Die „fragmentierte“ Stadt: Die Dynamik urbaner Siedlungsgefüge in der Vormoderne

Die „fragmentierte“ Stadt: Die Dynamik urbaner Siedlungsgefüge in der Vormoderne

Organisatoren
Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte, Otto-Friedrich-Universität Bamberg
Ort
Bamberg
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.10.2014 - 03.10.2014
Url der Konferenzwebsite
Von
Andreas Schenker, Bamberg Graduate School of Historical Studies, Otto-Friedrich-Universität Bamberg

In Abkehr vom „Mythos der städtischen Einheit“ (Franz-Josef Arlinghaus) betonen die Veranstalter die rechtliche, politische, administrative und soziale Zersplitterung mittelalterlicher und frühneuzeitlicher urbaner Siedlungen. Im Mittelpunkt standen dabei die Auswirkungen dieser Fragmentierung, die Abgrenzungs- und Integrationsmechanismen der unterschiedlichen Akteure sowie die Frage, ob und wie diese eine Form städtischer Einheit konstituierten. Der Workshop führte aktuelle Forschungen zu dieser Thematik zusammen. Diskutiert wurde, ob dem Typus „der Stadt“ die „fragmentierte Stadt“ entgegengestellt werden muss, ob eine solche Fragmentierung ein Wesensmerkmal der vormodernen Stadt war und ob daraus eine andere Definition folgen kann, was eigentlich eine Stadt war.

FRANZ-JOSEF ARLINGHAUS (Bielefeld) bejahte, dass die Zusammensetzung aus unterschiedlichen Fragmenten ein Strukturmerkmal der spätmittelalterlichen Stadt war. Von diesen Teilen her müsse die Stadt gefasst werden, ohne bereits von einer Einheit auszugehen. Schließlich hatten die einzelnen Gruppen im Vergleich zur modernen Stadt einen wesentlich umfassenderen Zugriff auf ihre Mitglieder, was Arlinghaus anhand der Zünfte illustrierte. Erst in einem zweiten Schritt sei die Zusammenführung der Fragmente in den Blick zu nehmen. Diese gelang zum einen durch emotionale Vergemeinschaftung, beispielsweise bei Prozessionen, zum anderen durch Integration, verstanden nach Niklas Luhmann als Begrenzung von Freiheiten. So erkläre sich etwa die für die vormoderne Stadt typische Hierarchisierung von Gruppen.

SVEN JAROS (Leipzig) stellte das mittelalterliche Lemberg als ein Beispiel für eine in ethnischer Hinsicht fragmentierte Stadt vor. Nachdem diese 1349 an das Königreich Polen gefallen war, privilegierte die Krone mit Armeniern, Juden, Ruthenen und Muslimen gezielt bestimmte Ethnien mit Autonomierechten. Anhand der überlieferten Urkunden zeigte Jaros, dass die Könige einer Gruppe umso mehr Rechte bewilligten, je größer ihre Rolle im für Lemberg zentralen Orienthandel war.

JÖRG OBERSTE (Regensburg) analysierte, welche Rolle Klöster bei der Entwicklung Paris‘ zu einer mittelalterlichen Metropole spielten. Als die Stadt im Früh- und Hochmittelalter noch verhältnismäßig klein und unbedeutend war, privilegierten die französischen Könige Klöster im Umland mit umfassenden Herrschafts- und Gerichtsbarkeitsrechten auf noch unbebautem Gebiet. Indem diese Klöster begannen, die Flächen zu erschließen, initiierten sie die eigentliche Urbanisierung Paris‘. Die Stadt wuchs so aus mehreren Stadtteilen zusammen, die zu einem großen Teil unter der Grundherrschaft von Klöstern standen. Zu einem Problem wurde diese fragmentierte Struktur erst mit dem Erstarken des Königtums seit dem späten 12. Jahrhundert, da jenes einen derart beschränkten Zugriff auf das eigene Machtzentrum nun nicht mehr hinnehmen wollte. Der daraus erwachsende Antagonismus prägte die Pariser Stadtentwicklung bis weit in die Frühe Neuzeit.

Der Vortrag von TERESA SCHRÖDER-STAPPER (Duisburg) handelte vom frühneuzeitlichen Essen, das infolge des Konkurrenzverhältnisses zwischen lutherischer Kommune und katholischem Reichsstift ebenfalls ein Konglomerat unterschiedlicher Rechts-, Gerichts- und Pfarrbezirke war. Vor diesem Hintergrund nahm Schröder-Stapper die Praktiken und Medien in den Blick, mit denen die Akteure performativ Räume besetzten und Grenzen zogen. So schrieb etwa die Äbtissin mithilfe einer jährlichen Prozession durch lutherisches Gebiet dem städtischen Raum ihren Anspruch ein. Bei solchen Performanzen orientierten sich die Akteure häufig an materiellen Grenzen wie Mauern oder Flüssen, sie konstruierten aber ebenso selbst soziale Grenzen, etwa zwischen Lutheranern und Katholiken, denen sie bestimmte Räume zuwiesen.

JONAS STEPHAN (Münster) beschäftigte sich mit dem frühneuzeitlichen London, das zwar bereits als urbane Metropole fungierte, gleichzeitig aber eine Ansammlung eigenständiger Rechts- und Siedlungsräume war. Ob und wie die Zeitgenossen dieses Konglomerat als einheitliche Stadt wahrnahmen, diskutierte Stephan anhand dreier Stadtbilder. Diese waren offensichtlich Teil von Machtdiskussionen: Abhängig vom politischen Kontext zeigten sie den königlichen Hof bei Westminster als elementaren Bestandteil der Stadt oder nur als Randerscheinung. Für eine Zeit, in der unklar war, was London eigentlich war, benannte Stephan daher das Abbilden, Kartieren und das Inszenieren mithilfe von Karten als Wege, die Stadt zu definieren.

GERHILD LANDWEHR (Bielefeld) versuchte anhand eines Vergleichs von Braunschweig und Ulm, mithilfe der Konzepte Performanz und Integration die Frage zu beantworten, wie die fragmentierte spätmittelalterliche Stadtgesellschaft es schaffte, Einheit herzustellen. Demnach konstituierte und bestätigte sich die Stadtgemeinschaft in Performanzen wie Prozessionen und Schwüren. Landwehr begriff diese Rituale nach Luhmann systemtheoretisch als strukturelle Kopplung zwischen den Teilsystemen der Stadt, die sich so in ein größeres System integrierten. Integration ist hierbei als Reduktion von Freiheitsgraden zu verstehen.

KATRIN MOELLER (Halle) präsentierte Ergebnisse aus einer Datenbank zur Bevölkerung der Stadt Halle, die sich vor allem aus Sterberegistern des 17. und 18. Jahrhunderts speist. Die Auswertung der Wohnorte zeigte einerseits, dass soziale Gemeinsamkeiten zur räumlichen Konzentration in bestimmten Stadtteilen führten, wie beispielsweise anhand von Berufs- und Einwanderergruppen zu beobachten ist. Andererseits führte auch die geografische Nähe der Nachbarschaft zu neuen Formen der sozialen Interaktion bis hin zur Vergemeinschaftung, etwa in Form von Singgemeinschaften. Diese überwanden mitunter soziale Grenzen. Moeller plädierte daher dafür, neben dem sozialen auch den geografischen Raum für das Entstehen wie für das Überwinden von Fragmentierung in den Blick zu nehmen.

PHILIP HOFFMANN-REHNITZ (Münster) zeigte am Beispiel Leipzigs, wie sich zwei für die frühneuzeitliche Stadt typische soziale und herrschaftsräumliche Grenzziehungen vermischten. Das der Kommune unterstehende und von dieser unterstützte zünftische Handwerk fühlte sich von außerzünftischen, als irreguläre „Störer“ angesehenen Universitätshandwerkern bedroht. Die daraus resultierenden Auseinandersetzungen, insbesondere bei Versuchen der Stadt, ihr Visitationsrecht im rechtlich exemten Universitätsbereich durchzusetzen, intensivierten sich in Krisenzeiten wie dem Dreißigjährigen Krieg. Sie zeigen, wie die städtische Fragmentierung in einen sozialen Kontext eingebunden war und sozial wirksam werden konnte.

STEPHAN SANDER-FAES (Zürich) versuchte, eine Theorie für die fragmentierte Stadt der frühen Neuzeit zu entwerfen, indem er aus dem von der neueren Forschung ausgearbeiteten Modell des „zusammengesetzten Staates“ das Modell der „zusammengesetzten Stadt“ ableitete. Dieser Ansatz fasst die Stadt als konstruierte Einheit auf, die aus mehreren Lokalitäten und Sublokalitäten bestand. Die Abgrenzung dieser Subeinheiten war fließend und vom jeweiligen Kontext abhängig. Sie konnte sich an sprachlichen, naturräumlichen, rechtlichen, sozialen oder wirtschaftlichen Merkmalen orientieren. Sander-Faes plädierte dafür, mithilfe dieses Analyserahmens auf lokaler Ebene einzelne Stadtbestandteile zu identifizieren und zu analysieren, die Ergebnisse aber in einen überregionalen Kontext einzubetten. Dies veranschaulichte er anhand eines Vergleichs der Städte Zadar (Republik Venedig) und Český Krumlov (Böhmen).

THOMAS CARHART (Freiburg) widmete sich in seinem Vortrag den Städten im Osmanischen Reich. Während sich dieses stark zentralistisch organisierte, erweisen sich seine Städte politisch, sozial und kulturell als ausgesprochen heterogen. Je nach städtischer Gesellschaftsordnung, Region und Funktion für das Reich variierte die Machtposition der städtischen Führungsschichten. Die osmanischen Städte lassen sich daher nicht auf einen Standardtypus wie die „Islamische Stadt“ reduzieren. Auch in ihrem Inneren waren sie stärker fragmentiert als mitteleuropäische Städte, da die religiöse, ethnische und kulturelle Pluralität in der Regel höher war. Carhart veranschaulichte dies anhand städtischer Stiftungen, die im Osmanischen Reich ein breites Aufgabenspektrum einnahmen, aber sehr unterschiedliche Ausprägungen aufwiesen.

CLAUDIA ESCH, JOHANNES HASSELBECK und THOMAS RUPPENSTEIN (alle Bamberg) skizzierten abschließend die Entwicklung der Bamberger Immunitäten vom Mittelalter bis zu ihrer Auflösung im 18. Jahrhundert als ein Paradebeispiel einer städtischen Fragmentierung, die über die Jahrhunderte immer wieder neu ausgehandelt wurde. Die Immunitäten, geistliche Stifte mit einem eigenen Herrschaftsbereich, waren aus dem bischöflichen wie dem kommunalen Herrschaftsverband herausgelöst, umfassten einen bedeutenden Teil des Stadtgebiets und fragmentierten dieses somit vor allem in rechtlicher und herrschaftlicher Hinsicht. Zusammen bildeten die vier Stiftsimmunitäten einen politischen Verband unter Führung des Domkapitels, während das Stadtgericht (die regionale Bezeichnung der Kommune) dem Bischof unterstand. Esch betonte jedoch, dass Stadtgericht und Immunitäten im Mittelalter dennoch durch einen gemeinsamen Wirtschaftsraum, Pfarreien, Bürgerrecht, Besteuerung und die Einbindung von Immunitätsbewohnern in gesamtkommunale Institutionen eng miteinander verschränkt waren. Erst mit wachsender Eigenständigkeit, Kompetenzaneignung und Finanzbedarf des Stadtgerichts im 15. Jahrhundert wurde diese Verschmelzung genauso konfliktträchtig wie unpraktikabel und daher durch eine verstärkte Trennung ersetzt.

Hasselbeck analysierte das Verhältnis von Stadtgericht und Immunitäten nach dem Dreißigjährigen Krieg. Die Besetzung Bambergs durch die Schweden 1632-35 bewirkte kurzfristig eine engere Kooperation der seit dem Spätmittelalter stärker separierten Bezirke, da die Kommune die Belange der Gesamtstadt in die Hand nahm, solange Bischof und Domkapitel geflüchtet waren. Nach deren Rückkehr beendeten die geistlichen Herren jedoch diese Führungsrolle, indem sie die Eintreibung kommunaler Einnahmen an landesherrliche Ämter übertrugen und sich – ohne Beteiligung des Stadtgerichts selbst – auf niedrigere Beiträge der Immunitäten zum städtischen Haushalt einigten. Damit wurden erneut wesentliche Bindungen aufgelöst, die Fragmentierung der Stadt vertieft und gesamtstädtische Belange verstärkt in landesherrliche Hände gelegt.

Ruppenstein schloss die Sektion mit seinem Vortrag über die Auflösung der Immunitäten im 18. Jahrhundert, das in kurzer Abfolge mehrere Aggregatzustände der städtischen Fragmentierung erlebte. Nachdem in den 1730er-Jahren der Streit zwischen Fürstbischof und Domkapitel um die Hoheit über die Immunitäten eskalierte, verhandelten beide Parteien das wechselseitige Verhältnis neu. 1748 einigte man sich auf eine Übergabe der Immunitäten an den Fürstbischof, wofür dieser dem Domkapitel Herrschaftsrechte auf dem Land abtrat. Reste der alten Ordnung lebten allerdings weiter, zumal der Fürst bereits 1753 den Stiften ihre eigene Gerichtsbarkeit rückübertrug. Erst die Säkularisation 1802/03 beseitigte die letzten Spuren der Bamberger Immunitäten. Ruppenstein machte damit deutlich, wie stark das Ausmaß der städtischen Fragmentierung vom übergeordneten Machtverhältnis zwischen Fürstbischof und Domkapitel abhing.

Zum Abschluss des Workshops entspann sich eine angeregte Diskussion, inwieweit der Fragmentierungsbegriff für die Erforschung mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Städte zu gebrauchen ist, ob die Stadt von Fragmenten her zu denken ist, oder ob sich ältere Begriffe wie Differenzierung besser für die Analyse eignen. Einigkeit herrschte darin, dass die urbane Vielschichtigkeit verstärkt in den Blick genommen werden müsse. Dabei verspricht gerade das Wechselspiel unterschiedlicher Ebenen, etwa religiöser, sozialer, wirtschaftlicher, rechtlicher oder herrschaftlicher Natur, neue Erkenntnisse. Vor allem die Erfahrbarkeit der Fragmentierung stellt derzeit noch ein Forschungsdesiderat dar, insbesondere die Frage, über welche diskursiven, sozialen und symbolischen Praktiken Vielfalt bewältigt und Einheit gestiftet wurde.

Konferenzübersicht:

Franz-Josef Arlinghaus (Bielefeld), Kommunale Identität oder Konglomerat eigenständiger Gruppen? Konzepte spätmittelalterlicher Stadtgesellschaften

Sven Jaros (Leipzig), In ipsorum Iure illibatos conservare. Ethnische Pluralität und rechtliche Fragmentierung im Lemberg der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts

Jörg Oberste (Regensburg), Martin auf den Feldern – Germanus auf den Wiesen: Klösterliche Grundbesitzer in Paris als Stadtteilherren

Teresa Schröder-Stapper (Duisburg), Umkämpfte Räume. Strategien der Besetzung von Raum in Stift und Stadt Essen.

Jonas Stephan (Münster), Die Bewältigung des Urbanen im Bild. Die Metropole London in Ansichten und Karten des 17. Jahrhunderts

Gerhild Landwehr (Bielefeld), Integration und Performanz. Das Problem der Einheit der okzidentalen Stadt – Braunschweig und Ulm im Vergleich

Katrin Moeller (Halle), Kolonie oder Nachbarschaft? Sozial-berufliche Segregation und Integration im Stadtraum Halles zwischen 1670 und 1820

Philip Hoffmann-Rehnitz (Münster), Wirtschaftliche Fragmentierung und Grenzkonflikte in der frühneuzeitlichen Stadt – das Beispiel der Leipziger „Universitätsstörer“

Stephan Sander-Faes (Zürich), Die zusammengesetzte Stadt in der frühen Neuzeit. Theorie – Problematik – Beispiele aus Zentraleuropa

Thomas Carhart (Freiburg), Die osmanische Stadt oder die Städte des osmanischen „Empire“: homogener Staat und heterogene Städte

Claudia Esch (Bamberg), Die Bamberger Immunitäten im Mittelalter

Johannes Hasselbeck (Bamberg), Das Verhältnis von Stadtgericht und Immunitäten in Bamberg in und nach dem Dreißigjährigen Krieg

Thomas Ruppenstein (Bamberg), „Von diesen sogenannten Immunitaeten die Gedaechtniß zu vertilgen würde ein für Bambergs Geschichte hoechst ehrenhafte Sache seyn“. Das Ende der Bamberger Immunitäten im 18. Jahrhundert