Geschlechterverhältnisse in Ostmitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg: Soziale Praxis und Konstruktionen von Geschlechterbildern

Geschlechterverhältnisse in Ostmitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg: Soziale Praxis und Konstruktionen von Geschlechterbildern

Veranstalter
Collegium Carolinum (München) gemeinsam mit der Fachkommission für Zeitgeschichte des Herder-Forschungsrates und der Professur für Geschichte Ostmitteleuropas an der Universität Erfurt
Veranstaltungsort
Ort
Bad Wiessee
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.11.2005 - 20.11.2005
Von
Claudia Kraft

In der auf Ostmitteleuropa bezogenen Geschlechtergeschichte wurde in den vergangenen Jahren intensiv die Beziehung zwischen nationalen und politischen Emanzipationsbewegungen und Geschlechterverhältnissen und -konstruktionen diskutiert. Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg scheint eine solche Relation zwischen dem gesellschaftlichen und politischen Erneuerungsanspruch der „Volksdemokratien“ und den Geschlechterverhältnissen und -rollen forschungspraktisch sinnvoll. Vor dem Hintergrund radikal veränderter politischer und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen wird nach der Bedeutung der Beziehungen zwischen den Geschlechtern zu fragen sein. Inwieweit wurde ihre Ausgestaltung durch den gesellschaftlichen und politischen Wandel tangiert, wo zeigte sie sich resistent gegen den Wandel, welche (symbolische) Bedeutung erlangte sie für verschiedene Formen politischer Auseinandersetzungen?
In den Nationalbewegungen sowie in den bürgerlichen Nationalstaaten des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgte die Zuordnung gesellschaftlicher Rollen nicht zuletzt durch die Dichotomie "öffentlich-privat", die der Konstruktion von angeblich konstanten Geschlechtscharakteren folgte. Die Aushandlung politischer wie ökonomischer Machtverhältnisse orientierte sich stark an dieser Strukturierungskategorie. Die Geschlechterverhältnisse sagten damit nicht nur viel über gesellschaftliche Machtverteilung aus, sondern auch über die Darstellungsformen derselben. Nimmt man Gender als eine Masterkategorie der gesellschaftlichen Strukturierung, so wird die Frage nach ihrer Bedeutung für reale gesellschaftliche Konstellationen sowie symbolische Konstruktionen in den „Volksdemokratien“ nach dem Zweiten Weltkrieg relevant. Parallel zur Frage der Verschränkung der Identitätskonzepte "Nation" und Geschlecht wird man die Konzepte "Klassenlose Gesellschaft" und Geschlecht untersuchen können. Dabei sollte immer mitbedacht werden, dass die sozialistischen Staaten nicht aufhörten, Nationalstaaten zu sein.
Die vor allem durch ideologische Prämissen und ökonomische Notwendigkeiten beförderte gesellschaftliche Emanzipation der Frauen im Sozialismus stand in deutlichem Kontrast dazu, dass die sozialistischen Staaten dennoch in der Traditionslinie der männlich dominierten Nationalstaaten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts standen. Dennoch eröffnete sie den Frauen neue gesellschaftliche Handlungsspielräume und hätte damit zu einem grundlegenden Wandel der Geschlechterverhältnissen sowie der Identitäten und Geschlechtervorstellungen beitragen können. Doch traditionelle Geschlechterrollen und -bilder blieben auch im Sozialismus nicht selten dominierend. Es wird zu fragen sein, inwieweit sich hier kulturelle Traditionen gegen die politische und ökonomische Neuordnung behaupten konnten. Zudem gilt es zu klären, ob der politische Neuordnungsanspruch der sozialistischen Regime tatsächlich eine Überwindung der traditionellen Geschlechterverhältnisse implizierte oder sie nur vor radikal geänderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen weiter festschrieb. Gleichzeitig steht zur Debatte, ob das in der Rückschau zumeist negativ bewertete Programm der Gleichberechtigung im Sozialismus nicht doch langfristig zu einer gesellschaftlichen und kulturellen Modernisierung beigetragen hat, von denen die Staaten heute profitieren können.
Die Tagung möchte sowohl die soziale Praxis als auch die symbolische Bedeutung der Geschlechterverhältnisse untersuchen. Dabei wird zunächst zu fragen sein, wie sich der Neuordnungsanspruch der Volksdemokratien auf die gesellschaftlichen Rollenverteilungen und Identitäten von Frauen und Männern auswirkte: wurden die Sphären öffentlich und privat tatsächlich neu definiert? Was bedeutete dies für die gesellschaftliche und politische Aktivität bzw. „Sichtbarkeit“ von Frauen. Bedingte die umfassende berufliche Aktivierung von Frauen etwa auch die Neubewertung von Hausarbeit bzw. tangierte sie traditionelle Rollen in den Familien? In welcher Weise erfolgte die Formulierung eines egalitären Gesellschaftsbildes durch das sozialistische Recht? Orientierte sich die dort entworfene „Gleichheit“ nicht doch noch immer an einem männlichen Muster? Wie waren die Geschlechterverhältnisse vor dem kulturellen Wandel zu sehen: wie wurden die/der „neue Frau“/„neue Mann“ dargestellt, welche Aspekte traditioneller Geschlechterbilder spielten weiter eine Rolle?
Neben diesen Fragen zur sozialen Praxis soll auch die symbolische Kraft von Geschlechterbildern beleuchtet werden. Ausgehend von der These, dass durch das grundlegende gesellschaftliche Ordnungspotential, das der Kategorie Gender innewohnt, durch den Geschlechtergegensatz Machtbeziehungen thematisiert und dargestellt werden, wird zu fragen sein, welche Rolle Geschlechterkonstruktionen in politischen Auseinandersetzungen der sozialistischen Staaten spielten. Wie erfolgte die Selbst- bzw. Fremdbeschreibung von Staatsmacht vs. Opposition; wie sichtbar waren Frauen als Frauen in den jeweiligen Lagern. Wie sieht die Wahrnehmung aus der Rückschau aus - gibt es zum Beispiel eine weiblich konnotierte Erinnerung an bestimmte Epochen oder Ereignisse der sozialistischen Zeit?

Programm

Programm

Donnerstag, den 17. November 2005

18.00 Uhr
Anreise der Teilnehmenden

Freitag, den 18. November 2005

9.00 Uhr
Martin Schulze Wessel (München): Begrüßung

Susan Zimmermann (Budapest):
Eröffnungsvortrag: Geschlechtergeschichte und Osteuropäische Geschichte - Forschungsperspektiven

Claudia Kraft (Erfurt):
Einführung in das Tagungsthema: Geschlecht als Kategorie zur Erforschung der Geschichte des Staatssozialismus

10.30 Uhr Kaffeepause

11.00 Uhr
Aufbau der neuen Ordnung und Geschlechterverhältnisse
Moderation: Jürgen Danyel (Potsdam)

Jan C. Behrend (Berlin): Diskursive Konstruktion der sowjetischen Frau in der polnischen und ostdeutschen Propaganda

Natali Stegmann (Tübingen): Gleichheitspostulat und innere Differenzierung: Geschlechtliche und andere Hierarchisierungsmuster in der tschechoslowakischen Politik bis 1948

13.00 Mittagspause

14.30 Uhr
Die Kategorie Geschlecht im Arbeitsleben
Moderation: Christoph Boyer (Salzburg)

Pappai, Anna-Sophie (Berlin): „Trümmerfrauen“ und „Trümmermänner“ Symbolische und reale Aufbauarbeit in Dresden und Warschau

Dana Musilová (Hradec Králové): Der Einfluss der bezahlten Arbeit auf die Bildung der Frauen-und Männeridentität in der Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg

16.00 Uhr Kaffeepause

16.30 Uhr
Aufstiegsmöglichkeiten und -blockaden
Moderation: Christiane Brenner (München)

Beata Nagy (Budapest): Women in Leading Positions in Hungary

Natalia Veselská (Bratislava): Two Women in Two Worlds in Slovakia

19.00 Abendessen

Samstag, den 19. November 2005

9.00 Uhr
Politische Ordnung
Moderation: Peter Haslinger (München)

Marína Zavacká (Bratislava): Women Related Topics in Proceedings of Regional Conferences of the Communist Party of Slovakia 1950-55

Pickhan, Gertrud (Berlin): Wanda Wasilewska: Bilder und Selbstbilder nach dem Krieg

10.30 Uhr Kaffeepause

11.00 Uhr
Öffentlichkeit und Privatheit
Moderation: Martin Zückert (München)

Kveta Jechová (Prag): Representation of Women and Women’s Organisations in Socialism

Malgorzata Mazurek (Warschau): Geschlechterordnung des Schlangestehens in der Volksrepublik Polen. Eine Sozialgeschichte der Mangelgesellschaft

13.00 Uhr Mittagspause

14.30 Uhr
Familie und Staat
Moderation: Dietlind Hüchtker (Leipzig)

Petra Trypesová (Prag): Normalisierungsära: Einflüsse des Dissidentenlebens auf die Familienverhältnisse

Malgorzata Fidelis (Stanford): The Changing Face of Pronatalism: Abortion in Postwar Poland 1945-1960

16.00 Kaffeepause

16.30 Uhr
Selbst- und Fremdbilder
Moderation: Anke Stephan (München)

Andrea šalingová (Nitra): Die Konstruktion von Mutter- und Vaterschaft in den 1970er Jahren auf der Grundlage zeitgenössischer Zeitschriften. Ein deutsch-slowakischer Vergleich

Dobrochna Kalwa (Krakau): „Missing the Best Time of my Life…“ Everyday Life in State Farms in the Perspective of Oral History

Andrea Petö (Budapest): Constructions of Home and Diasporism by Post 1989 Hungarian and Bulgarian Political Migrants

19.00 Abendessen

Sonntag, den 20. November 2005

9.30 Uhr
Abschlussdiskussion: Lebenswelten und Geschlechterbilder im Sozialismus
Moderation: Claudia Kraft (Erfurt)

Kommentare:
Hana Havelková (Prag)
Dietlind Hüchtker (Berlin)

Kontakt

Claudia Kraft

Universität Erfurt
Nordhäuser Str. 63
99089 Erfurt

0049-361-7374081
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claudia.kraft@uni-erfurt.de

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