Jenseits von Autokratie und "Gesellschaft": das Politische als kultureller Kommunikationsraum im Zarenreich (19./20. Jahrhundert)

Jenseits von Autokratie und "Gesellschaft": das Politische als kultureller Kommunikationsraum im Zarenreich (19./20. Jahrhundert)

Veranstalter
Universität Bielefeld, SFB 584 "Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte" (Stephan Merl, Walter Sperling)
Veranstaltungsort
Universität Bielefeld, IBZ
Ort
Bielefeld
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.11.2006 - 25.11.2006
Deadline
31.05.2006
Website
Von
Stephan Merl, Walter Sperling

Politik ist nicht mehr langweilig. Seit den 1990er Jahren fordern Kulturhistoriker in Frankreich, Deutschland und den USA, sich der Politik unter neuen Blickwinkeln zuzuwenden. Dabei wird Politik nicht primär bei den "großen Männern", Herrschaftsinstitutionen und gesellschaftlichen Organisationen verortet. Die bisherigen Diskussionen konzentrieren sich jedoch überwiegend auf westliche Entwicklungen und sind auf einem Auge blind.

Der Workshop "Jenseits von Autokratie und Gesellschaft" möchte an dieser Stelle eine Perspektivenerweiterung anregen. Erstens wird Nachwuchswissenschaftlern (Osteuropäische Geschichte, Kulturwissenschaften) ein Forum geboten, in dem sie ihre Forschungsthemen durch das Prisma des Politischen präsentieren können. Zweitens lädt der Workshop dazu ein, die Möglichkeiten und Grenzen des Bielefelder Konzepts des Politischen als Kommunikationsraum in der Geschichte des Zarenreiches zu diskutieren.

Das Bielefelder Konzept des Politischen hebt sich vor allem dadurch hervor, dass es auf institutionelle und essentialistische Definitionen von Politik verzichtet. Indem es nach der jeweiligen historischen Ausprägung des politischen Kommunikationsraumes fragt, grenzt es sich von den Ansätzen der "politischen Kultur" und der "Kulturgeschichte der Politik" ab, die ihren Gegenstand zumeist als einen bereits vorgegebenen Untersuchungsrahmen betrachten. Bezogen auf das Zarenreich gilt hier der Blick den unterschiedlichen Entwürfen, Setzungen und Verschiebungen von Wahrnehmungsmustern, Klassifikationsschemata und Normen, die von einzelnen Akteuren und Akteursgruppen mit einem allgemeingültigen Anspruch breitenwirksam vertreten wurden. In dieser konstruktivistischen Perspektive bekommen Themen, Diskurse und Strukturen nur dann eine politische Qualität, wenn sie von Akteuren ins Spiel gebracht und zum Gegenstand von übergreifenden friedlichen wie gewaltsamen Aushandlungen gemacht wurden. Politisch ist gewissermaßen das, was Fragen des sozialen Zusammenlebens aufwirft, Ansprüche vermittelt und auf regen Widerspruch stößt. Durch diese forschungsstrategisch offene Herangehensweise erscheinen beispielsweise bittstellende Bauern und Kaufleute gleichrangig neben Alexander Herzen, den "Wolgatreidlern" von Il'ja Repin oder den imperialen Eroberungszügen des Generals Cernjaev.

Die Betonung liegt hier nicht nur auf den Konturen des politischen Raumes im Zarenreich. Vielmehr interessieren die Verfahren, mit denen Gruppen wie Individuen Inhalte und sich selbst zum Politikum machten, sich mittels bestimmter Praktiken und Symbolen dergestalt in Szene setzten, dass sie als Akteure nicht ignoriert werden konnten. Neben den Mechanismen der Politisierung und Entpolitisierung rücken Prozesse der Inklusion wie des Ausschlusses aus dem übergreifenden Kommunikationsraum ins Zentrum. Wer gehörte dazu und wer rang darum, einbezogen zu werden und mitgestalten zu können? Was waren die jeweiligen Grenzen des Denkbaren, Sagbaren, Machbaren jenseits der bekannten Scheidelinien zwischen dem repressiven autokratischen Staat und der oppositionellen "Gesellschaft"?

Programm

Zur Strukturierung der Diskussion werden folgende Bereiche vorgeschlagen, mit denen einzelne historische Themenfelder verknüpft oder in Beziehung gesetzt werden können:

Semantiken
Akteure prägen Begriffe und Denkbilder ebenso wie sie von diesen Deutungen geprägt werden. Welche Semantiken bestimmten neben den dichotomischen Entwürfen von Staat und Gesellschaft den politischen Kommunikationsraum im Zarenreich? Wie veränderten sie sich in dem Maße, wie Akteure sie aussprachen, medialisierten und problematisierten?

Diskurse
Als Aussageformen ordnen Diskurse das Denken und verordnen das Handeln von historischen Subjekten. Auf welche Weise wirkten sich einschlägige Diskurse wie etwa Eisenbahn, bäuerliche Landarmut, Reformen oder Panslavismus auf die Handlungsspielräume der Akteure aus? Wie beeinflussten sie übergreifende Klassifikationsmuster, riefen Normierungsbestrebungen hervor und regten Akteursgruppen an, die bestehenden Schemata zu verwerfen?

Repräsentationen
Machtverhältnisse und Partizipationsansprüche sind nicht nur existent, sondern werden immer wieder durch Symbole, Rituale und Inszenierungen erfahrbar gemacht. Auch wenn z. B. der Topos "Adelsnest" ein literarisches Eigenleben führte, so griff der landbesitzende Adel immer wieder auf diese Untergangsmetapher zurück, um Anspruch auf seinen "traditionellen" Status zu erheben. Wie strukturierten Akteure den politischen Kommunikationsraum mittels Repräsentationen, wer wurde dabei einbezogen, wer ausgegrenzt?

Praktiken
Handeln und Aushandeln sind wie eingetretene Pfade, die von Akteuren in Anspruch genommen, aber auch variiert werden, wenn sie nicht mehr gangbar sind oder nicht mehr zum Ziel führen. Das Knüpfen von Beziehungen zu den "Fluren der Macht" oder das Bilden von Netzwerken vor Ort erscheint ebenso wie das Abfassen von Eingaben als Inklusionsbestrebungen. Wie agierten die unterschiedlichen Akteure, wie reagierten sie auf Exklusionsmaßnahmen und wann verweigerten sie gänzlich die Kommunikation?

Gewalt
Als Phänomen und Problem prägten die unterschiedlichen Gewaltformen die Kommunikationen nicht nur in vormodernen Gesellschaften. Neben der Unterscheidung zwischen illegitimer und legitimer Gewalt stellt sich hier die Frage, wie sich terroristisch-revolutionäre Attentate, bäuerliche Revolten, Pogrome oder Übergriffe der Exekutive auf die Aushandlungsspielräume von Akteuren auswirkten.

Interessierte Nachwuchswissenschaftler werden gebeten, Themenvorschläge bis zum 31. Mai 2006 bei Walter Sperling (walter.sperling@uni-bielefeld.de) und/oder Stephan Merl (stephan.merl@uni-bielefeld.de) einzureichen.

Kosten für Anreise und Unterbringung der Referenten und Kommentatoren können erstattet werden.

Kontakt

Walter Sperling

Universität Bielefeld, SFB 584

0521/1062501
0521/1062966
walter.sperling@uni-bielefeld.de


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