Europäische Verflechtungen der Geschichtskulturen Polens (19. und 20. Jh.)

Europäische Verflechtungen der Geschichtskulturen Polens (19. und 20. Jh.)

Veranstalter
Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig (GWZO) in Verbindung mit dem Willy Brandt Zentrum für Deutschland- und Europastudien der Universität Wroclaw (WBZ) Leitung: Stefan Troebst (Leipzig), Krzyzstof Ruchniewicz (Wroclaw), Martin Aust (Kiel) Konzeption: Martin Aust (Kiel)
Veranstaltungsort
Willy Brandt Zentrum für Deutschland- und Europastudien der Universität Wroclaw, ul. Straznicza 1-3, 50-206 Wroclaw, Polen
Ort
Breslau/Wroclaw
Land
Poland
Vom - Bis
11.05.2006 - 13.05.2006
Website
Von
Stefan Troebst

Der Stand der Gedächtnisgeschichte in Deutschland und Polen lädt dazu ein, eine Zwischenbilanz zu ziehen und programmatisch gestaltend auf die Zukunft dieses Untersuchungsfeldes einzuwirken. Die internationale Konferenz „Europäische Verflechtungen der Geschichtskulturen Polens (19. und 20. Jh.)“ möchte die Debatte vom Vergleich nationaler Geschichtskulturen hin zu der Frage fortentwickeln, ob sich eine Verflechtungsgeschichte mehrerer Gedächtnisgeschichten jenseits bilateraler Konstellationen schreiben läßt. Exemplifiziert wird dies am Beispiel Polens. Gefragt wird, ob und wenn ja welche Interdependenzen sich zwischen den Geschichtskulturen Polens und seiner europäischen Nachbarn in Dreieckskonstellationen feststellen lassen. Dabei werden am Beispiel jüdischer Erinnerungen auch transnationale Aspekte berücksichtigt. Der Anspruch auf enzyklopädische Vollständigkeit wird nicht erhoben. Im Vordergrund soll die methodische Reflexion stehen.

Die Konferenz erprobt, ob der Grad von Beziehungsgeschichte, wie er in der Politikgeschichtsschreibung über das östliche Europa und Polen zumal erreicht ist, auch in der Historiographie der Geschichtskulturen anvisiert werden kann. Ein anerkanntes Deutungsmuster der Politikgeschichte Polens in der Neuzeit stellt die Interpretationsfigur der „negativen Polenpolitik“ dar (Klaus Zernack). Sie erscheint als Signum der neuen Geschichte Polens von 1697 bis 1945/1989. Der Begriff der negativen Polenpolitik bringt eine zunächst preußisch-habsburgisch-rußländische, später deutsch-sowjetische Übereinkunft auf Kosten Polens zum Ausdruck. Die Außensteuerung und dann die Teilungen Polens erscheinen als Unterpfand des Bündnisses zwischen den Nachbarn Polens. Die Geschichte der polnischen Souveränität läßt sich damit nicht im nationalpolnischen Rahmen, sondern allein auf einer multilateralen europäischen Ebene darstellen. Dieser staatensystemgeschichtliche Ansatz ist fruchtbar in wahrnehmungs- und öffentlichkeitshistorischen Arbeiten aufgegriffen worden.

Den europäischen Dimensionen der Geschichte Polens tragen zahlreiche Forschungskontexte Rechnung, in denen nach den bilateralen Beziehungen zwischen Polen und einem seiner Nachbarn gefragt wird. Es erscheint mithin vielversprechend, die zahlreichen bilateralen Expertisen nach möglichen Interdependenzen auf dem Feld der Geschichte von Gedächtnis und Erinnerung abzuklopfen. Das Potential für dieses Vorhaben ist nicht gering: In teils institutionalisierter Form, teilweise allein auf der Ebene einzelner Publikationen richtet sich das Erkenntnisinteresse auf die bilateralen Beziehungen Polens zu Deutschland, der Ukraine und Rußland. Zu ergänzen sind hier bilaterale Geschichten Rußlands und der Ukraine, die auf ihre polnischen Bezüge zu befragen sind. Auch die Erinnerung an das Großfürstentum Litauen weist polnische, litauische, weißrussische, ukrainische und russische Perzeptionen auf. Es ist darüber hinaus Gegenstand einer offenen Diskussion, inwieweit die jüdische Perspektive in der Geschichte Polens a priori transnational ist und zwischen die Mahlsteine verschiedener Nationsbildungen gerät oder eine jüdische Polonität in Rechnung zu stellen ist, die sich nicht mehr gänzlich außerhalb des nationalstaatlichen Rahmens verorten läßt. Gemeinsam ist all diesen bilateralen Geschichte, daß sie u.a. auch das Terrain von Gedächtnis und Erinnerung erkunden.

Die Beziehungsgeschichten zwischen Staaten und Nationen stellen jedoch nicht den einzig denkbaren Rahmen für die Frage nach Verflechtungen von Gedächtnissen und Erinnerungen dar. Nicht minder ergiebig ist es, das Aufeinandertreffen verschiedener Entwürfe kollektiver Identität in einem regionalen Kontext zu beobachten. Entsprechende Arbeiten - die in ihrer Mehrzahl auch gedächtnis- und erinnerungsgeschichtliche Fragen aufgreifen - liegen bereits zu Preußen, Masuren, der Provinz Posen, Danzig, Breslau sowie Galizien und Lemberg vor. Ebenso ist es denkbar, multilaterale Bezüge von Gedächtnissen und Erinnerungen am Beispiel eines Erinnerungsortes nachzuvollziehen. Vor allem die Erinnerungen an die Schlacht von Tannenberg 1410 sind bereits für Deutschland, Polen und Litauen dargestellt. Das Potential für eine Verflechtungsgeschichte der Geschichtskulturen stellt sich somit als reichhaltig dar. Ob sich auf der Ebene der Geschichtspolitiken, Gedächtnisse und Erinnerungen jenes Maß an Verflechtung wie in der Realgeschichte feststellen läßt, ist eine Leitfrage der Konferenz.

Die Konferenz versucht eine Antwort auf die Frage, ob sich eine multilaterale Verflechtungsgeschichte von Geschichtskulturen jenseits bilateraler Konstellationen schreiben läßt. An erster Stelle steht mithin die Frage, ob Erinnerungen ein und desselben Ereignisses bei verschiedenen Entitäten parallel laufen, unverbunden aufeinander folgen, ohne voneinander Kenntnis zu nehmen, oder ob sich gegenseitige Wahrnehmungen und Wechselwirkungen feststellen lassen. Im letzteren Fall schließt sich zweitens die Frage nach den Interaktionsmodi an. Lassen sich zwischen den verschiedenen Entitäten allein gegenseitige Wahrnehmungen beobachten oder kommt es darüber hinaus zu Rezeptionen, Transfers und Einflußnahmeversuchen? Handelt es sich dabei um einmalige Aktionen oder läßt sich eine Kette von Interaktionen konstatieren? Drittens kommen zur präzisen Analyse etwaiger Verwebungen folgende Kategorien in Betracht: (1) die Umgangsweise mit Vergangenheit (Geschichtskultur), (2) die inhaltliche Seite von Geschichtsbildern und (3) Bezüge zwischen Geschichtskulturen in einem multilateralen Rahmen.

Programm

Donnerstag, 11. Mai 2006 (Aula Leopoldina)

Abendvortrag

Rudolf Jaworski (Kiel): Zur Kritik an der historischen Gedächtnisforschung

Freitag, 12. Mai 2006 (WBZ)

Begrüßung und Einführung - Stefan Troebst (Leipzig), Krzysztof Ruchniewicz (Wroclaw), Martin Aust (Kiel)

Sektion I: Städte: Multiethnizität und nationale Geschichtskulturen

Mathias Niendorf (Kiel): Vilnius / Wilna

Veronika Wendland (Leipzig): Lwow / L‘viv / Lemberg

Marek Zybura (Wroclaw): Das Breslauer Raclawice Panorama. Die Darstellung einer polnisch-russischen Schlacht in einer Stadt der deutsch-polnischen Geschichte

Diskussion

Sektion II: Jüdische Erinnerungen zwischen Inklusion und Exklusion

Thomas Serrier (Paris): Zwischen den deutschen und polnischen Nationsbildungen in Großpolen im Kaiserreich

Katrin Steffen (Warschau): Das jüdische kulturelle Gedächtnis in der Zweiten Polnischen Republik

Krzysztof Ruchniewicz (Wroclaw): Die Debatte um Jedwabne

Diskussion

Samstag, 13. Mai 2006 (WBZ)

Sektion III: Kriegs- und Schlachtenerinnerungen à trois

Rimvydas Petrauskas (Vilnius), Darius Staliunas (Vilnius): Die drei Namen der Schlacht: Erinnerungsketten um Tannenberg, Grunwald, Zalgiris

Lars Jockheck (Hamburg): Der polnische und der sowjetische Blick auf den Deutschen Orden im Historienfilm – Gab es eine Eisenstein-Rezeption in Fords „Krzyzacy“?

Martin Aust (Kiel): Polen und Rußland im Streit um die Ukraine in Deutungen der Kriege des 17. Jahrhunderts. 1920 – 2005

Diskussion

Sektion IV: Zweiter Weltkrieg und Vertreibungen

Edmund Dmitrow (Bialystok): Erinnerung und Verschweigen des Warschauer Aufstandes in Deutschland, Polen und der Sowjetunion/Rußländischen Föderation

Claudia Kraft (Erfurt): Vertreibungen erinnern – aber wie?

Stefan Troebst (Leipzig): Europäisierungsansätze der Vertreibungserinnerung: Europarat, Visegrád-Staatengruppe und Deutschland

Diskussion

Schlusskommentare und Abschlußdiskussion - Jan Piskorski (Szczecin), Martin Schulze Wessel (München)

Kontakt

Dr. Martin Aust

Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Historisches Seminar
Olshausenstr. 40
24098 Kiel

(0431) 880 2181
(0431) 880 5253
maust@oeg.uni-kiel.de


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