): Der Max-Brod-Nachlass in der Israelischen Nationalbibliothek in Jerusalem. Transkription, Digitalisierung und Edition der Tagebücher und Korrespondenz

Florian Ruttner (Prag): Die Prager Außenstelle des Collegium Carolinum

Teil 2b: Kurzvorstellung von vorliegenden Exposés
Moderation: Martina Niedhammer

Vorstellungen der einzelnen Exposés durch die anwesenden Forschenden

Teil 3: Zwischen Welten. Grenzen einschreiben, Grenzen überschreiten
Moderation: Christiane Brenner

Damian Domke (Heidelberg): Agent des Calvinismus: Amandus Polanus von Polansdorf (1561-1610) als Vermittler der reformierten Lehre in die Länder böhmischer Krone

Lena-Marie Franke (Regensburg): Berichte von Theresienstadt-Überlebenden im Kontext der frühen Shoah-Literatur – konkurrierende oder ergänzende Erzählungen?

Zuzana Augustová (Prag): (Un)Vereintes Europa? Grenzen und Grenzüberschreitungen in der deutschen und österreichischen Literatur nach 2000 und ihre Rezeption in der Tschechischen Republik

Teil 4: Landschaften im Wandel
Moderation: Pavla Šimková

Magdalena Baramová (Prag): Czech borderlands after expulsion: Two South Bohemian landscapes with a contrasting development

Michal Ďurčo (Bratislava): Environmental history of the High Tatras. The Tatras as a laboratory of modernity in tourism in the (Czecho)Slovak and European context 1918-1970

Anmerkung:
1 Siehe unter www.collegium-carolinum.de/veranstaltungen/bohemisten-treffen/28-bohemisten-treffen (26.03.2024).

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