2. Tagung im Rahmen der Trogener Bibliotheksgespräche
Im Zuge des germanistischen Forschungsparadigmas einer literarischen Anthropologie seit Schings und Pfotenhauer sind im Hinblick auf das 18. Jahrhundert insbesondere die philosophischen und vernünftigen Ärzte der Aufklärung in den Fokus zahlreicher Forschungsanstrengungen geraten. Die Konzen-tration auf die komplexen Austauschprozesse zwischen Literatur und Gelehrsamkeit hat methodisch dazu geführt, daß der seit Dilthey und Snow (insbes. im deutschsprachigen Raum) zementiert scheinende Hiatus zwischen zwei Kulturen – der ›Natur‹wissenschaften auf der einen, der ›Geistes‹wissenschaften auf der anderen Seite – sowohl auf Gegenstands- als auch auf Forscherseite überbrückt worden ist und zahlreiche interdisziplinäre Forschungsaktivitäten gerade in der 18.-Jahrhundert-Forschung, in der weiter Literatur-begriff und fächerübergreifende Forschungsaktivitäten seit jeher verbreitet waren, hervorgebracht haben. Die Forschungstätigkeit im Umfeld des 1997 gegründeten Jahrbuchs Scientia Poetica sei exemplarisch genannt.
Die methodische Zusammenführung von Wissenschaft und Literatur im Rahmen des Paradigmas der literarischen Anthropologie hat auch im Blick auf jene Autoren innovativ gewirkt, die in ihrer Doppelbega-bung als Mediziner und Schriftsteller zwar stets germanistisches Interesse auf sich gezogen haben – nament-lich natürlich der Frühaufklärer Haller und der Spätaufklärer Schiller –, jedoch hat die systematische Kontex-tualisierung der literarischen Werke in medizinischen, anthropologischen und naturwissenschaftlichen Zu-sammenhängen ganz neue Dimensionen eröffnet und zur Neubewertung der Literaturfunktion im 18. Jahr-hundert geführt, denkt man etwa an Wolfram Mausers Engführung von Literatur und Lebensführung, d.h. die Diät im Rahmen der medizinischen sex res non naturales, für die therapeutische Funktion von Dichtung und Ästhetik in der Früh- und Hochaufklärung (z.B. Anakreontik, Rokokoliteratur u.ä.) sowie an Wolfgang Riedels anthropologisch-medizinische Neubewertung des Werks des Arztes Schiller. Auch andere ›schrei-bende Ärzte‹ des 18. Jahrhunderts sind innerhalb dieses Forschungsparadigmas erneut bzw. erstmalig lite-raturwissenschaftlich gewürdigt worden, z.B. Zimmermann, Unzer, Krüger oder Platner.
In dieser ›Forschungslandschaft‹ nun soll der Appenzeller Arzt Laurenz Zellweger (1692-1764) positioniert werden. Zellweger, der zunächst Medizin in Zürich bei Scheuchzer studierte, an dessen Alpen-reise 1709 er teilnahm, und anschließend – wie z.B. Hoffmann und Haller, die beiden bedeutendsten Medi-ziner der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum – bei Boerhaave in Leiden promo-viert wurde, gehörte seit 1721 der ›Gesellschaft der Mahler‹ an, publizierte in deren Diskursen (z.B. ›Über die Verschiedenheit der Menschen‹) und fungierte ab den 40er Jahren als kultureller Katalysator im Bodmer/Breitinger-Kreis, insofern der als »Philokles« geachtete ›vernünftige Arzt‹ regelmäßig, u.a. Sulzer, Geßner, Hirzel, Klopstock oder Wieland, im Sommer zur ›Molkenkur‹ in seine ›förende Hütte‹ ins Appen-zell einlud. Diese Daten sind bisher mehr oder weniger als kulturhistorische Curiosa bekannt gewesen, es kommt aber darauf an, das organisierende an¬thro¬po¬lo¬gi¬sche Muster zu erkennen, in das medizinische Aus-bildung, kulturanthropologisches Publikationsinteresse und aufklärerische Geselligkeitskultur signifikant zusammenschießen.
Die Tagung soll in exemplarischen Fallstudien den lebensweltlichen Zusammenhang, in dem Medizin, Gelehrsamkeit, Literatur, Kunst und Lebensführung im 18. Jahrhundert aufeinander bezogen waren, im interdisziplinären Gespräch zusammenbringen und dadurch Perspektiven für die weitere wissen-schaftliche Forschung an den einschlägigen, z.T. auf Laurenz Zellweger zurückgehenden Beständen der Trogener Kantonsbibliothek aus dem 18. Jahrhundert sowie den beachtlichen, Laurenz Zellweger und seinen Freundeskreis betreffenden Autographenbestand in Trogen bzw. die in anderen Sammlungen (wie z.B. der Zentralbibliothek Zürich) erhaltenen Korrespondenzteile eröffnen.
Format: Es sind drei Sektionen bzw. Themenblöcke sowie ein öffentlicher Eröffnungsvortrag und eine öffentliche Abendveranstaltung mit Lesung und musikalischer Begleitung vorgesehen. Die Themenblöcke betreffen:
(1) Medizin und Wissenschaft
(2) Medizin und schöne Künste
(3) Medizin und schöne Literatur
Für den Eröffnungsvortrag sind 50-60 Minuten, für die Sektionsvorträge 25-30 Minuten plus 15 Minuten Diskussion eingeplant. Die Drucklegung der Tagungsakten ist geplant.
Zur Wahl des Tagungsortes: Der ostschweizerische Ort selbst, dessen außergewöhnliche Architektur noch heute eindrucksvoll seine Bedeutung im 18. Jahrhundert als Sitz der mächtigen Textilfabrikanten-Dynastie Zellweger belegt, sowie seine geographische Nähe zu Österreich, Deutschland und Frankreich legen Grenz-gänge und -über¬schrei¬tungen – auch im wissenschaftlichen Bereich – nahe. Namentlich die in der Kantons-bibliothek Trogen überlieferten, außerordentlich reichhaltigen Bestände aus dem 18. und frühen 19. Jahr-hundert, deren Grundstock u.a. die Bibliothek Laurenz Zellwegers bildet, laden zu fächer¬über¬grei¬fen¬den Studien förmlich ein. Der Wunsch, den gewachsenen historischen Bestand aus interdisziplinärem Blick-winkel stärker als bisher zu erschließen, führte zum Entschluß, eine Folge von Tagungen in den Räumlich-keiten der Kantonsbibliothek unter dem Titel Trogener Bibliotheksgespräche zu initiieren, deren einzelne Veranstaltungen in etwa zweijährigem Abstand geplant sind. Das 1. Trogener Bibliotheksgespräch fand am 1.-3. Juni 2005 zum Thema Der Kanon im Zeitalter der Aufklärung statt. Die Tagungsakten befinden sich augenblicklich in Drucklegung.
Bei diesen Überlegungen wurde nicht zuletzt dem Umstand Rechnung getragen, daß der Kantons-bibliothek Trogen eine besondere Verantwortung im Hinblick auf die wissenschaftliche Auswertung der in Appenzell A.Rh. überlieferten Quellen und alten Drucke zukommt, weil der Kanton nicht über eine Uni-versität und somit auch nicht über eine direkte Anbindung an wissenschaftliche Institutionen verfügt. Dieser Sachverhalt soll durch die enge Kooperation mit den germanistischen Instituten der Universitäten Bern und Bochum kompensiert werden. Eine durch impulsgebende Tagungen forcierte wissenschaftliche Erschließung soll dabei die herausragende Bedeutung der Appenzeller Bestände in angemessenem Umfang hervorheben helfen und läßt sich daher nicht zuletzt auch als ein nationales schweizerisches Anliegen bewerten.
Die Trogener Bibliotheksgespräche sollen den organisatorischen Rahmen für eine gezielte, bestandsnahe und insgesamt vornehmlich quellenorientierte Erschließung bieten, die dieses Vorhaben aber nicht als Selbstzweck verstanden wissen will, sondern als eigenständigen Beitrag zu den aktuellen wissen-schaftlichen Diskussionen, insbesondere auf dem Sektor der Aufklärungsforschung.