Welche Rolle können – und sollen – die philologischen Universitätsdisziplinen innerhalb der gegenwärtigen politischen Entwicklung in Europa übernehmen? Die Frage formuliert eine Herausforderung, die in der doppelten Suche nach der kulturellen Identität Europas begründet ist: eine Suche angesichts globaler Kräfteverschiebungen (darauf hat kürzlich wieder Hubert Védrine hingewiesen ) und nach innen: Welche Bedeutung mißt man der sprachlichen und kulturellen Differenz bei, und wie weit möchte man sie treiben? Diese Fragen an die Philologien zu richten, ist nicht neu. Die Philologen haben stets schon auf solche und ähnliche Ansprüche zu antworten gewußt, naturgemäß auf unterschiedliche Weise, universal und – vor allem – national, denn ein großer Teil ihrer Geschichte entfaltete sich im Willen, vom Schreibtisch aus Nationen zu konzipieren. Ein Gedanke, der vor allem von der Deutschen Philologie ausging.
Dabei prägt die Philologien, die im europäischen Wissenschaftsgefüge entstanden sind, in ihrem Kern ein Konflikt, dessen bewußte Reflexion zur Bildung einer europäischen Identität beitragen könnte. Denn, auf einzelne Sprachen oder gar einzelne Werke ausgerichtet, zielte die philologische Arbeit schon immer auf Vorstellungen von ›Individualität‹, seien diese nun politisch-national, anthropologisch oder aber literarisch-ästhetisch verstanden. Der Umgang mit dieser ›Individualität‹ aber ist, bedenkt man die institutionelle Seite der Philologien, in sich spannungsvoll. Denn nach außen, in der strategischen, ein Fach legitimierenden Rhetorik, wurde sie oft genug geschlossen und streitbar behauptet, in Form von Konzepten zu ›Nation‹ oder ›Volk‹. Nach innen dagegen, in den Produkten des philologischen Metiers, in Editionen, Kommentaren, Interpretationen, im Seminar – in der historischen Analyse von Dichtern, Werken und Sätzen – wurde die Idee von ›Individualität‹ zumeist ernst genommen und ins Kleine getrieben. Sie wurde oft radikalisiert, so daß sie für das politische Argument nicht mehr taugte. Oft genug haben die Fächer diesen Konflikt nicht bemerkt und das Potential, das darin liegt, nicht ausgeschöpft. Die historische und theoretische Untersuchung der europäischen Philologien gewinnt gerade so ihre Aktualität: Sie hilft, den Gedanken von Identität und Differenz ebenso historisch und theoretisch zu entwickeln, der, als Legitimation der Abgrenzung, die wechselvolle europäische Geschichte prägte, aber, in reflektierter und dadurch verwandelter Form, zum Kern einer gegenwärtigen kulturellen Identität Europas zählen kann.
Im Vordergrund steht eine Aktualität: Wie soll die Zukunft der Sprachen in Europa aussehen und damit auch die Zukunft der Fächer, welche die in diesen Sprachen ausgebildeten Kulturen und Literaturen zum Gegenstand haben? Lassen sich, mit anderen Worten, aus der Geschichte der Fächer neue ›europäische‹ Argumentationsfiguren entfalten? Und erwächst daraus eine spezifische Antwort auf die kulturell-politische Frage nach der europäischen kulturellen Identität? Solche Aktualität aus der eigenen, historisch zu begreifenden Verfassung zu gewinnen, meint das Wort ›Potential‹ im Titel.
Der Gedanke, von der Geschichte der Fächer auszugehen, weil die Philologien ihre eigene Geschichte sind und sich nur daraus Funktionen für heute entfalten lassen, gehört zum Kernbestand einer avancierten Wissenschaftshistorie in den Geisteswissenschaften. Die Rede von der ›Kritischen Potenz der Wissenschaftsgeschichte‹ (Jean Bollack) oder von einer ›Wissenschaftsgeschichte der Gegenwart‹ (Eberhard Lämmert) benennt und bezeugt dies. Dieser ›kritische‹ und nicht ›antiquarische‹ (Friedrich Nietzsche) Zugang unterscheidet die Geistes- von den Naturwissenschaften, wo die Fachgeschichte kaum als Teil der Fächer selbst institutionalisiert ist. In den Philologien läßt sich die Genese der Einsicht, daß die wissenschaftsgeschichtliche Reflexion den Zugang zu den eigenen Gegenständen fördert, selbst historisch beschreiben; die Erfahrungen in der Germanistik liegen hier vor allem zugrunde: den Ausgang nimmt man meist mit Biographien der Heroen des Fachs (oft in Form auch der Autobiographie), so daß selbst Institutionengeschichten auf die Personen zugeschnitten sind (die ›Allgemeine Deutsche Biographie ADB‹ etwa enthält in diesem Sinn zahllose Nuklei der Fachgeschichte); ein zweiter Schritt besteht in der ideologiekritischen Analyse der Interessen und Werte, die dem (nicht zuletzt biographisch fixierten) Selbstverständnis einer Disziplin zugrunde liegen. Der Blick auf das Handlungssystem der Wissenschaft in seinen Funktionen, der die neue Fachgeschichte der Germanistik seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts lenkte, erkannte eine Vielzahl von sozialen, kognitiven, institutionellen und leistungsorientierten Faktoren. Das Wechselverhältnis von Institution und kognitivem Wandel legte Klaus Weimar 1989 dar. Der Reichtum an Resultaten, die in den letzten zwanzig Jahren in der Germanistik erarbeitet werden konnten, lädt schließlich zu kritischen Betrachtungen entlang der wissenschaftstheoretischen Frage ein: ›Funktioniert denn das funktionierende Fach?‹ Die Grundlagen einer solchen Aktualisierung zu bestimmen, gehört zu den Aufgaben heute. Der Gedanke, daß die Philologien ihre eigene Geschichte sind, ist also mehr als nur ein Aperçu. Im vorliegenden Symposion soll das zweifach vertieft werden: auf dem Gebiet der Methode und der Gegenstände der Philologie und wissenschaftssoziologisch, mit den Rahmenbedingungen im Blick.
Zum einen stellt sich angesichts eines wissenschaftlichen Wahrheitsanspruchs die Frage, ob sich innerhalb der Geschichte der Disziplinen ein stabiler Kern von Gegenständen, Normen und Methoden oder zumindest von Konflikten herausbildet, der offen genug ist für die gegenwärtigen, neuen – auch öffentlichen – Aufgaben der Forschung. In der Regel beginnt die Geschichte einer Philologie mit Standardaufgaben: Kodifizierung der Sprache (Lexik und Grammatik), Pflege eines Nationalepos, Sammlung von Märchen und Sagen. Sie integriert dann zusehends ästhetische Fragen der Literaturgeschichte, der Interpretation und der Übersetzung; die Szientifizierung – nicht nur der historischen Sprachbetrachtung – zählt schließlich, wie die Ästhetik, zu den Provokationen, denen das Anfangsprogramm sich stellen muß. Von besonderer Wirksamkeit erweisen sich in diesen Prozessen die Diskurse der Philologien über sich selbst. Diese gilt es kritisch zu sichten, denn der Diskurs ist nicht alles: namentlich was man jeweils unter ›Philologie‹, ›filologia‹, ›philology‹ oder ›philologie‹ zu verstehen hatte, zeigt einen double sens, in dem die Praxis nicht tut, was die Selbstreflexion meint. Das gilt für die verschiedenen philologischen Modelle: Eine Philologie als Metier beansprucht, unter Verkennung ästhetischer und normativer Prämissen, ihre Techniken unabhängig vom Verständnis des (schriftlichen) Gegenstands nutzbar machen zu können (Karl Lachmann etwa vertrat diese Auffassung). Dem trat entschieden ein ›altertumswissenschaftliches‹ Verständnis entgegen, nach dem das (umfassende, kulturelle, nationale) Objekt die Wissenschaft präge (Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff): die Identitätsprämissen (eines griechischen ›Lebens/Geistes‹) mißachten nicht zuletzt Formen von Literarizität und Textualität. Drittens versucht eine an der materialen Hermeneutik (mit Schleiermacher als Vorbild) orientierte Philologie, in erster Linie die Individualität von Werken der Dichtung zu verstehen (Peter Szondi etwa), ohne den institutionengeschichtlichen Faktoren der eigenen Praxis einen wesentlichen Raum zu geben.
Mit den Resultaten der bisherigen Wissenschaftsgeschichtsforschung ist man in der Lage, die Rahmenbedingungen der kognitiven, auf Methode und Gegenstand konzentrierten Wege und Modelle zu beschreiben. In einem ›Philologischen Dreieck‹ lassen sich die kognitiven mit den normativ-politischen und den institutionell-strategischen Faktoren verbinden. Innerhalb dieses Dreiecks von Wert, Strategie und Wissen muß auch heute die Forschung ihre Validität bewähren. Bezogen auf die Ausgangsfrage nach der kulturellen Differenz in der europäischen Identität, lautet nun die Aufgabe, zu zeigen, inwiefern ›Identität‹ und ›Individualität‹ selbst methodische Werte darstellen, die jede Disziplin innerhalb des Faktorengefüges durchzusetzen hat. In diesem Sinn spielen die (transnationalen, partikularen, kritischen) Motive für die Gründung und Prägung der Fächer eine wichtige Rolle. Gegenüber der bisherigen Wissenschaftsgeschichtsforschung macht das vorliegende Projekt einen qualitativen Schritt nach vorn. Denn erstmals findet systematisch Beachtung, daß die Geschichte einer Philologie nicht isoliert verläuft, sondern daß zu dieser ›Geschichte‹ die Transfers und Blockaden gehören, innerhalb derer die verschiedenen Philologien untereinander kommunizierten.