Personal und Insassen von Totalen Institutionen in der Neuzeit - zwischen Konfrontation und Verflechtung

Personal und Insassen von Totalen Institutionen in der Neuzeit - zwischen Konfrontation und Verflechtung

Veranstalter
Falk Bretschneider, Centre de recherches interdisciplinaires sur l'Allemagne (UMR 8131 EHESS/CNRS) Martin Scheutz, Institut für Österreichische Geschichtsforschung/Institut für Geschichte der Universität Wien Alfred Stefan Weiß, Fachbereich Geschichtswissenschaft der Universität Salzbur
Veranstaltungsort
Wien
Ort
Wien
Land
Austria
Vom - Bis
24.09.2009 - 26.09.2009
Deadline
15.07.2008
Von
Falk Bretschneider/Paris, Martin Scheutz/Wien, Alfred Stefan Weiß/Salzburg

Call for Papers:
Personal und Insassen von Totalen Institutionen in der Neuzeit – zwischen Konfrontation und Verflechtung
Wien, 24.–26. September 2009

Eving Goffmans soziologisches Konzept der Totalen Institution (Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt/M. 1973, zuerst New York 1961) hat auch für die Untersuchung der Geschichte von Institutionen der Einschließung (Hospitäler, psychiatrische Heilanstalten, Zuchthäuser, Strafanstalten, Gefängnisse …) eine große Rolle gespielt. Zwar war seine Rezeption in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft zurückhaltender als etwa in Frankreich oder im angelsächsischen Raum. Dennoch aber sind die Grundzüge seiner Perspektive auf die inneren Verhältnisse in Institutionen der Weltabsonderung, Verwahrung, Einsperrung oder Internierung auch von deutschen Historiker/innen aufgenommen worden – nicht zuletzt, weil Goffman die Gültigkeit seiner Analyse auch für historische Institutionen wie Klöster, Kasernen oder Internierungs- und Konzentrationslager behauptete.

Goffman verstand Totale Institutionen als radikale Gegenpole zur Gesellschaft, die für ihn ein sozialer Raum spontaner Selbstverwirklichung war. Er schilderte sie als künstliche Gegen-Welten, die von unselbständigen Insassen bevölkert werden, die durch Mauern, Zäune und Tore völlig vom Rest der Gesellschaft abgesondert sind. Ihr Leben, so Goffman, ist kümmerlich, weil es allein von den vorgegebenen Vollzugsregeln der Institution organisiert wird. Totale Institutionen rauben ihren Insassen daher jede Fähigkeit zur selbst bestimmten Handlung – was sich auch im Verhältnis zwischen Insassen und Anstaltspersonal widerspiegelt. Zwischen beiden Gruppen sah Goffman eine strenge Scheidelinie eingezogen, die für ihn in «verschiedene soziale und kulturelle Welten» (19f.) mündete. Bestimmt wurde das Zusammenleben von Insassen und Personal in Totalen Institutionen für ihn also von Konfrontationen, Erniedrigungen, radikalen Reduzierungen von Handlungsoptionen auf Seiten der Insassen und einer feindlichen Haltung und Gegnerschaft zwischen ihnen und dem Personal.
Anliegen der Tagung ist es, diese Sichtweise des Zusammenlebens im institutionellen Kontext zu überprüfen und zu hinterfragen. Goffmans Analyse liegt die Vorstellung zugrunde, Insassen und Personal bildeten jeweils homogene soziale Gruppen. War dem wirklich so?

- Zu fragen wäre erstens nach den sozialen Milieus, aus denen die Menschen, die in einer Anstalt lebten, entstammten (beim Personal auch nach der Rekrutierungspraxis oder dem Ausbildungsweg). Ein genauerer Blick darauf erlaubte, sich klarer zu machen, wie Welt von den verschiedenen in der Einschließung lebenden Akteuren wahrgenommen und gedeutet wurde und an welchen soziokultureller Logiken sich diese Wahrnehmungen, Deutungen, aber auch das aus ihnen folgende Handeln bemaß.

- Ein zweiter Fragekomplex beträfe das Miteinander im Anstaltskontext: Wie waren die Aufgaben in der Anstalt verteilt? Bestand zwischen Insassen und Personal tatsächlich eine strenge Scheidelinie oder überschritt das Leben von Insassen und Personal – wie dies einige Arbeiten zur Geschichte der frühmodernen Zuchthäuser vermuten lassen – nicht immer wieder klare soziale und funktionale Rollenzuschreibungen, etwa indem Insassen zu Tätigkeiten herangezogen wurden, die sich mit denen des Personals überschnitten, sodass sich letztlich nicht einmal immer präzise zwischen beiden Kategorien unterscheiden ließe? Waren, überspitzt formuliert, die Insassen also das Personal totaler Institutionen?

- In den Blick zu nehmen wären drittens auch die räumlichen Strukturen der verschiedenen Anstalten und ihre Schaffung bzw. Verfestigung durch das Handeln der Akteure. Dabei ginge es nicht nur um die räumliche Konstituierung institutioneller Ordnungsarrangements (also Grundrisse, Raumnutzungskonzepte etwa beim Garten, Ausstattungsdifferenzen von Räumlichkeiten usw.), sondern auch um den Umgang, die Aneignung, die Zurückweisung oder Umfunktionierung dieser Räume durch Personal und Insassen.

- Schließlich wäre viertens danach zu fragen, ob das Bild einer permanenten Konfrontation zwischen Insassen und Personal der historischen Realität entspricht. Waren die Handlungsräume von Insassen und Personal tatsächlich derartig getrennt, wie es Goffman unterstellte? Oder lassen sich nicht vielmehr zahlreiche Verflechtungen, Abhängigkeiten und Interdependenzen feststellen, wie sie eher dem Bild entsprechen, das Norbert Elias vom Zusammenleben im institutionellen Kontext gezeichnet hat?

Konzeptionell wären einer Analyse der sozialen Beziehungen zwischen Insassen und Personal in den Institutionen der Einschließung (und natürlich ihrem historischen Wandel) weitere Frage zugrunde zu legen: Ist der Rahmen des Handelns in der Anstalt mit traditionellen Konzepten von Disziplinierung, Herrschaft und Normdurchsetzung adäquat erfasst? Oder muss nicht eine relationale Konzeption von Macht zugrunde gelegt werden, wie sie Elias und auch Michel Foucault vorgeschlagen haben? Macht wurde von ihnen als jeder sozialen Beziehung inhärent angesehen und nicht als eine Frage des Besitzes aufgefasst. Sie manifestiert sich in menschlichen Interaktions- und Kommunikationsprozessen und begründet bewegliche Ensembles von Kräfteverhältnissen, die zwar oftmals asymmetrisch sind, niemals jedoch alle Machtchancen allein auf einer Seite konzentrieren. Waren die Institutionen der Einschließung also nur Orte der Konfrontation, des Zwangs und der Unterdrückung oder von vernetzten Akteuren belebte Felder sozialen Handelns, auf denen unterschiedliche Machtansprüche artikuliert und durch die Aktivierung ungleich verteilter materieller, sozialer und symbolischer Ressourcen in Geltung gesetzt und verstetigt wurden?

Schließlich sollte der Blick nicht nur auf das gerichtet werden, was Insassen und Personal trennte, sondern auch auf das, was sie miteinander verband : Möglichkeiten der Aushandlung und des Transfers in sozialen Beziehungsgeflechten, in denen sich Menschen orientieren mussten, um ihre Handlungsoptionen auszuleuchten und schließlich zu realisieren. Zu fragen wäre deshalb auch nach eigensinnigen Aneignungen oder Transformationen von Regeln und Strukturen sowohl auf Seiten der Insassen wie des Personals, nach der Aktivierung institutioneller Ressourcen, nach der Rolle von Akzeptanz für das geordnete Zusammenleben oder nach geteilten Werten und Identitäten.

Die Tagung lädt dazu ein, am Beispiel ganz unterschiedlicher Institutionen der Einschließung (Klöster, Hospitäler, Zuchthäuser, Gefängnisse …) über diese Fragen nachzudenken und sie gemeinsam zu diskutieren.

Als Lesetipp: Martin Scheutz (Hg.), Totale Institutionen = Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 8/1 (2008), 198 S.
Vortragsvorschläge sollten bis zum 15. Juli 2008 eingegangen sein, damit eine Programmerstellung möglich ist.
Vorschläge sind an folgende Adressen zu übermitteln:
Falk Bretschneider, Centre de recherches interdisciplinaires sur l'Allemagne (UMR 8131 EHESS/CNRS), bretschn@ehess.fr
Martin Scheutz, Institut für Österreichische Geschichtsforschung/Institut für Geschichte der Universität Wien, martin.scheutz@univie.ac.at
Alfred Stefan Weiß, Fachbereich Geschichtswissenschaft der Universität Salzburg, Alfred.Weiss@sbg.ac.at

Programm

Kontakt

http://www.univie.ac.at/Geschichte/htdocs/site/arti.php/90230
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