Räume des Subjekts um 1800. Zur imaginativen Selbstverortung des Individuums zwischen Spätaufklärung und Romantik.

Räume des Subjekts um 1800. Zur imaginativen Selbstverortung des Individuums zwischen Spätaufklärung und Romantik.

Veranstalter
Dr. Jörn Steigerwald Prof. Rudolf Behrens Romanisches Seminar Ruhr-Universität Bochum 44780 Bochum
Veranstaltungsort
Ruhr-Universität Bochum, Sitzungssaal der Fakultät für Philologie GB 5 / 160
Ort
Bochum
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.05.2007 - 19.05.2007
Website
Von
Dr. Jörn Steigerwald Ruhr-Universität Bochum / Universität zu Köln

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts finden sich in verschiedensten literarischen Gattungen textliche Konfigurationen, in denen sich ein Subjekt durch die Verortung im Raum selbst zu vergewissern sucht. Meist geschieht dies dadurch, dass sich die Erzählstimme eine Position im Raum zuweist oder eine Bewegung im Raum durchläuft, um sich über Koordinaten eines wahlweise topographisch erfassten oder subjektiv erlebten Raums zu verorten und damit vor allem seiner selbst in Raum und Zeit habhaft zu werden. Innerhalb dieser Strategien lassen sich zwei Modi der Selbsterfahrung des Subjekts unterscheiden: Zum einen besetzt das Individuum den vor Augen stehenden Raum direkt, indem es ihn semantisch auflädt und sich im präsenten Raum quasi phänomenologisch selbst als Ursprung der Anschauung apperzeptiv mit wahrnimmt, wie dies u.a. bei Rousseau, Chateaubriand oder Eichendorff mit unterschiedlichen Akzentsetzungen der Fall ist. Zum anderen kann das sich individuierende Subjekt sich imaginativ mit anderen, abwesenden Räumen vernetzen, um sich in einer Art doppelter Verräumlichung seiner selbst zu versichern; sei es in elegischer Distanz zur klassischen Antike, wie z.B. bei Goethe, Hölderlin oder Mme de Staël, sei es in bewusst gewählter Abgeschiedenheit zu den als degeneriert geltenden Zentren der Zivilisation, wie bei Bernardin de Saint-Pierre oder Senancour. In beiden Fällen ist es das Vermögen der Imagination, aber auch dasjenige der Memoria, das dem Subjekt erlaubt, in Räumlichkeiten vorzustoßen, die tendenziell eine Art ‚Gegenraum’ zum unmittelbar angeschauten Raum bilden. Gleichzeitig ermöglicht dieses imaginative Transgredieren der unmittelbaren räumlichen Umgebungen, diese als Ort des wahrnehmenden Subjekt überhaupt erst zu konstituieren.
Diese literarische Neuorientierung des Subjekts im Raum um 1800 scheint interessanterweise zeitgleich zu einer ‚phänomenologischen’ Ausrichtung der zeitgenössischen Imaginationstheorien zu verlaufen. So fokussieren entscheidende Theoretisierungen der Imagination die Beschreibung umständebedingter Faktoren ihres Funktionierens und nehmen dementsprechend ihren Ausgangspunkt von der Wahrnehmung bestimmter, für den Imaginationsverlauf je spezifischer räumlicher Umgebungen (etwa bei Diderot, J.-H. Meister, Bonstetten oder Jean Paul). Damit steht diese Neuausrichtung des Subjekts historisch gesehen am Übergang von einer diskursiv repräsentationslogisch konditionierten Literatur, die das Subjekt in den Rastern diskursiver Darstellungen aufgehen lässt, zu einer romantischen, historisch tiefendimensionierten Literatur, in der sich das Subjekt selbst gegenüber seinen diskursiven Artikulationen zur Abhebung bringt. Dabei zeigt sich, dass die Schreibweisen, mit denen sich das Subjekt textuell im angeschauten oder imaginierten Raum modelliert, an spezifische Formen der Artikulation, mithin an Subjekttechnologien gebunden sind, die das Subjekt zum Raum in ein signifikantes Verhältnis setzen. Vom ‚Spaziergang’ bis hin zur ‚Betrachtung’, von der ‚rêverie’ bis zur ‚méditation’ werden nämlich unterschiedliche Formen der Relationierung von Subjekt und Welt erprobt, die nicht nur die Selbstdarstellung des Subjekts im sozialen Raum leisten, sondern auch und vor allem das ‚Selbstgefühl’ des romantischen Subjekts produzieren, um seine Selbstbestimmung über die Raumwahrnehmung zu ermöglichen.
An dieser epistemischen Umbruchstelle will das Kolloquium ansetzen und diskursive Konsequenzen analysieren. Es lädt dazu ein, die seit den 1770er Jahren eingetretene Neuerung im Verhältnis von Subjekt und Raum, die als Hinausgehen des Subjekts in den Raum und als eine Aneignung des Raumes durch das Subjekt verstanden werden kann, näher in den Blick zu nehmen. Dazu sollen insbesondere die Narrativierungen, mit denen sich das Subjekt seiner ihn umgebenden räumlichen Wirklichkeit versichert, untersucht werden. Als leitende These mag dazu dienen, dass sich das Subjekt für seine Raumorientierung Subjekttechniken erarbeitet, die eine Selbststabilisierung im Raum erlauben, dabei aber die möglichen Gefährdungen etwa in Form von Überreizungen, so z.B. durch ‚Schwindel’ oder ‚Ekel’, vermeiden helfen und statt dessen den ästhetischen Genuss sichern sollen. Hierzu gehört die Ausbildung der ‚Aufmerksamkeit’ oder der ‚Wiederholung’, die als Strategien der bewussten Aufnahme von Reizintensitäten zu einer Gewöhnung an aisthetische und ästhetische Reize führen. Ziel dieser propagierten Techniken ist es, ein psycho-physiologisches Gleichgewicht zu erlangen, das einerseits dem bürgerlichen Subjekt Normalität und Produktivität sichern soll und ihm andererseits erlaubt, eine ästhetische Wahrnehmung auszubilden, ‚schöne’, ‚erhabene’ und tendenziell sogar transgressive Erfahrungen zu machen (so etwa in den Panorama-Erlebnissen der Zeit). In den Erzähltexten steht dabei nicht allein die Ausfaltung von Techniken der Raumorientierung des sensiblen Subjekts im Mittelpunkt; auch und gerade auf die Erprobung subjektiver Raumorientierung sowie auf die Darstellung der vom jeweiligen Raum bedingten Befindlichkeiten und Verhaltensweisen wird das Augenmerk gelenkt. Als prominente Beispiele wären hier Goethes Italienische Reise oder Mme de Staëls Corinne zu nennen. Tendenziell sind all diese anthropologischen Orientierungsweisen des Subjekts auf Selbststabilisierung angelegt. In den Erzähltexten wird jedoch auch das Scheitern der Protagonisten vorgestellt; in der Fantastik, etwa bei Hoffmann, Arnim oder Nodier, wird dieses Scheitern bzw. die Herstellung einer instabilen Subjekt-Raum Struktur gar zum leitenden Prinzip erhoben.
Das Kolloquium will daher zwei Gesichtspunkten besonders nachgehen. Einerseits stellt sich die Frage: Welche Techniken eignet sich das Subjekt im Medium der europäischen Kunst und Literatur um 1800 für die je spezifische Raumorientierung an, die es ihm erlauben, sich in einem imaginativ aufgeladenen wie in einem imaginierten Raum zu orientieren? Und darauf aufbauend: In welcher Weise vollzieht sich diese Aneignung der Techniken? Andererseits und komplementär dazu sollen die narrative – und in geringerem Maße – die piktorale Darstellung, also die Formen zur Beschreibung des Raumes, sowie die jeweils in den Texten vorliegende Topos-Logik von subjektiver Raumerfahrung und spezifisch gewählter Textsorte zum Gegenstand der Tagung werden. Erst aus dieser systematischen Doppelperspektive heraus, so der Grundgedanke des Ansatzes, kann das Verhältnis von Imagination, räumlicher Wahrnehmung und subjektiver Selbstverortung im Raum um 1800 umfassend erarbeitet werden.

Programm

Donnerstag 17.05.2007

14.30 Eröffnung der Tagung

Moderation: Rudolf Behrens

15.00 Rainer Warning (Uni München, Romanistik):
Rousseaus fünfte Rêverie

16.00
Michel Delon (Paris IV, Romanistik):
L’imagination selon Sade. Concentration du lieu et expansion du désir

17.00-17.30 Pause

17.30 Winfried Wehle (Uni Eichstätt, Romanistik):
Energische Kunst. Zur diskursiven Besteigung des Vesuvs bei Goethe, Chateaubriand, Mme de Staël und Senancour

Freitag 18.05.2007

Moderation: Rainer Warning

9.00 Rudolf Behrens (Uni Bochum, Romanistik):
Fließtext. Raumwahrnehmung, Kunsterfahrung und Imagination in Corinne ou l’Italie von Germaine de Staël

10.00 Kirsten Dickhaut (Uni Gießen, Romanistik):
Raum-Gestalten: narrative Flächen und spatiale Intensität in Chateaubriands René

11.00-11.30 Pause

11.30 Jörn Steigerwald (Ruhr-Universität Bochum, Romanistik):
Flüchtige Visionen: Zu Charles Nodiers Les proscrits

12.30-14.00 Mittagspause

Moderation: Jörn Steigerwald

14.00 Gerhard Neumann (Uni München / FU Berlin, Germanistik):
Inverse Räume. Strukturen von Erinnerung und Vision in Friedrich von Hardenbergs Texten

15.00 Barbara Thums (Uni Tübingen, Germanistik):
Das Kloster als imaginierte Heterotopie um 1800

16.00-16.30 Pause

16.30 Roland Galle (Uni Essen-Duisburg, Komparatistik):
Das Porträt als Raum der Subjektbildung

17.30 Beate Söntgen (Ruhr-Universität Bochum, Kunstgeschichte):
Bild und Bühne. Das Interieur als Rahmen wahrer Darstellung

Samstag 19.05.2007

Moderation: Winfried Wehle

9.00 Dorothea von Mücke (Columbia University New York, Germanistik):
Goethes Münster Erlebnisse

10.00 David Nelting (Universität München, Romanistik):
Gelebte, ersehnte und durchschrittene Räume: Ugo Foscolos Ultime lettere di Jacopo Ortis

11.00-11.30 Pause

11.30 Eckhard Lobsien (Uni Frankfurt/Main, Anglistik):
Falsches Wandern und Echos: Wordsworth und Coleridge

12.30 Brigitte Heymann (FU Berlin, Romanistik):
Topographie des Exils – Mme de Staëls Dix années d’exil

13.30 Abschlussdiskussion

Kontakt

Jörn Steigerwald

Romanisches Seminar
Ruhr-Universität Bochum
0234 / 32 25039

joern.steigerwald@rub.de


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