Die Geisteswissenschaften in den deutschsprachigen Feuilletons (14.11.-20.11.2007)

Von
Selge, Hans

Themen der Woche

Wehrmacht im Fernsehen

Im Deutschlandradio Kultur spricht der in Mainz lehrende Historiker Jörg Neitzel über die ZDF-Fernsehserie "Die Wehrmacht", bei der er als wissenschaftlicher Berater tätig war. Den Vorwurf, die Dokumentarserie nehme die Opfer zu wenig in den Blick, weist er zurück: "Ich glaube schon, dass wir eine sehr breite Opferforschung haben. Wenn wir mal sehen, was die Holocaustforschung geleistet hat, da haben wir sehr detaillierte Studien, die jetzt sozusagen nicht alle natürlich in diese Serie eingeflossen sind, weil es ja kein Film etwa über den Holocaust, sondern ein Film über die Wehrmacht ist, aber die Opferfrage ist eigentlich in der Forschung relativ gut aufgearbeitet worden. Das Desiderat würde ich eher darin sehen, zu sagen: Wie sah eigentlich der Alltag der Soldaten aus? Wir neigen natürlich - Historiker wie Journalisten - dazu, uns sehr stark auf die Verbrechen, auf Täter und Opfer, zu konzentrieren, aber das ist natürlich nur - so schlimm das war und so wichtig das natürlich für uns ist - ein Segment dieses Krieges, und wir müssen versuchen, auch die anderen Realitäten des Krieges darzustellen."

Deutschlandradio Kultur, 13.11.
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/695344/

Kontraproduktive Standortpolitik

Bis vor kurzem hat Stefan Plaggenborg noch Osteuropa-Geschichte in Marburg unterrichtet - jetzt hat er freudig einen Ruf nach Bochum angenommen. In der FAZ erzählt er die traurige hochschulpolitische Groteske der sinnlosen Verlagerung der Osteuropa-Geschichte von Marburg nach Gießen: "Studenten und Dozenten der osteuropäischen Geschichte müssen nach Marburg in die Bibliotheken fahren. Ein DFG-Forschungsprojekt muss in Marburg bleiben. In Gießen könnten die Mitarbeiter nur Däumchen drehen. Die vorzügliche Marburger Bibliothek der slawischen Philologie hat man nach Gießen transportiert. Dort steht sie seit über einem Jahr in Kartons und ist nicht benutzbar. Das Herder-Institut muss nun mit einer Universität kooperieren, mit der es zuvor buchstäblich nichts zu tun hatte. Heute gibt es vier Professoren der osteuropäischen Geschichte in Gießen. Die Zahl der Studenten übersteigt die ihre nicht. Im Vergleich dazu lehrte ich in Marburg ein Massenfach."

FAZ, 20.11.
http://www.faz.net/s/Rub117C535CDF414415BB243B181B8B60AE/Doc~E3823609B0A5C47C886C7D4D3E88E6C24~ATpl~Ecommon~Scontent.html

Leopoldina als Nationale Akademie

Deutschland hat eine Nationale Wissenschaftsakademie - erwählt wurde, für viele überraschend, die eher naturwissenschaftlich orientierte Leopoldina in Halle. Der Tagesspiegel informiert über mögliche Aufgaben und hat die Generalsekretärin Jutta Schnitzler-Ungefug befragt, die folgende Auskunft gibt: "Dass die Leopoldina die älteste ununterbrochen aktive Akademie der Welt ist, mit starkem naturwissenschaftlich-medizinischem Inhalt, hat ihr jetzt die Möglichkeit eröffnet, auch im internationalen Kontext die deutschen Akademien zu vertreten. Es gibt ein Bedürfnis, dass dort, wo es um konzertierte Aktionen geht, auch Deutschland mit seinem Rat vertreten sein sollte. Deswegen wird die Leopoldina auch künftig nicht alleine auftreten."
In der FAZ kann Jürgen Kaube über den avisierten Politberatungsauftrag nur spotten: "Dem Schicksal ihrer Politisierung wird auch die Leopoldina, sofern sie tatsächlich in erster Linie politikberatend tätig würde, nicht entrinnen. (...) Man wird noch bei jedem Politologen, Maschinenbauer, Biologen oder Astronomen, den man neu in die Nationale Akademie wählt, vorher testen, was er denn über Gentechnik und Atomkraft, den Klimawandel oder Sterbehilfe denkt."

Tagesspiegel, 19.11.
http://www.tagesspiegel.de/magazin/wissen/;art304,2422684 (Bericht)
http://www.tagesspiegel.de/magazin/wissen/;art304,2422648 (Interview)
FAZ, 17.11.

Bücher und Rezensionen

Für so ambitioniert wie überzeugend hält Jürgen Renn in der FAZ den Versuch des Kunsthistorikers Horst Bredekamp, am Beispiel von Galileo Galilei die "Schlüsselrolle visueller Denkformen in der Begründung der modernen Naturwissenschaft" aufzuzeigen: "Das Ziel des Buches besteht offenbar weniger darin, Kunst- und Wissenschaftsgeschichte einfach in einer übergeordneten Kulturgeschichte aufgehen zu lassen, sondern darin, etablierte Grenzziehungen in Frage zu stellen. (..) Das Buch ist klar, detailreich, umfassend auch in der Auseinandersetzung mit der Literatur zweier Fachwelten, seine Aussagen abgestützt durch ein beeindruckendes Netzwerk von Kooperationen, geradezu betörend illustriert und in jeder Hinsicht auch vom Verlag gut ausgestattet."

FAZ, 16.11.

Konferenzen und Tagungen

Tagung zum 100. Geburtstag von Thrasybulos Georgiades

In München erinnerte eine Tagung zum 100. Geburtstag von Thrasybulos Georgiades an den Musikwissenschaftler. Klaus Peter Richter stellt in der FAZ Georgiades und Theodor W. Adorno einander gegenüber: "Während Adornos Philosophie Schule machte, blieb die Münchner Schule exotisch, denn sie entsprach weder dem Zeitgeist noch den Deutungstraditionen des Faches. Ihr Kern ist das fundamentale Verhältnis von Rhythmus und Sprache, mit dem Thrasybulos Georgiades die Musikgeschichte neu beleuchtete. Während die antike Musik als untrennbare Einheit von Sprache und Klang durch die starre Quantitätsrhythmik des Altgriechischen geprägt ist, trennen sich später die Ebenen, bis in der Wiener Klassik das musikalische Geschehen gegenüber dem 'leeren Taktmetrum' ganz neue Möglichkeiten quasi sprachlicher Artikulation eröffnet."

FAZ, 14.11.

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