Die religiösen und konfessionellen Prozesse im Baltikum während des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit

Die religiösen und konfessionellen Prozesse im Baltikum während des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit

Veranstalter
Prof. Dr. Ojars Sparitis, Riga Prof. Dr. Anton Schindling, Tübingen Prof. Dr. Werner Buchholz, Greifswald
Veranstaltungsort
Ort
Riga
Land
Latvia
Vom - Bis
03.04.2008 - 04.04.2008
Deadline
20.03.2008
Website
Von
Prof. Dr. Werner Buchholz, Greifswald

Ziel des quattrolateralen Symposions (Deutschland, Lettland, Estland, Schweden, ist es, mit Kennern der baltischen Kunst-, Literatur-, Sprach-, Kirchen- und Religionsgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts in ein wissenschaftliches Gespräch über die Vergleichbarkeit oder Nichtvergleichbarkeit jener Phänomene zu kommen, die in der neueren deutschsprachigen Forschung mit den Leitbegriffen der „Konfessionsbildung“ und „Konfessionalisierung“ beschrieben werden. Mit einem solchen vergleichenden Gedankenaustausch hat die von dem Unterzeichneten koordinierte Forschergruppe gerade eben begonnen. Eine entsprechende Tagung mit estnischen Fachleuten fand vom 22. bis 27.11.2006 in Tallinn statt und wurde von der DFG gefördert (s. Tagungsbericht zum GZ: 436 EST 121/1/06).
Es ist zu beobachten, daß das angesprochene Themenfeld in den baltischen Ländern auf lebhaftes Interesse stößt. In der ehemaligen Sowjetunion, zu der die baltischen Staaten bis 1990 gehörten, wurde die Beschäftigung mit Gegenständen der Kirchengeschichte nicht gefördert. Darüber hinaus hat sich auch die deutschsprachige Forschung nur noch wenig mit baltischer Kirchengeschichte befaßt.
In den Vorträgen der deutschen Teilnehmer an dem bilateralen Symposion in Riga soll – in Weiterführung der Veranstaltung in Tallinn – eine Bilanz der Forschung aus den zurückliegenden Jahrzehnten zu Fragen der Reformation, Konfessionsbildung und Konfessionalisierung gezogen werden. Maßgebende Kirchen- und Profanhistoriker, wie Bernd Moeller, Ernst Walter Zeeden, Volker Press, Peter Blickle, Heinz Schilling und Wolfgang Reinhard, haben der Geschichtsschreibung neue Perspektiven eröffnet, neue Forschungsleitbegriffe und Erklärungsparadigmen formuliert. Im westlichen Ausland, vor allem im angloamerikanischen Raum, haben diese Ansätze aus der deutschsprachigen Historiographie starke Beachtung gefunden und sind inzwischen vielfach rezipiert worden. Wenn das dem Englischen fremde Wort „Konfessionalisierung“ heute für englischsprachige Frühneuzeithistoriker ebenfalls einen Leitbegriff darstellt, so beweist dies die Fruchtbarkeit der deutschen Forschungsdiskussion.
Ein theoretisches Konzept zur Darstellung der Konfessionalisierungsprozesse haben, aufbauend auf den Tübinger Historiker Ernst Walter Zeeden, vor allem Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling entwickelt, die von dem „Konfessionalisierungsparadigma“ als einer Grundkategorie in der frühneuzeitlichen, vormodernen Geschichte Europas sprechen. Sie beziehen in ihr differenziertes Erklärungsmodell sowohl die politischen und sozialen Rahmenbedingungen als auch die kulturellen Auswirkungen der Entstehung der Konfessionen und der Konfessionalisierung von Staat und Gesellschaft ein. Konsequent wird die vergleichende Betrachtung der drei Konfessionen Katholizismus, Luthertum und Calvinismus gefordert.
Für die Geschichte der Territorien und Städte im Heiligen Römischen Reich bietet die parallele und vergleichende Betrachtung der Konfessionalisierungsprozesse zahlreiche neue Einsichten und hat inzwischen ganz entscheidend dazu beigetragen, die älteren, territorial und vor allem konfessionell eng geführten Sichtweisen in der deutschen Historiographie zu überwinden. Das bis in die Gegenwart noch nachwirkende kleindeutsch-preußisch-protestantische Modell der deutschen Nationalgeschichte aus dem 19. Jahrhundert hat heute in der geschichtswissenschaftlichen Reformations- und Konfessionsgeschichte sowie in der Diskussion unter Frühneuzeithistorikern nicht zuletzt dank der intensiven Konfessionalisierungsdiskussion erheblich an Bedeutung verloren.
Die Leitkategorien von Konfessionsbildung und Konfessionalisierung sind am Beispiel des deutschen Territorialstaates entwickelt worden. Ihre europäische Vergleichbarkeit wurde freilich in den Arbeiten von Ernst Walter Zeeden, Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling ebenfalls immer wieder thematisiert. In dem Band von MATTHIAS ASCHE/ANTON SCHINDLING (Hrsg.), Dänemark, Norwegen und Schweden im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Nordische Königreiche und Konfession 1500 bis 1660 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung, Bd. 62), Münster 2003, wurde die Geschichte der skandinavischen Königreiche unter diesen Gesichtspunkten behandelt. Es ist insgesamt unstrittig, daß die Kategorien von Konfessionsbildung und Konfessionalisierung im Raume des lateinischen, abendländischen Europa angewendet werden können, aus dessen mittelalterlicher, vom Papsttum geprägten Kirche sowohl die Reformation und die protestantischen Konfessionen als auch die katholische Reform und Gegenreformation erwuchsen. Freilich wird die vergleichende Forschung noch zu weitergehenden regionalen und nationalen Differenzierungen über die Konfessionsgrenzen hinweg, aber auch innerhalb der Konfessionsräume kommen müssen, denn zwischen Katholiken in Lettland (Lettgallen) und Bayern dürften sich ebenso Unterschiede ausgeprägt haben wie etwa zwischen württembergischen und lettischen Lutheranern.
Die Konfessionskirchen seit dem 16. Jahrhundert blieben zumindest durch ihre gemeinsame Herkunft vergleichbar, auch wenn sie das gemeinsame Erbe, etwa die scholastische theologische und philosophische Wissenschaft, unterschiedlich auslegten. Ein Grundzug abendländischer Rationalisierung in der „Entzauberung der Welt“ (Max Weber) blieb den Konfessionen des westlichen Christentums eigen. Dies wird gerade im Baltikum an der Grenze zur ostkirchlichen Orthodoxie deutlich.
Die hier interessierenden Entwicklungen wurden anlässlich einer Tagung in Tallinn im Jahre 2006 mit einer Fokussierung auf Estland behandelt. In Riga sollen die entsprechenden Fragen jetzt mit Blick auf Lettland thematisiert werden. Da in der deutschsprachigen Literatur nach wie vor die baltendeutschen Interpretationsmuster dominieren, ist es für ein neu zu erarbeitendes Gesamtbild von großer Bedeutung, sowohl die estnische als auch die lettische Perspektive in die Darstellung der Geschichte von Reformation und Konfessionalisierung in den baltischen Ländern zu integrieren. Bei der Konferenz in Riga soll insbesondere auch auf die Sonderstellung des Herzogtums Kurland und des noch lange Zeit polnisch-litauischen Lettgallen eingegangen werden.
Die baltischen Länder wurden am Beginn der Neuzeit durch Reformation und Konfessionalisierung tief geprägt. Obwohl die Entwicklung im Baltikum manche Parallelen zum Heiligen Römischen Reich deutscher Nation aufweist, sind diese in der deutschsprachigen Forschung jedoch nur wenig bekannt. Es ist geplant, durch ein dreibändiges Sammelwerk, das in den Jahren 2009, 2010 und 2011 erscheinen soll, die entsprechenden Phänomene in den baltischen Ländern auf dem neuesten Forschungsstand darzustellen. Zur Vorbereitung dieses Sammelwerks hat der Unterzeichnete bereits drei internationale und interdisziplinäre Arbeitstagungen an der Universität Greifswald durchgeführt, die von der DFG gefördert wurden. Hinzu kommt die bilaterale Tagung mit estnischen Wissenschaftlern in Tallinn im November 2006. Die Programme dieser insgesamt vier Arbeitstagungen liegen diesem Antrag bei, ebenso die vier Berichte für die DFG.
Das projektierte Symposion in Riga schließt an die vier bisherigen Arbeitstagungen in Greifswald und Tallinn an und dient gleichfalls der Vorbereitung des dreibändigen Sammelwerks. Darin sollen die religiösen Entwicklungen im Baltikum im Kontext der politischen und der Gesellschaftsgeschichte vom Vorabend der Reformation über die Zeit der Nordischen Kriege, der Konfessionalisierung und der schwedischen Herrschaft bis zur russischen Eroberung am Beginn des 18. Jahrhunderts beleuchtet werden.
Neben den kirchengeschichtlichen Fragestellungen sollen Probleme der Bildungsgeschichte, der Sprachgeschichte, der Literaturgeschichte und der Kunstgeschichte behandelt werden. Eine solche interdisziplinäre Sicht auf die baltische Kirchengeschichte ist noch nie unternommen worden und stellt auch für die lettische und estnische Forschung eine Innovation dar. Der intensive Austausch zwischen baltischen und deutschen Experten für das 16. und 17. Jahrhundert führt durch Diskussion der modernen Fragestellungen auf der Grundlage empirischer Quellenkenntnisse zu Einsichten, die über die bisherige Literatur deutlich hinausführen. Eine wichtige Zielsetzung der Zusammenarbeit ist die Überwindung nationaler Perspektiven – seien es lettische, estnische oder baltendeutsche – bei der Behandlung der kirchen- und kulturgeschichtlichen Entwicklungen der Frühen Neuzeit; angestrebt wird vielmehr eine vergleichende Sicht mit Blick auf den gesamten Ostseeraum und Mitteleuropa.
Die Einbeziehung von Sprach-, Literatur- und Kunstgeschichte soll die Analyse der Multidimensionalität von Reformation und Konfessionalisierung auf eine breite interdisziplinäre Basis stellen. Dieser Ansatz ist auch in der deutschsprachigen Forschungsliteratur noch keineswegs selbstverständlich und kann methodisch über das Beispiel der baltischen Länder hinaus fruchtbare Anregungen vermitteln.
Im Vergleich zu den Territorien und Städten des Heiligen Römischen Reiches ergeben sich in den baltischen Ländern chronologische Verschiebungen, die sowohl erstaunlich frühe wie auch verspätete Entwicklungen erkennen lassen. Dadurch stellen sich interessante Fragen zu den Zusammenhängen der gemeinsamen europäischen Geschichte. Beispiele dafür sind etwa das Fortwirken naturreligiöser Vorstellungen in der ländlichen Bevölkerung, die Phänomene der städtischen Reformation, die lutherische Konfessionalisierung im schwedischen Reich, das städtische Gelehrtenschulwesen und die Universität Dorpat, die Ausbildung eines Elementarschulwesens im 17. Jahrhundert und die Entstehung nationalsprachlicher Literaturen im Gegeneinander von Reformation und Gegenreformation. Im Sinne der neueren Konfessionalisierungsforschung werden Reformation und Entstehung der Konfessionen nicht als punktuelle Ereignisse, sondern als langfristige Fundamentalprozesse verstanden, welche auch die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen einschließen.

Programm

Donnerstag, 3. April 2008
Vormittag: 08.30 —12.30 Uhr
08.30—08.45 Uhr
Seine Exzellenz Eberhard Schuppius, Botschafter der
Bundesrepublik Deutschland in Lettland
Grußwort

08.45—09.00 Uhr
Prof. Dr. Ojars Sparitis, Riga
Prof. Dr. Anton Schindling, Tübingen
Begrüßung und Einführung

Moderation: Prof. Dr. Werner Buchholz, Greifswald
09.00—09.30 Uhr
Dr. Valda Klava, Riga
Fragen der livländischen Reformation. Zum Forschungsstand der lettischen Geschichtswissenschaft

09.45—10.15 Uhr
Dr. Andris Levans, Riga
Die protestantische Wende in der städtischen Historiographie Livlands. Zur Geschichts- und Erinnerungskultur in Riga im 16. und 17. Jahrhundert

10.30—10.45 Uhr Pause

10.45—11.15 Uhr
Dr. Vitolds Muizniecks, Riga
Die Volksreligion nach dem archäologischen Fundmaterial und den schriftlichen Quellen des 15. bis 17. Jahrhunderts

11.30—12.00 Uhr
Dr. Andris Priede, Riga
Die Gegenreformation in Livland aus der Sicht von katholischen Geistlichen

12.15—12.45 Uhr
Dr. Gustav Strenga, Riga
Communities against the Friars. Expulsion of the Dominicans and Franciscans from Riga and Tallinn

13.00—14.15 Uhr Mittagspause

Nachmittag: 14.15—17.35 Uhr
Moderation: Prof. Dr. Anton Schindling, Tübingen
14.15—14.45 Uhr
Prof. Dr. Enn Tarvel, Tallinn
Die russische Kirchenpolitik im okkupierten Livland im 16. Jahrhundert

15.00—15.30 Uhr
Prof. Dr. Peteris Vanags, Riga
Die Kirche und die Sprachen im livländischen Teil Lettlands

15.45—16.05 Uhr Pause

16.05—16.35 Uhr
Dr. Marite Jakovleva, Riga
Zwischen Polen und Preußen: Die Lage der Kirche im Herzogtum Kurland, besonders in der Region Pilten

16.50-17.20 Uhr
Dr. Martin Klöker
Geistliche und humanistische Literatur im Umkreis des herzoglich-kurländischen Hofes in Mitau 1500—1700

19.00 Uhr Öffentlicher Vortrag
Prof. Dr. Dr. Klaus Garber, Osnabrück
Zur Überlieferung kulturhistorischer Quellen im baltischen Raum

Freitag, 4. April 2008
Vormittag: 08.30 — 12.30 Uhr
Moderation: Prof. Dr. Peteris Vanags, Riga
08.30―09.00 Uhr
Prof. Dr. Ojars Sparitis, Riga
St. Trinitatis zu Mitau – ein frühes Beispiel für den protestantischen Pfarrkirchenbau

09.15—09.45 Uhr
Prof. Dr. Darius Petkunas, Wilnius
Die lutherische Reformation in Litauen

10.00—10.30 Uhr
Prof. Dr. Werner Buchholz, Greifswald
Volksfrömmigkeit und Kirchenjahr im reformatorischen Wandel in Mittel- und Nordeuropa
10.45—11.15 Pause

11.15—11.45 Uhr
Per Stobæus, fil. mag, teol. kand, Lund
Hans Brask – die politische und religiöse Weltsicht des letzten katholischen Bischofs von Linköping

12.00-12.30 Uhr
Dr. Norbert Buske, Greifswald
Johannes Bugenhagen. Die Schmuckrahmen der von ihm zum Druck gegebenen Abhandlungen

12.45-14.15 Uhr Mittagspause

Nachmittag 14.15-18.15 Uhr
Moderation: Prof. Dr. Ojars Sparitis, Riga
14.15-14.45 Uhr
Prof. Dr. Krista Kodres, Tallinn
Bild und Wort in den Kirchen Estlands vom 16. bis zum 18. Jahrhundert

15.00-15.30 Uhr
Prof. Dr. Aleksander Loit, Uppsala
Die aktive Teilnahme der estnischen Bauern am Gemeindeleben als Folge der Reformation

15.45-16.15 Uhr Pause

16.15-16.45 Uhr
Prof. Dr. Raimo Raag, Uppsala
Volksglaube und Bräuche in Estland im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung

17.00-17.30 Uhr
Prof. Dr. Matthias Asche, Tübingen
Greifswald – eine Universität für den Ostseeraum?

17.45-18.15 Uhr
Magnus von Hirschheydt, Tübingen
Ein Koadjutor als Feldherr – Wilhelm von Brandenburg-Ansbach und die Öselsche Bischofsfehde

18.30-19.00 Uhr
Prof. Dr. Anton Schindling, Tübingen
Zusammenfassung und Schlußdiskussion

Kontakt

Prof. Dr. Werner Buchholz
Universität Greifswald
Historisches Institut
Domstr. 9 a
17487 Greifswald


Redaktion
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Sprach(en) der Veranstaltung
Deutsch
Sprache der Ankündigung