'Geschichten erzählen': Evolution und Literatur - Evolution der Literatur

'Geschichten erzählen': Evolution und Literatur - Evolution der Literatur

Veranstalter
Prof. Dr. Carsten Gansel Fachbereich 05 - Sprache, Literatur, Kultur Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen Otto-Behaghel-Straße 10, Philosphikum I - Haus B 35394 Gießen Carsten.Gansel@germanistik.uni-giessen.de Prof. Dr. Dirk Vanderbeke Institut für Anglistik/Amerikanistik Ernst-Abbe-Platz 8 Friedrich-Schiller-Universität Jena 07743 Jena vanderbeke@t-online.de
Veranstaltungsort
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Ort
Jena
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.05.2009 - 24.05.2009
Deadline
15.11.2008
Von
Norman Ächtler

CFP:

"'Geschichten erzählen': Evolution und Literatur -- Evolution der Literatur", Tagung vom 22. bis 24. Mai 2009 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena (Rosensäle)

Als Edward O. Wilson 1975 sein Buch /Sociobiology/ veröffentlichte, gefolgt von /On Human Nature/ (1978) und /Consilience/ (1998), reagierten die Geisteswissenschaften fast durchweg ablehnend. Inzwischen hat allerdings eine Neuorientierung eingesetzt. An die Stelle der ehemaligen Abgrenzungen zwischen den Fakultäten trat der Versuch, in einen Austausch zu treten und gemeinsame Anstrengungen bei der Lösung von Problemen zu unternehmen, und Wilsons Publikationen zählen jetzt zu den grundlegenden Werken an der Schnittstelle zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Wenn in diesem Zusammenhang ein Wissenschaftszweig im letzten Jahrzehnt einen entscheidenden Schub erhalten hat, dann sind es die Bio- und Humanwissenschaften. Neben den teilweise kontrovers diskutierten Entwicklungen in der Gen- und Hirnforschung hat besonders die Evolutionstheorie in einer Vielzahl von Wissensbereichen eigenständige Theoriebildungen in Gang gebracht. In den Wirtschaftswissenschaften hat sich eine Richtung des "Evolutionären Managements" ausgebildet, in der Philosophie ist die Rede von einer "Evolutionären Erkenntnistheorie", im Bereich der Psychologie gibt es eine "Evolutionäre Psychologie". Insofern lässt sich durchaus sagen, dass die Biowissenschaften in der Gegenwart die Rolle einer neuen Leitwissenschaft übernommen haben und ihre Erkenntnisse von großem Interesse auch für die Soziologie, die Literatur-, Sprach-, Medien- und Kommunikationswissenschaften sind. Ein Indiz für das neue Verhältnis von Geistes- und Naturwissenschaften lässt sich auch an dem Umstand ablesen, dass das Programm des Deutschen Germanistentages 2007 unter dem Thema stand: "Natur -- Kultur. Universalität und Vielfalt in Sprache, Literatur und Bildung".

In Graham Swifts Roman /Waterland /(1983) definiert ein Geschichtslehrer den Menschen als das "Geschichten erzählende Tier", und in der Tat: Geschichten begleiten uns seit der frühesten Kindheit, sie sind unabdinglicher Bestandteil aller menschlichen Kulturen. Die Frage nach der Evolution der Sprache und der Literatur bildet daher einen Bezugspunkt für verschiedene Disziplinen und wurde inzwischen in eine Reihe von Büchern und Aufsatzsammlungen vertieft. Forschungen zur menschlichen Sprachentwicklung sind auch deshalb so maßgeblich für die Literaturwissenschaft, da sie zentrale Fragestellungen berühren bis hin zu den viel diskutierten Aspekten einer Sprach-, Lese- und Medienkompetenz. Bereits 1925 hat Ernst Cassirer in seiner Schrift über "Sprache und Mythos" vermutet, dass Sprache und Mythos die Kehrseiten einer Medaille darstellen, die Herkunft des Erzählens wäre daher kein nachträgliches Phänomen, sondern der Entwicklung der Sprache gleichgestellt. Narrative Elemente finden sich tatsächlich in allen Diskursen, und sie lassen die Vermutung zu, dass es neben einer genetisch kodierten Fähigkeit zur Sprache möglicherweise auch die universelle Prädisposition gibt, die Erfahrung der Wirklichkeit in Form von Geschichten zu verarbeiten und zu vermitteln.

Die Frage nach den Bedingungen, der Herkunft und der Entwicklung dieser fundamentalen Eigenschaft, die so weite Teile des menschlichen Lebens betrifft und nicht nur neben, sondern auch in den Wissenschaften bei der Konstruktion unseres Wissens und bei der Beschreibung der Wirklichkeit wirksam wird, ist damit von vordringlichem Interesse, nicht nur für die Geisteswissenschaften sondern auch für die Biologie und die Neurowissenschaften. Die gleichermaßen rhetorische wie provokante Frage eines Literaturwissenschaftlers, "Literary Darwinism may not be wrong, but is it relevant?", lässt sich damit, vermutlich gegen die Intention des Autors, durchaus bejahen.

Neuere Forschungen zum Zusammenhang von Evolution und Kunst gehen davon aus, dass Kunst im weiten Sinne als ,menschliche Universalie' gelten kann, weil es sich bei der ,Kunstproduktion' um ein adaptives oder zumindest exaptives Merkmal der menschlichen Natur handelt. Der ethologische Blickwinkel ist vereinbar mit Auffassungen, die Kunst als "menschliche Problemlösungsaktivität" sehen und etwa den poetischen Text als einen "überkohärenten Text" bestimmen. Solche ,verschnürten und überkohärenten Texte' sind in besonderer Weise geeignet, "Überzeugungen zu thesaurieren und zu transportieren" (K. W. Eibl). Die poetischen Verfremdungen eines ,überkohärenten' Textes haben die Funktion, die "Aufmerksamkeit auf den herausgehobenen Text zu lenken" (ebd.).

Schließlich ist mit der Theorie eines angepassten Bewusstseins (,theory of mind') von einem -- durch die biologische Evolution bedingten -- fundamentalen Anteil an ,Universalien' in Hinblick auf den menschlichen Wahrnehmungsapparat auszugehen. ,Angepasst' meint ein Bewusstsein, das mit einer "reichen und komplexen Struktur angeborener Dispositionen und Entwicklungsprogramme ausgestattet ist" (Caroll). In diesem Zusammenhang lassen sich möglicherweise auch Forschungen zu den neurokognitiven Grundlagen der Ästhetik für die Literaturwissenschaft fruchtbar machen oder weisen den theoretischen und methodischen Weg, der bei künftigen Untersuchungen beschritten werden kann.

Die Aufnahme evolutionspsychologischer Überlegungen redet -- das sei explizit betont -- weder einem ,biologischen Determinismus' das Wort, noch wird die Bedeutsamkeit der Interaktion für das soziale Verhalten in Frage gestellt. Vielmehr ist eine Transdiziplinarität angestrebt, die die nach C. P. Snow inzwischen fast sprichwörtliche "Spaltung der zwei Kulturen (Natur- und Geisteswissenschaften" (S. Weigel) vermeidet und auf die Methodik der Textanalyse durchschlägt. In diesem Sinne werden hinter Variablen des Verhaltens universelle Mechanismen angenommen, biologische und kulturelle Evolution bilden eine Grundlage, auf der sich vielfältige und weit divergierende ästhetische und narrative Formen herausbilden können.

Diese grundsätzlichen Überlegungen lassen einige Problemstellungen erkennen, die von interdisziplinärem Interesse sind, wobei die Tagungsbeiträge sich nicht auf die genannten Themenkomplexe beschränken müssen:

-- Welche Rolle spielt Imagination als die Vorstellung und Annahme des nicht faktischen bei der ,Bewältigung' von Wirklichkeit, und ergibt sich aus der Fähigkeit zur Imagination ein Vorteil bei der natürlichen oder bei der sexuellen Selektion?

-- Die Regeln, die für alle biologischen Interaktionen gelten, bilden auch den Bezugsrahmen für /dargestellte Handlungen/ in der Kunst im Allgemeinen und in fiktionalen Texten im Besonderen. Figuren (characters), Schauplätze (settings), Ereignisse (events) sind daher grundlegende Kategorien aller fiktionalen Texte. Lässt sich daher analog zu einer universellen Grammatik auch eine universelle Narrativik feststellen, und wenn ja, welche Regeln und grundlegenden Formen kommen darin gegebenenfalls zum Tragen?

-- Welche Folgen können sich aus einer solchen universellen Narrativik ergeben, und lassen sich daraus erkenntnistheoretische Konsequenzen ableiten? In diesem Rahmen gewinnt möglicherweise das Phänomen an Bedeutung, dass aufeinander folgende Ereignisse häufig als Ursache/Wirkungsverhältnisse wahrgenommen werden und damit als minimale Geschichte im Sinne von E.M Forster.

-- Welche Bedingungen lassen sich auf der Seite der Rezipienten annehmen, d.h., warum erfinden wir nicht nur Geschichten, sondern empfinden auch Vergnügen, die imaginativen Erfindungen anderer erzählt zu bekommen.

-- Die Vermutung, dass fiktionale Texte, aber auch Filme in enger Übereinstimmung mit grundlegenden Strukturen eines "angepassten Bewusstseins" ausgestattet sind, lässt schließlich in Hinblick auf die Literatur- und Medienproduktion sowie auch die Literatur- und Medienrezeption die Annahme zu, dass es einen universellen Vorrang für die Empfänglichkeit ganz /bestimmter Stoffe, Motive, Schauplätze, Figuren, Themen /gibt.

-- Die bislang genannten Fragestellungen besitzen ihre Entsprechung im Bereich der Poetik. Mit anderen Worten: Sowohl die Universalität poetischer Formen als auch das ästhetische Vergnügen an poetischer Sprache eröffnen die Möglichkeit, einer evolutionstheoretischen Argumentation.

-- Ein weiterer möglicher Schwerpunkt konzentriert sich nicht auf die Evolution /der/ Literatur, sondern auf die Evolution /in/ der Literatur. Mit Richard Dawkins Konzept der Meme ist ein Ansatz fixiert, bei dem Informationen als Replikatoren verstanden werden, die sich analog zu biologischen Wesen fortpflanzen und entwickeln können und dabei dem Prinzip von Kontinuität wie Mutation folgen. Damit lassen sich möglicherweise auch literarische Entwicklungen in der Dialektik von Tradition und Innovation unter Verwendung evolutionärer Modelle beschreiben und in einer Art literarischer Ökologie erfassen.

-- Auf einer anderen Ebene haben kladistische Modelle bei der Erstellung von Handschriftengenealogien Anwendung gefunden, und dieser Ansatz ließe sich möglicherweise auch in anderen größeren Rahmen, etwa bei der Untersuchung von Genreentwicklungen, einsetzen.

Der hier skizzierte Rahmen mit den ins Auge gefassten möglichen Themen wirft die Frage auf, welche theoretischen und methodischen Ansätze bei der weiteren Erforschung des Zusammenhangs von Literatur und Evolution zur Anwendung kommen können, um tragfähige und anschlussfähige Ergebnisse zu erzielen. Ein Ziel der Tagung sollte darin bestehen, die mitunter notwendig spekulativen Überlegungen bis zu einem Punkt zu bringen, von dem aus konzisere Fragestellungen möglich und entsprechende methodische Zugänge entwickelt werden können. Ein solches Vorhaben ist nur in einem intensiven interdisziplinären Dialog denkbar, für den die Tagung eine Plattform bieten soll.

Konferenzsprachen sind Deutsch und Englisch.

Anfragen sowie Anmeldungen mit einem Arbeitstitel und einem kurzen Abstract (ca. 2000 Zeichen) ergehen bitte bis zum 15. November 2008 an die Veranstalter:

Für die Veranstalter:

Prof. Dr. Carsten Gansel
Fachbereich 05 - Sprache, Literatur, Kultur
Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen
Otto-Behaghel-Straße 10, Philosphikum I - Haus B
35394 Gießen
Carsten.Gansel@germanistik.uni-giessen.de
Sekretariat: Frau Heike Müller, Tel. 0641/99-29121
Heike.Mueller@germanistik.uni-giessen.de

Prof. Dr. Dirk Vanderbeke
Institut für Anglistik/Amerikanistik
Ernst-Abbe-Platz 8
Friedrich-Schiller-Universität Jena
07743 Jena
vanderbeke@t-online.de

Programm

Kontakt

Carsten Gansel

Justus-Liebig-Universität Gießen, Institut für Germanistik,
Otto-Behaghel-Straße 10B, 35394 Gießen
0641/99-29121

carsten.gansel@germanistik.uni-giessen.de

www.uni-giessen.de/cms/fbz/fb05/germanistik/abliteratur/glm
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