Erinnerung - Vergangenheitsbewältigung - Amnesie

Erinnerung - Vergangenheitsbewältigung - Amnesie

Veranstalter
PERIPHERIE. Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt
Veranstaltungsort
Ort
Münster (Westf.)
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.12.2007 -
Deadline
06.12.2007
Von
Korbmacher, Michael (PERIPHERIE)

Call for Papers:
Erinnerung - Vergangenheitsbewältigung - Amnesie

Erinnerung ist eine eminent gesellschaftliche Angelegenheit, doch nimmt sie in verschiedenen Kontexten sehr unterschiedliche Formen an. Das Gedächtnis einer Gruppe von Menschen unterscheidet sich grundlegend vom öffentlich oder staatlich inszenierten Erinnern an historische Ereignisse oder Personen, die zu Bezugspunkten für die kollektive Identität von Staaten, sozialen Bewegungen, Organisationen und Parteien, Ethnien, Landschaften oder Städten geworden sind. Als solche sind sie zu Mythen geworden, die abgelöst und oft recht weit entfernt von ihrem ursprünglichen historischen Zusammenhang funktionieren. Für kollektives, zumal, aber nicht nur nationales Gedächtnis ist freilich nicht nur gemeinsames Erinnern konstitutiv, sondern, wie Ernest Renan 1882 bemerkte, ebenso gemeinsames Vergessen. Wenn jedoch Renan meinte, die Greuel der Albigenserkriege oder der Bartholomäusnacht seien aus dem nationalen Geschichtsbild Frankreichs zu tilgen, um es erträglich zu machen, so hat sich diese Perspektive spätestens nach 1945 deutlich verschoben. Freilich ist Sprache verräterisch: Nicht von Auseinandersetzung ist im Zusammenhang mit dem Holocaust, dem Genozid in Rwanda 1994, schweren Menschenrechtsverletzungen unter den Diktaturen von Pinochet in Chile oder bei der Niederschlagung des Sendero Luminoso in Peru, dem Apartheidsregime oder endlich auch dem Vietnamkrieg und in wenigen Jahren vielleicht dem US-Desaster im Irak die Rede, sondern - bei allen Unterschieden zwischen diesen Beispielen - von Vergangenheitsbewältigung. Die Gewaltsamkeit, die im Spiel ist, wenn Vergangenheit zum Mythos zugerichtet, das Unsagbare für öffentlichen Gebrauch handhabbar gemacht wird, ist diesem Wort eingeschrieben. Diese Operation des Bewältigens bedeutet zusammen mit der Routinisierung des Gedenkens eine Abschwächung, wo die unmittelbare Konfrontation mit dem Geschehenen als nicht aushaltbar erscheinen mag. Dennoch gilt es, die Unterscheidung zu der deutlich gewaltsameren Form der Verdrängung von Großverbrechen im Auge zu behalten, wie sie noch immer staatliche Politik der Türkei gegenüber dem Völkermord an den Armeniern im Jahre 1915 ist, oder auch zu dem aktiven Beschweigen von Vergangenheit, das als weniger beachtetes Gegenstück zu öffentlichen Wahrheitskommissionen, beispielsweise in Guatemala oder Südafrika, weite Verbreitung bei der Absicherung historischer Kompromisse hat, die eine Beendigung diktatorischer oder kolonialer Herrschaft ermöglichten. Die damit teilweise verbundene pauschale Amnestie für alle begangenen Untaten verstellt den Blick auf die klassische Bedingung von Amnestie: Im Unterschied zum Gedächtnisverlust, der Amnesie, war diese gerade an das Eingeständnis des Geschehenen, auch der persönlichen Schuld gebunden.

Zwar fügt sich das Interesse an öffentlichem Erinnern ein in die Verschiebungen der wissenschaftlichen Debatte der letzten 25 Jahre: linguistic turn, cultural turn, postcolonial studies bieten durchweg Anknüpfungspunkte und waren diesem Interesse teilweise auch förderlich; zugleich aber steht dieses Interesse im Kontext der Welle aktiver gesellschaftlicher Auseinandersetzung mit Diktaturen und Menschenrechtsverletzungen, ihren Folgen sowie der Suche nach Möglichkeiten der Überwindung und der kollektiven wie individuellen Heilung. Dabei ist zu bedenken, dass die Demokratiebewegungen, die weltweit eine solche Tendenz wesentlich bestimmt haben, nicht erst seit der hier sicherlich entscheidend wichtigen Wende von 1989/91 in Mittel- und Osteuropa einsetzten, sondern in vielen Teilen Asiens, Lateinamerikas, aber auch Afrikas bereits Mitte der 1980er Jahre. Die Erfahrungen, die in diesen Kontexten mit einem breiten Spektrum von Formen öffentlicher Vergangenheitsbewältigung gemacht wurden, haben zahlreiche dilemmatische Situationen deutlich gemacht, insbesondere zwischen der Suche nach "Wahrheit" und dem Streben nach "Versöhnung". Vor allem hat sich die Auseinandersetzung mit Vergangenheit als ein umkämpftes Terrain erwiesen, auf dem historische Ansprüche unterschiedlichster Art geltend gemacht und ausgefochten werden, auf dem aber auch Versuche der Definition von Vergangenheit deutlich dazu beitragen, die Gegenwart zu prägen. Auf bedenkenswerte ebenso wie bedenkliche Weise geschieht dies in der Umwertung von Stätten der Repression und des Grauens in Touristenattraktionen, die etwa in Südafrika heute als Dienstbarmachung von "Geschichte" (history) für eine boomende heritage industry diskutiert wird. Immer wieder sind schließlich Verweise darauf anzutreffen, die Vergangenheitsbewältigung in (West-)Deutschland nach dem Holocaust habe Vorbildcharakter für die Aufarbeitung staatlicher Verbrechen der jüngeren Vergangenheit. Ferner wird aus dieser Perspektive auch offizielles Verhalten des deutschen Staates bis hin zur Kriegsteilnahme 1999 in Jugoslawien gerechtfertigt. Genaueres Hinsehen enthüllt ein weit problematischeres Bild, denkt man an die quälend lang hingezogene Entschädigung für Zwangsarbeit und erst recht die allenfalls bruchstückhafte offizielle Befassung mit einer kolonialen Geschichte, die entscheidend durch Völkermord und andere Massenverbrechen geprägt war.

Mit dem geplanten Heft wollen wir den Versuch machen, einige der hier benannten Perspektiven zusammenzuführen, eventuell sie miteinander zu verknüpfen oder zu konfrontieren. Dabei sollen andernorts, teils auch in früheren Ausgaben der PERIPHERIE geführte Diskussionen, etwa zu Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, nicht reproduziert, wohl aber produktiv aufgenommen und weitergeführt werden. Uns interessieren besonders Formen aktiver Nord-Süd-, möglicherweise aber auch Süd-Süd-Bezüge unter anderem auch in der Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit. Weiter möchten wir uns um die vielfältigen Formen der öffentlichen - nicht notwendig staatlichen - Repräsentanz von Erinnerung und Gedenken kümmern, als Visualisierung in Form von Architektur und Denkmälern, performativ als Gedenkveranstaltung oder auch in künstlerischen Ausdrucksformen in Theater, Poesie und Film. Die Auseinandersetzung mit individuellen und kollektiven Traumata bildet eine weitere wichtige Dimension, wobei neben der Bearbeitung leidvoller persönlicher Erfahrungen die langfristigen Auswirkungen massenhafter Gewalterfahrung, aber auch die Anerkennung oraler und informeller Formen der Aufarbeitung und Erinnerung einige wichtige Themen sein können.

Ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit kann eine vorläufige Themenliste folgende Punkte umfassen, die offenkundig sowohl ausschnittweise und sicher exemplarisch, als auch verknüpft miteinander behandelt werden können:

* Konzeptionelle und theoretische Überlegungen zu öffentlicher Erinnerung, Transition und Postkolonie
* Öffentliches Gedenken als umkämpftes Terrain
* Wahrheitssuche und Geschichtsforschung
* Repräsentanz von Vergangenheit: Denkmal, Architektur, Gedenkfeste, Jahrestage ...
* Inwertsetzung von Vergangenheit (heritage)
* Wahrheitssuche und Geschichtsforschung (u.a. Wahrheits- und Versöhnungskommission in Peru)
* Trauma-Bearbeitung, "Heilung"
* Materielle Ansprüche ("Wiedergutmachung", "Reparation")
* Künstlerische Ausdrucksformen
* Holocaust und Kolonialvergangenheit (Deutschland)
* Postkoloniale Erinnerungsaktivitäten in Deutschland

Redaktionsschluss: 6. 12. 2007

Programm

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Michael Korbmacher

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