Der Gedächtnisbegriff steht seit Mitte der 1970er Jahre im Mittelpunkt der geschichtswissenschaftlichen und soziologischen Forschung. Wenn es der Soziologe Maurice Halbwachs war, der in der Zwischenkriegszeit den Erweis erbracht hat, dass es so etwas wie ein kollektives Gedächtnis gibt, das über die Summe individueller Erinnerungen hinausgeht, so sind es in Frankreich die Historiker, allen voran Pierre Nora gewesen, die dafür gesorgt haben, dass sich das Gedächtnis als Forschungsgegenstand in den Sozialwissenschaften durchgesetzt hat. Darauf ausgerichtet, nationale Mythen zu zerstören, wurden jedoch dabei die eigentlichen Fragen einer Soziologie des Gedächtnisses, die insbesondere die Konstitution kollektiver Erinnerungen betreffen, vernachlässigt.
Als Begriff für die Rekonstruktion der Vergangenheit unter den Bedingungen der Gegenwart scheint der Erinnerungs- bzw. Gedächtnisbegriff einen besonders fruchtbaren Zugang zu bieten, um die postsozialistischen Gesellschaften in Osteuropa zu untersuchen. Seit dem Zusammenbruch des Sozialismus lassen sich im Rahmen des Transitionsprozesses mehr oder weniger deutlich ausgeprägte Formen nostalgischer Erinnerungen beobachten, die für Historiker ebenso sehr wie für Soziologen, Politikwissenschaftler oder Ethnologen von Interesse sind. Sieht man allerdings einmal von den Studien ab, die sich mit traumatischen Erinnerungen beispielsweise von Flüchtlingen oder mit der Auseinandersetzung mit einer Vergangenheit, die man als Last empfindet, beschäftigen, hat es den Anschein, als seien Phänomene von Nostalgie – wahrscheinlich aufgrund ihrer positiven affektiven Dimension – innerhalb der Forschung über diese Länder auf ziemlich geringes Interesse gestoßen. Häufig begnügt man sich mit der bloßen Feststellung, dass es solche Phänomene gibt.
Im postsozialistischen Kontext sollte der Nostalgiebegriff aufgrund seiner negativen Konnotierung vorsichtig verwendet werden, da er sich auf undemokratische politische Systeme bezieht. Doch was versteht man genau unter Nostalgie: den Ausdruck eines Schmerzes, eines Verlustes, eines Bedauerns? Eine Idealisierung der Vergangenheit und eine Flucht vor der Zukunft?
Ohne den diktatorischen Charakter der ehemals sozialistisch regierten Länder vor 1989 zu leugnen und ein allzu positives Bild vom Sozialismus propagieren zu wollen, schlagen wir vor, uns im Rahmen dieser Tagung den Erinnerungen an die Zeit vor 1989 zuzuwenden, der man nachtrauert, oder anders formuliert: über eine Vergangenheit nachzudenken, an die man sich gerne erinnert und die oft als das genaue Gegenteil zur gegenwärtigen Gesellschaft empfunden wird. Im Vordergrund steht die affektive Dimension der Erinnerung, bei der man sich auf die positiven Aspekte der vergangenen Gesellschaft besinnt. Dieser positive Blick auf die Vergangenheit erfordert aus soziologischer Perspektive, Verständnis für die gegenwärtige Gesellschaft aufzubringen, d.h. einen „Sinn für die soziale Kontinuität“ zu entwickeln.
Doch steht Nostalgie nicht auch für die Suche nach Identität, nach biografischer Kohärenz? In der Tat ist Nostalgie mit einer Diskontinuität der Geschichte und daher mit existenziellen lebensgeschichtlichen Brüchen verbunden. Sie entsteht vor dem Hintergrund einer offiziellen Bezugnahme zur Vergangenheit, bei der Diskontinuitäten, die Zurückweisung oder sogar das Vergessen des Vergangenen in den Vordergrund rückt.
Schließlich darf ein weiterer Aspekt dieser Erinnerung nicht vergessen werden: ihre Kommerzialisierung. Denn nostalgische Erinnerungen werden zu ‚Konsumgütern’, d.h. sie werden genutzt, um bestimmte Güter zu verkaufen, die umgekehrt mitunter erst geschaffen werden, um eben diese Erinnerungen zu ‚bedienen’. Ist darin eine Form der Legitimierung und Normalisierung der Vergangenheit zu sehen, die durch ein ‚kapitalistisches Recycling’ und letztendlich durch eine Art Entpolitisierung erreicht wird? Oder wird diese absichtlich entpolitisierte Erinnerung nicht vielmehr auf ganz andere Art wieder repolitisiert, indem sie in der Öffentlichkeit präsent ist und dadurch einen Platz in einem nationalen Gedächtnis beansprucht?
Ziel dieser interdisziplinären und internationalen Tagung ist es, eine komparative Reflexion über nostalgische kollektive Erinnerungen im Osteuropa seit 1990 zu entwickeln. Dabei geht es darum, über nationale Grenzen hinauszugehen und die Frage nach der Existenz eines kollektiven postkommunistischen Gedächtnisses mit Blick auf einen geopolitischen Raum zu stellen, der sich von Deutschland nach Russland, von Estland nach Albanien erstreckt. Eine solche vergleichende Perspektive erlaubt es, das Phänomen der deutschen „Ostalgie“ in einen breiteren Zusammenhang einzuordnen.