Aristoi - Nobiles - Adelige. Europäische Adelsformationen und ihre Reaktionen auf gesellschaftliche Umbrüche

Aristoi - Nobiles - Adelige. Europäische Adelsformationen und ihre Reaktionen auf gesellschaftliche Umbrüche

Veranstalter
PD Dr. Josef Matzerath, TU Dresden Dr. Claudia Tiersch, TU Dresden
Veranstaltungsort
Schloss Nöthnitz
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.06.2006 - 17.06.2006
Deadline
01.06.2006
Website
Von
Josef Matzerath / Claudia Tiersch

ARISTOI – NOBILES – ADLIGE. Europäische Adelsformationen und ihre Reaktionen auf gesellschaftliche Umbrüche

Die Geschichte des Adels in Europa stellt ein bemerkenswertes Phänomen dar. Immerhin gelang es diesen aristokratischen Eliten, sich mehr als 2000 Jahre in gesellschaftlichen Spitzenpositionen zu behaupten und damit auch ihrer spezifischen Legitimationsbasis ungebrochene Geltung verleihen, welche die Ansprüche auf gesellschaftlichen Vorrang und den privilegierten Zugang zu Ressourcen begründete. Die europäische Adelskontinuität ist zum einen deshalb spektakulär, weil sie (eventuell mit Ausnahme Japans) ein welthistorisch singuläres Phänomen darstellt. Bemerkenswert ist sie jedoch auch deshalb, weil die privilegierte Position von Aristokraten keineswegs an eine bestimmte politische Ordnung gebunden war. Sie galt (in gewissen Grenzen) für die athenische Demokratie ebenso wie für das römische Kaiserreich, für italienische Stadtrepubliken genauso wie für das Merowingerreich, das Reich der Salier bzw. frühneuzeitliche und moderne Monarchien. Zumeist vermochten Adelsformationen ihren Status auch bei einem Wandel der gesellschaftlichen und politischen Ordnung zu bewahren.

Im Zentrum der Tagung stehen Epochen besonders nachhaltiger Umbrüche, wie sie z.B. mit einem Wandel der politischen Organisationsform oder dem Wechsel von Herrschaftsträgern verbunden waren. Diese Zäsuren waren oft ihrerseits Ausgangspunkt oder Bestandteil weiterer Veränderungen und so in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung für etablierte aristokratische Positionen bildeten. So war z.B. die athenische Demokratie verbunden mit einem gewachsenen Gewicht der Bürgerschaft und ihrer politischen Institutionen, welches traditionelle Machtansprüche der Aristokratie nachhaltig tangierte. Zudem berührte die dort erhobene Forderung, dass sich alle Amtsträger in ihrem Handeln künftig ausschließlich an den Interessen der Polis Athen und ihrer Bewohner orientieren sollten, das traditionell gesamthellenische Beziehungssystem athenischer Aristokraten. Und nicht zuletzt erleichterte die erhebliche wirtschaftliche Dynamik des 5. Jahrhunderts v. Chr. den Aufstieg neuer Schichten, was gleichfalls eine Bedrohung für gewachsene aristokratische Besitzstandsansprüche implizierte und zur Furcht vor Statusverlust führte.

Ähnlich komplexe Wandlungen brachte auch die Epoche der Völkerwanderungszeit. Sie führte nicht nur zur Dislozierung von Herrschaftszentren, sondern bedeutete auch Veränderungen im Verwaltungs- und Verteidigungssystem sowie das Ende des römischen Kaiserhofes, welcher zahlreichen Aristokraten Jahrhunderte lang Orientierung und die Anerkennung als Herrschaftsträger geboten hatte. Und auch die Epochenschwelle von 1500 war mit mehrdimensionalen Veränderungen verknüpft. Dies betraf die Genese einer neuzeitlichen Staatlichkeit ebenso wie die Entstehung eines europäischen Staatensystems, die beginnende Expansion nach Übersee, die Anfänge eines Handelskapitalismus, mediale Umbrüche sowie das geistesgeschichtliche Phänomen des Humanismus. Eine Reihe weiterer, wenn auch andersgearteter Zäsuren erschütterte die Gruppierungen des europäischen Adels im 19. und 20. Jahrhundert. Hierzu zählen nicht nur der Zusammenbruch ständischer Herrschaftsformen, sondern selbstverständlich auch Ereignisse wie der Erste Weltkrieg oder das Dritte Reich. Zu erwarten ist daher, dass diese mehrdimensionalen Infragestellungen entsprechend komplexe Behauptungsstrategien verlangten, adelige Strategien des Obenbleibens und der Gruppenkohäsion in besonders verdichteter Form zu greifen sind.

Zusätzlich zu diesen Erkenntnissen über Neupositionierungen in einem veränderten gesellschaftlichen Umfeld verspricht ein solcher Zugriff aber auch Rückschlüsse bezüglich der Eigenwahrnehmung von Adelsformationen. Vermutlich artikulierten Adelige angesichts intensiver Infragestellungen der eigenen Legitimationsformen besonders klar, worin sie den Wert des Adels sahen und welche Geltung sie für ihre Gruppe beanspruchten. Immerhin zwangen gesellschaftliche Transformationsprozesse ja entweder zu einer Redefinition der eigenen Legitimität oder zu einem Versuch, etablierte Vorrangansprüche auch unter neuen Bedingungen wieder zu gesellschaftlicher Akzeptanz zu verhelfen. Dies führt auch zu den Problemen mentaler Bewältigung von Wandel und damit zur Analyse aristokratisch fokussierter Perspektiven auf gesellschaftliche Umbrüche.

Die geschilderten Beispiele verdeutlichen bereits, dass die Tagung in einem zentralen Punkt über bislang gängige Forschungspraktiken hinausgreifen will. Hatten sich bisherige Untersuchungen und Debatten darauf konzentriert, Behauptungsstrategien von Adelsformationen in jeweils einer Umbruchsphase bzw. einem enger definierten Zeitraum zu untersuchen, sollen nun Methoden und Dimensionen adeligen Obenbleibens und Zusammenhalts in unterschiedlichen Umbruchsphasen diachron verglichen werden.

Deshalb übergreift die Tagung einen Zeitraum von der athenischen Demokratie bis zum 20. Jahrhundert. Jeder der Vorträge soll für einen konkreten Fall Methoden des Obenbleibens (in Reflexionen und Aktivitäten) bestimmen, wobei die spezifische Struktur der entsprechenden Adelsgruppierung (Rekrutierung und Selbstverständnis) und die Form des jeweiligen politischen Transformationsprozesses zu beschreiben sind. Hierbei soll gefragt werden, inwiefern der analysierte Wandlungsprozess die gesellschaftliche Position bzw. das Selbstverständnis der betreffenden Adelsgruppierung veränderte, ob er eher zu deren Fragmentierung oder Solidarisierung führte. Welche Bindekräfte hielten die Adelsgruppe trotz des Wandels weiterhin zusammen? Zu fragen ist, in welchem Maße den Adeligen als Gruppe eine erfolgreiche Behauptung gelang. Inwiefern vermochten sie auch innerhalb der neuen Ordnung traditionelle Geltungsgründe zu erhärten? Inwieweit war der jeweilige Adel zu einer Anpassung seiner Ordnungsarrangements gezwungen bzw. bereit? Kam es hier möglicherweise auch zu Fällen der Verweigerung bzw. des Scheiterns? Welche Folgen hatten seine Verhaltensweisen für die Ausbildung oder Behinderung von Staatlichkeit? Selbstverständlich ist hier auch nach dem jeweiligen gesellschaftlichen Ort für die Konstruktion des Adels zu fragen, d.h. nach der gesellschaftlichen Bereitschaft zur Akzeptanz entsprechender Geltungsansprüche, da die Geltung einer Adelsformation nie von dieser allein abhängig war.

Da der primäre Sinn der Tagung in der Vergleichsperspektive sowie in einer typologischen Schärfung des Adelsbegriffs liegt, ist Raum für eine umfassende Abschlussdiskussion vorgesehen, die durch ein soziologisches Referat eingeleitet werden soll. Selbstverständlich kann die Tagung nicht die Geschichte des Adels bieten, da ja bereits innerhalb einer Zeitepoche eine bemerkenswerte Vielfalt adliger Verhaltensweisen zu konstatieren ist. Die Veranstalter sind sich deshalb des Auswahlcharakters der Themen bewusst. Dennoch bietet die geplante Vorgehensweise die Chance eines Gesprächsforums zwischen den zumeist nach Epochen in sich abgeschlossenen historiographischen Fachdiskursen, was einen Vergleich der jeweils erzielten Ergebnisse ermöglicht sowie die Chance auf eine bessere Vernetzung der hierfür benutzten Kategorien und Deutungsmuster.

Das Ziel der Tagung liegt demzufolge in drei Bereichen. Hierbei handelt es sich erstens um die Bestimmung von Gemeinsamkeiten in adeligen Behauptungsstrategien, die nicht durch den gemeinsamen politischen Bezugsrahmen erklärbar sind. Der zweite Bereich betrifft die Bestimmung der Bandbreite von adliger Identität und Flexibilität und damit auch der möglichen Analyse funktionaler Zusammenhänge. Hieraus ergibt sich drittens ein Frageinteresse, welches über den Adel hinaus auf die jeweilige Gesellschaft weist. Es ist die Frage, wie Gesellschaften Wandel vollzogen und bewältigt haben und welche Rolle hierbei die Sozialformation Adel spielte. Dies ermöglicht prägnante Rückschlüsse auf die Natur politischer Ordnungen, die über Etikettierungen wie Demokratie, res publica oder Monarchie hinausweisen. Ebenso führt z.B. ein Vergleich der Behauptungsstrategien von athenischem und ostelbischem Adel dazu, dass klare kategoriale Dichotomien wie Moderne und Vormoderne hinterfragt werden können. Die Bestimmung von Behauptungsstrategien des Adels in Umbruchssituationen soll somit als Fokus für eine breitere Frage nach Veränderungen und Kontinuitäten gesellschaftlicher Regelsysteme genutzt werden. Letztlich soll dies besser erhellen, in welchem Maß Europa in seiner Geschichte, seiner kulturellen Identität sowie in den Formen der Organisation von Macht und Herrschaft durch die Existenz und das Agieren von Adelsgruppierungen geprägt worden ist.

Die Teilnahme an der Konferenz ist nur nach vorheriger Anmeldung möglich.

Programm

Donnerstag, 15.06.2006

16.00 – 20.00 Uhr
Eröffnungsvortrag: Aristoi – Nobiles – Adelige
(Europa 5. Jh. v. Chr. bis 20. Jh. n. Chr.)
PD Dr. Josef Matzerath – Dresden

Antike
moderiert von Prof. Dr. Martin Jehne (Dresden)

Aristokraten in der athenischen Demokratie. Konflikt oder Kooperation?
(Athen 5./4. Jh. v. Chr.)
Dr. Claudia Tiersch – Dresden

Die Neubildung lokaler Herrschaftseliten unter den Nachfolgern Alexanders des Großen
(Ptolemäerreich 4./3. Jahrhundert. v. Chr.)
Dr. Friederike Herklotz – Berlin

Die römische Nobilität nach dem 2. Punischen Krieg
(Rom 3./2. Jh. v. Chr.)
Prof. Dr. Ulrich Gotter – Konstanz

Augustus und die Sitten des Adels - Ein Kampf um die Normierung der Aristokratie
(Rom 1. Jh. v. Chr./1. Jh. n. Chr.)
Dr. René Pfeilschifter – Dresden

Freitag, 16.06.2006

10.00 –13.00 Uhr
Mittelalter
moderiert von Prof. Dr. G. Melville (Dresden)

Aristokraten und das Ende Westroms
(Westeuropa 5./6. Jh. v. Chr.)
Prof. Dr. Régine Le Jan – Paris

Transformationen des französischen Rittertums im 12. Jahrhundert. - Die Entstehung der geistlichen Ritterorden
(Frankreich 12/13. Jh. n. Chr.)
Prof. Dr. Jörg Oberste – Regensburg

Reflexionen von Umbrüchen in der Literatur des Spätmittelalters
Julia Richter/ Linda Webers – Dresden

15.00 –17.00 Uhr
Neuzeit
moderiert von Prof. Dr. Michael Müller (Halle)

Adel in der Frühen Neuzeit
(Europa 16.-17. Jh. n. Chr.)
Prof. Dr. Ronald Asch – Freiburg

Der Staat des Fürsten und der Adel
(Deutschland 18. Jh. n. Chr.)
Dr. Martin Wrede – Gießen

Samstag, 17.06.2006

10.00 –13.00 Uhr
Moderne
moderiert von PD Dr. Josef Matzerath (Dresden)

Adel am Beginn der Moderne
(Deutschland 19. Jh. n. Chr.)
Dr. Silke Marburg – Mainz

Moderner Adel
(Deutschland 20. Jh. n. Chr.)
Prof. Dr. Eckart Conze – Marburg

Epilog. Eine epochenübergreifende Nachfrage nach den Deutungsmustern und Erklärungsansätzen
(Europa 5. Jh. v. Chr. bis 20. Jh. n. Chr.)
Prof. Dr. Karl-Siegbert Rehberg – Dresden

Kontakt

Josef.Matzerath@TU-Dresden.de

Claudia.Tiersch@TU-Dresden.de


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