Revolution islamischen Rechts - 80 Jahre schweizerisches ZGB in der Türkei

Revolution islamischen Rechts - 80 Jahre schweizerisches ZGB in der Türkei

Veranstalter
Stiftung Forschungsstelle Schweiz-Türkei (SFST), Juristische Fakultät der Universität Freiburg/Schweiz, Schweizerische Gesellschaft Mittlerer Osten und Islamische Kulturen (SGMOIK)
Veranstaltungsort
Senatssaal der Universität im Hauptgebäude (Miséricorde), Avenue de l'Europe 20, CH-1700 Fribourg
Ort
Freiburg/Schweiz
Land
Switzerland
Vom - Bis
20.10.2006 - 21.10.2006
Von
Stiftung Forschungsstelle Schweiz-Türkei

2006 jährt sich zum 80. Mal der Tag des Inkrafttretens des fast wörtlich übernommenen Schweizerischen Zivilgesetzbuches (ZGB) und Obligationenrechtes in der Türkei. Kurz nach dem Kalifat (1924) wurde 1926 auch die Scharia, ein im Zivilrecht tragend gebliebener, koranisch inspirierter Pfeiler der Gesellschaft, abgeschafft. Dieser Akt stand im Zentrum der umfassenden kemalistischen Kulturrevolution der Zwischenkriegszeit, die mit der osmanischen Vergangenheit brechen wollte. Die «Revolution des Rechts» traf das Herz des gesellschaftlichen Lebens und wirkte sich grundlegend auf die Beziehungen der Türkei zur islamischen Welt aus. Trotzdem blieb die Türkei eine islamische Gesellschaft, die in einem jahrzehntelangen, oft schwierigen Prozess sich das schweizerische ZGB und schliesslich auch die helvetischen Reformen der 1980er und 90er Jahre zu eigen machte.

Darf man das türkische Experiment so interpretieren, dass sich islamisches Rechtsempfinden sehr wohl mit moderner europäischer Gesetzgebung und deren Rechtsphilosophie verträgt? Dass die Scharia eine historische Hülse für Rechtsgüter war, die heutzutage in säkularen, «islamverträglichen» Gesetzen bestens aufgehoben sind? Und dass die 80-jährige Erfahrung des ZGB-Transfers einen einzigartig soliden Grund für transkulturelle Verbindlichkeit, ja die Versöhnung des Islams mit der Moderne bietet?

Mehrere akademische Veranstaltungen in diesem Jahr, zum Teil im Beisein der Justizminister, kreisen nach zeremoniellem Gedenken meist um enge juristische Themen und lassen Kontextualisierung und Hinterfragung vermissen. Ziel der betont interdisziplinären Tagung in Fribourg ist eine kritische, komparative Reflexion über das zivilrechtliche «Langzeitexperiment» in der Republik Türkei. Gegenstand wird sowohl die Diskussion der Einführung des ZGB selbst als auch die Evaluierung des Interaktions- und Implementierungsprozesses bis in die Gegenwart, mit Einschluss von familienrechtlichen Fallbeispielen, sein. Zentral sind dabei grundsätzliche Fragen nach den Möglichkeiten von transkultureller Interaktion, Bildung von Wertekonsens und gesellschaftlich-rechtlichem Wandel im Hinblick auf muslimische Gesellschaften.

Eingegangen wird auch auf Mahmut Esat Bozkurt, den für die ZGB-Einführung verantwortlichen Justizminister, der 1919 sein Doktorat an der Universität Fribourg abschloss; bei ihm war autoritärer, angstbesetzter Türkismus gleichsam der «Beelzebub», den er und seine Mitstreiter riefen, um der Gesellschaft das, was sie als antimoderne Islambindung hassten, zugunsten «europäischer Zivilisation» auszutreiben. Nationalistische Intransigenz stand beim Hitler-Sympathisanten Bozkurt in schwer lösbarer Spannung zu seinem unleugbaren Willen zu Fortschritt, Demokratie und transnationalem Recht.

Der familienrechtliche Teil des ZGB, das die kemalistische Elite am 4. Oktober 1926 in Kraft setzte, blieb jahrzehntelang ungenügend implementiert. Zahlreiche «aussereheliche» Kinder vor allem auf dem Land und vor allem im Osten entsprangen zum Teil polygamen Familiengründungen, die sich um den «Segen des Staates», die Ziviltrauung, foutierten. Manche der neuen familien- und erbrechtlichen Bestimmungen blieben toter Buchstabe. Für die positive Deutung der Rechtsrevolution spricht jedoch die heutige gesellschaftliche Akzeptanz des ZGB. Der kürzliche Nachvollzug der Reform des Schweizerischen ZGB wurde zur Gelegenheit für eine erstmals eigene ZGB-Kodifikation genommen. Im letzten Jahrzehnt hat sich die Ziviltrauung auch auf dem Land fast ganz durchgesetzt, dies nicht zuletzt im Zusammenhang mit der massiven Migration in die Städte im späten 20. Jahrhundert. Die periodische Legalisierung – väterzentrierte Anerkennung – von Kindern aus «Imamehen» oder sonstigen Verbindungen ist daher kein Traktandum der Nationalversammlung mehr.

Juristentreffen, Doktorandenaustausche und Habilitationsbetreuungen pflegen und nutzen seit 80 Jahren die 1926 geschlagene türkisch-schweizerische Brücke , doch historischen und anthropologischen Fragestellungen ist bisher wenig nachgegangen worden, rechtssoziologische Studien fehlen weithin. Die Tagung wird daher vermutlich mehr Fragen stellen, als sie Antworten geben kann.

Die Tagung ist öffentlich und kostenlos, wegen der beschränkten Anzahl von Plätzen im Senatssaal wird jedoch um Anmeldung gebeten.

Programm

Freitag, 20. Oktober: historische, anthropologische, soziologische Akzente

09.00–09.25 Begrüssung
Bundeskanzlerin Dr. h.c. Annemarie Huber-Hotz, ein Vertreter der Türkei sowie Walter Stoffel, Prof. Dr. iur., Universität Fribourg und Stiftung Forschungsstelle Schweiz-Türkei.

09.25-09.30 Inhaltliche Einleitung
Hans-Lukas Kieser (Universitäten Fribourg und Zürich, Stiftung Forschungsstelle Schweiz-Türkei).

09.30–11.00 "Islam versus Laizismus": Die Einführung des ZGB in der Republik Türkei
• Osman B. Gürzumar (Universität Bilkent/Ankara): Die Rezeption des westlichen Rechts im allgemeinen und des ZGB im besonderen im Modernisierungsprozess der Türkei vor 1926.
• Gottfried Plagemann (Kültür Universität Istanbul): Die Einführung des ZGB im Jahre 1926: Das neue ZGB als Bedingung eines säkularen und souveränen Nationalstaates.
• Heinz Käufeler (Universität Zürich): Das Zivilrecht als Streitpunkt weltlicher und religiöser Kräfte.

11.00–11.30 Pause

11.30–13.00 Die Reform der Gesellschaft und Mahmut Bozkurt, kemalistischer Justizminister
• Başak Baysal Erman (Universität Istanbul): Die Rezeption des westlichen Rechts im allgemeinen und des ZGB im besonderen im Modernisierungsprozess der Türkei nach 1926.
• Bülent Uçar (Universität Bochum): Die Einführung des schweizerischen ZGB als Mittel zur Reform der Gesellschaft.
• Hans-Lukas Kieser (Universitäten Fribourg und Zürich): Der ehemalige Freiburger Doktorand Mahmut Bozkurt und sein Verständnis von Rechts- und Sozialrevolution.

13.00–14.30 Mittagessen

14.30–15.30 Rechtsrevolution, Menschen-/Frauenrechte
• Sükran Sipka (Universität Ticaret Istanbul): Der Revolutionscharakter des Zivilgesetzes von 1926 aus frauenrechtlicher Perspektive.
• Osman Can (Verfassungsgerichtshof der Republik Türkei): Eine Bilanz der Rechtsrevolution aus menschenrechtlicher Perspektive, mit Beachtung der nichtmuslimische Minderheiten.

15.30-16.00 Pause

16.00–17.00 Türkische und aussertürkische islamische Familienrechtserfahrungen I
• Mahide Aslan (Universität Luzern): Forschungsprojekt: Die ersten zwölf Jahre ZGB (1926–1936) – Versuch einer Evaluierung des Implementierungsprozesses anhand der Urteile des Kassationsgerichtshofes in Ankara.
• Günter Seufert (University of Cyprus, Nicosia): Grenzen der Wirksamkeit des Zivilrechts und die Diskussion um Rechtspluralität.

17.00-17.15 Pause

17.15–18.15 Türkische und aussertürkische islamische Familienrechtserfahrungen II
• Astrid Meier (Universität Zürich): Wie islamisch muss islamisches Recht sein? Reaktionen auf die Einführung des ZGB in der Türkei in der arabischen Welt und Indien.
• Edouard Conte (Universität Bern): Islamisches Familienrecht in Palästina und Israel: Text und Kontext.

20.00 Abendessen

Samstag, 21. Oktober 2006: juristische Schwerpunkte

09.00–10.30 Aktuelle zivilrechtliche Herausforderungen in der Schweiz, der Türkei und Ägypten
• Hermann Schmid (Bundesamt für Justiz, Sektion Zivilgesetzbuch und Obligationenrecht): Überblick über die Reformen des schweizerischen Familienrechts seit den 1980er Jahren.
• Sami Aldeeb (Institut suisse de droit comparé, Lausanne): La personnalité des lois en Turquie et en Egypte.
• Anne-Banu Brand (Rechtsanwältin, Baden/Schweiz): Einige Aspekte der Scheidung in der Schweiz und in der Türkei.

10.30-11.00 Pause

11.00–12.00 Kemalistische Rechtsrevolution nach 80 Jahren: gelungener Transfer?
• Ali Çivi (Rechtsanwalt, Izmir und Basel): Türkisches Familienrecht nach 80 Jahren ZGB – Bestandesaufnahme und Evaluierung des jüngsten Reformprozesses.
• Urs Fasel (Universität Fribourg): Hat ein Rezeptionskonzept Erfolg?

12.00–12.15 Pause

12.15–12.45 Schlussrunde: Rechtstransfer als transkulturelle Interaktion - transreligiöser Rechtskonsens - gelebtes Recht ?

12.45 Gemeinsames Mittagessen

Kontakt

Hans-Lukas Kieser

Stiftung Forschungsstelle Schweiz-Türkei, Marktgasse 6, 4051 Basel

hans-lukas.kieser@unibas.ch

http://www.hist.net/kieser/fr06