Thematischer Ausgangspunkt der Winterschool ist die Beobachtung, dass in frühneuzeitlichen Gesellschaften Rechtsnormen – von der Bestrafung kriminellen Verhaltens über Regelungen zur Erbfolge bis hin zum Steuerrecht – weder einheitlich noch eindeutig waren. Hinzu kam der Umstand, dass neuere Gesetze die älteren ergänzten, statt sie zu ersetzen. Ähnliches gilt für die Rechtspraxis, die sich ebenso durch eine oft verwirrende Vielfalt der Formen auszeichnete. Im Fall des Alten Reichs schuf schließlich die Überlagerung und Verschachtelung verschiedenere Herrschaftsräume und -ebenen weitere Anlässe für die Heterogenität von Recht und Justiz. Zwar konnte das Neben- und Miteinander der verschiedenen Rechtsnormen im Rahmen von gerichtlichen Verfahren situativ verarbeitet und damit in gewisser Weise punktuell geordnet werden, um in einer Sache zu entscheiden. Auch trugen die auf Reichsebene (Reichstag und Reichsgerichte) fixierten Verfahren wie der Inquisitionsprozess, die Reichskammergerichtsordnungen oder die Aktenversendung dazu bei, übergreifend gültige Grundsätze des Prozessrechts zu etablieren. Auf der Ebene des materiellen Rechts spielten die Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. oder das Corpus iuris civilis eine ähnliche Rolle – sie standen allerdings immer in Konkurrenz zu älteren oder neu geschaffenen partikularrechtlichen Bestimmungen.
Entschieden wurde allerdings keinesfalls alles, im Gegenteil. Auch dies ein typisches Charakteristikum von Recht im Alten Reich: Viele Prozesse, nicht nur vor den Reichsgerichten, blieben ohne Urteil und wurden in der Schwebe gehalten, weil dies letztlich die für die Prozessparteien günstigste Lösung war. Zahlreiche gerichtliche Verfahren wurden zudem von Ausnahmeregelungen begleitet: In den Archiven finden sich noch heute tausende von Bitten um Begnadigungen oder aber Privilegien, mit denen man für seinen persönlichen Fall eben doch wieder um eine Ausnahme von der Regel bat – und nicht selten drangen die Bittsteller mit ihrem Anliegen durch. Erweitert man den Betrachtungsradius noch ein wenig mehr, wird zu guter Letzt schließlich auch noch die große Bandbreite von häufig recht erfolgreichen Versuchen frühneuzeitlicher Akteure erkennbar, verschiedene Instanzen gegeneinander auszuspielen oder Gerichte auch gänzlich zu umgehen und die Sache außergerichtlich zu regeln.
Vielfalt war offenbar – so die knappe Quintessenz all dieser Beobachtungen – zentrales Kennzeichen von Recht und Justiz in der Frühen Neuzeit! Genau hier setzt die Winterschool an. Anliegen ist es, an ausgewählten Beispielen diese Vielfalt von Recht und Rechtspraxis und den Umgang der Zeitgenossen damit näher kennenzulernen. Interessant ist dies nicht nur mit Blick auf die Frage, was Recht unter diesen Umständen überhaupt bedeutete, einen allgemeinverbindlichen Normenhaushalt und Ordnungsrahmen offensichtlich nicht. Welche Funktionen erfüllte Recht also für die frühneuzeitliche Gesellschaft? Wie wurde es wahrgenommen und begründet? Wie standen die Zeitgenossen selbst zur Vielfalt der Rechtsnormen und Rechtspraktiken? Wurde diese hingenommen oder als ein Defizit verstanden und kritisiert, oder, im Gegenteil, als eine Ressource und Handlungschance aufgefasst, die man im Sinne eigener Interessen nutzen konnte? Ist die Vorstellung einer Einheit des Rechts also ein moderner Traum, der in früheren Zeiten noch nicht geträumt wurde? Interessant ist dies nicht nur für eine Geschichte des Rechts, sondern gerade auch, weil sich am Beispiel der Vielfalt von Recht und Rechtspraxis Grundlegendes über die Ordnungsvorstellungen und Herrschaftsformen im Alten Reich lernen lässt.
Im Rahmen der Winterschool werden einerseits eine Reihe von Fallbeispielen betrachtet, andererseits aber auch jene Ansätze genauer vorgestellt, mit denen in der Forschung aktuell versucht wird, die frühmoderne Vielfalt im Recht konzeptionell zu erfassen und zu beschreiben. Die verschiedenen Themen werden jeweils unter der Leitung einschlägig forschender Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Vorträgen und Diskussionen gemeinsam erarbeitet. Das Programm besteht aus Fachvorträgen und gemeinsamen Arbeitseinheiten. Der Schwerpunkt liegt auf der gemeinsamen Diskussion, zu deren Vorbereitung ein Reader erstellt wird.