kritische berichte 2/2021: „Engpässe der Überlieferung. Narrative, Dramaturgien und Mythologien der Verschonung, des Bewahrens und des Überlebens“

kritische berichte 2/2021: „Engpässe der Überlieferung. Narrative, Dramaturgien und Mythologien der Verschonung, des Bewahrens und des Überlebens“

Veranstalter
Julian Blunk, Markus Dauss
Veranstaltungsort
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.05.2020 - 15.05.2020
Deadline
15.05.2020
Von
Blunk, Julian

Das von Verfall oder Vernichtung bedrohte, aber materiell noch (teil-)präsente Relikt gehört zu den prekären Größen kultureller Überlieferungsprozesse. Denn Erosion beschädigt seine Integrität, Destruktion bedroht seine Identität. Zugleich aber unterliegen tradierte Überbleibsel – allen voran Fragmente wie Torsi, Spolien oder Ruinen – einer starken Auratisierung. Vielfach sind sie regelrecht überkonnotiert. Gleiches kann für intakte Kunstobjekte gelten, wenn sie als der Annihilierung oder Beschädigung entkommene Objekte oder als aktual in ihrem Bestehen bedrohte Werke erkennbar sind. Wenn zudem quantitative Rarität, aber auch qualitativer Wert ihnen im Horizont der Überlieferung eine Alleinstellung verleiht, kann ihre Existenz den Charakter des Unwahrscheinlichen annehmen.
Aber bereits der puren Präsenz eines aus fernen Zeiten stammenden Objektes kann etwas Mirakulöses anhaften. Anschaulich werden muss nur, dass es von Katastrophischem (wie Kataklysmen, Krieg oder Ikonoklasmen) verschont geblieben ist. Das reine Erhaltensein, so klein das Relikt selbst physisch sein mag, wird dann zur Botschaft: Denn angesichts einer sonst dominanten Zerstörung oder einer – am Ding selbst spurhaft sichtbaren – Versehrung kann das erstaunliche Überleben des Objektes den Eindruck befestigen, es nicht mit dem blinden Wirken der Kontingenz zu tun zu haben, sondern mit einem bewussten Akt der Vorsehung. Zugespitzt lassen sich dahinter – etwa nach dem Muster der Verschonung von biblischen Personen wie Noah, Isaak oder Lot und seiner Familie – die Intentionen oder Programme höherer Instanzen oder planvoll agierender Mächte vermuten, die sich für die Bewahrung eines paradigmatischen oder repräsentativen Zeugnisses zu engagieren und es durch ein ‚Nadelöhr‘ zu bugsieren scheinen.
Selbst wenn nicht dieser interpretatorische Extremfall vorliegt, können protegierte und errettete Relikte mit ihrer Aufladung zu Brücken- oder Scharnierfiguren von Tradierungsdiskuren erklärt werden. Dies schließt im Verbund mit ‚Errettung‘ oder ‚Verschonung‘ auch Dramaturgien der (mythischen) Wiedergeburt oder zumindest -anknüpfung, Innovation oder Modernisierung mit ein, ja sogar solche des ‚absoluten‘ Bruchs – der nie völlig referenzlos erfolgen kann. Dabei gilt es stets, ihrer Funktion als privilegierte Zeugen gerecht zu werden. Das ihnen inhärente Sinnversprechen ist adäquat zu entfalten und damit mit der von den Dingen kommunizierten Verantwortung umzugehen.
Fragmentierte oder von einer rückerobernden Natur bedrohte Relikte gelten so ab der Neuzeit als Chiffren eines potenziell enigmatischen historischen Sinnes, der aber eben doch rekonstruier-, lesbar, ja (re-)aktivierbar ist. Sie werden als zwar prekäre, aber evidente Bindeglieder zwischen einer präsenten Vergangenheit und einer bereits gegenwärtigen Zukunft eingesetzt. Als Träger einer Semantik der Zeit(en) avancieren sie zu entscheidenden Bau- und Prüfsteinen von allen geschichtlich argumentierenden Theorien der Kunst wie der philosophischen Ästhetik. Diese setzten gerade bewahrte Überbleibsel als ‚retroaktive‘ Belege eines kulturellen Fortschreitens ein. Hier wird die Figur des ‚Aktes der Vorsehung‘ in einer theoretischen Teleologie reformuliert. (Rares) Relikt, Ruine und Fragment fungieren gerade in dialektisch konzipierten Rekonstruktionen der Kunst- und Kulturentwicklung als ideale Medien. Ideal sind sie deshalb, weil sie als prekäre, dekontextualisierte oder ‚poröse‘ Gebilde absorptionsfähig sind für Neukonstruktionen von ‚rettendem‘ Sinn.
Generell autorisieren sich Bewahrer, Sachwalter, Vollstrecker, Vervollständiger oder Perfektionierer des in den Relikten inkorporierten Erbes, ja selbst Akteure von Gegenprogrammen, durch den Rekurs auf das Tradierte. Sie legitimieren so ihre eigenen personalen oder sozialen Transformationen. Vor allem aber können auch Machtverhältnisse (Asymmetrien und Abhängigkeiten) kommuniziert und verfestigt werden. Die multiplen Verwendungsweisen und Instrumentalisierungen etwa von Spolien veranschaulichen das: Mal können sie für die selektive, den Schützer nobilitierende Bewahrung kulturellen Erbes stehen, mal für die Überwindung oder Abwertung der in ihm verkörperten kulturellen Konstellationen oder historischen Ereignisse.
Insbesondere Bruchstücke dienen somit häufig als Medien zum Transfer holistischer Ansprüche. Sie werden von der Ebene des Werks, aber auch des Mimesisgebots und metaphysischen Schönheitsbegriffs auf die der diskursiven Institution Kunst, des ‚Körpers der Kunst‘, selbst verschoben. Hier können Figuren der Totalität auf die tradierten Relikte und Fragmente projiziert werden – analog zur grundlegenden Überkonnotation der kulturellen Survivor: Veritable Zwischen- oder Mittlerfiguren sind dabei etwa anthropomorphe Skulpturen, die in bestimmten Konstellationen als Handelnde erscheinen. Man denke an den Engel auf dem Turm des Dresdner Rathauses: Er ‚blickt‘ auf einem ikonisch gewordenen, gleichsam animistisch argumentierenden Foto über die katastrophischen Relikte der Trümmerlandschaft des Jahres 1945. Dabei fungiert er als Opfer, trauernder Zeuge, zugleich aber auch als Ankläger – und formuliert darin ein Rollenmodell. Relikte sind als ‚Überlebende‘ stets mehr als Erleidende, werden nicht nur tradiert, sondern tradieren auch aktiv.
Schon seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert werden ferner mitunter auch die zersetzenden Kräfte des temporalen Verfalls im Sinne einer buchstäblich negativen ‚Bildhauerei‘ selbst als formgebende Größen gedacht. Die Moderne radikalisiert diese Verschiebungen bis hin zur Funktion von Ruine und Fragment als katastrophischen, aber konstitutiven Allegorien einer soziokulturellen Gesamtkonstellation. Theoretisch reformuliert sie deren Ge-, ja Zerbrochenheit in Kategorien von auraloser (!) Montage, dialektischem Bild oder absenter Schrift; diese dienen zur negativistischen oder aporetischen Umschreibung moderner Kunstwerke.

Was wollen die kritischen berichte 2/2021?

Der Band will nicht, wie bisher meist erfolgt, nur nach der epistemischen Rolle von raren Relikten, Ruinen oder Fragmenten fragen, die diese in den Systemgebäuden der sich theoretisierenden Kunstgeschichte sowie der sich modernisierenden philosophischen Ästhetik spielen. Zwar können derartige Plots explizit Teil der Analysen sein – etwa, wenn diese dem Modell der ‚Metahistory‘ mit ihrer Analyse der diskursiven Tiefenstrukturen von Geschichtsphilosophien folgen. Der Zugriff des geplanten Bandes ist vielmehr zugleich breiter als auch spezifischer angelegt: Im Zentrum sollen die basalen Narrative stehen, die sich um die tradierten Objekte herum organisieren. Sichtbar wie analytisch lesbar zu machen sind deren Rhetoriken, Dramatisierungen, Mythisierungen, Heroisierungen und Auratisierungen. Die Herausgeber erbeten sich Beiträge insbesondere zu folgenden Fragen:

- Wo finden sich Narratheme wie die schon benannten: die (zunächst) unerklärliche Verschonung, das wundersame Überleben selbst, die Reaktivierung oder das ‚Aufgehen einer Saat‘?
- Wie lassen sich die anschließenden Dramaturgien wie diejenigen von Katharsis, Neugeburt, Konversion, Heiligung oder Initiation fassen, die eine neue soziale Rolle, eine religiöse Berufung zu Höherem oder Aufwertungen im soziopolitischen, religiösen oder kulturellen System bewirken?
- Welche mythischen und theoretischen Narrative, welche kulturellen Skripte schreiben sich in ihnen latent oder manifest fort?
- Wer erfindet, kommuniziert, verdichtet, literarisiert, visualisiert, dramatisiert, popularisiert und verstetigt in welchen Kontexten, mit welchen Absichten, mit welchen Mitteln und über welche Kanäle Momente der Vernichtung, vor allem aber der Verschonung?
- In welchen Kontexten und dank welcher Strategien entfaltet deren Motivik ihre gesellschaftliche Wirkung?
- Wie werden entsprechende Ikonographien in die Diskurse der Kunsthistoriographie eingepasst?
- Wie organisieren sich Prozesse der diskursiven Koppelung bzw. des Übergangs des Akteurstatus von Objekten auf Subjekte?
- Wie stellen (Re-)Medialisierungen der Relikte, die zwischen Übersetzung, Zitat oder Reproduktion changieren, die soziale Distribution dieser Konstellationen sicher?

Da im Mittelpunkt des Bandes eine übergreifende Problemstellung steht, sind Beiträge aus allen Epochen und zu allen künstlerischen Gattungen willkommen. Ferner sind im Sinne einer konsequenten Nachwuchsförderung explizit auch Magistrandinnen und Doktorandinnen in der Frühphase ihrer Arbeit aufgefordert, Vorschläge einzureichen.
Textvorschläge können in Form eines Exposés (max. 2000 Zeichen auf Deutsch oder Englisch) mitsamt einer Kurzbiografie bis zum 15. Mai 2020 bei (Julian.Blunk@fu-berlin.de oder dauss@kunst.uni-frankfurt.de) eingereicht werden. Die Rückmeldung über die Annahme der Beiträge erfolgt spätestens bis zum 5. Juni 2020. Abgabefrist für die vollständigen Beiträge (max. 25.000 Zeichen) ist der 10. Januar 2021.

Programm

Kontakt

Julian.Blunk@fu-berlin.de
dauss@kunst.uni-frankfurt.de

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